Nicoletta Esinencu - Mda. Love Pills
12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012 – Europe Now

Meine Mutter ist 86 Jahre alt. Sie sagt, sie lebt im Jahr1975 in der UdSSR. Sie sagt auch, dass ihre Eltern nicht
gestorben sind. Und ich glaube, was meine Mutter sagt,
hat sogar eine gewisse Logik. 1975 waren meine
Großeltern nämlich noch am Leben.
Meine Mutter hatte einen Gehirnschlag.
Meine Mutter lebt im Jahr 1976 in der UdSSR und das
Ganze findet sie eigentlich ziemlich gut.
»Mama, welches Jahr haben wir? Willst du, dass ich es
dir sage?«
»Nicoleta, ganz ehrlich. Das interessiert mich nicht! Ich
will es gar nicht wissen. Ich finde es so sehr gut«,
und meine Mutter klaut immer noch Zigaretten von
meinem Vater.
Damit meine Mutter auch nur die geringste
Überlebenschance hat, braucht der Professor für
Neurochirurgie, der sie operiert:
ein Skalpell, für den Anfang,
er muss es sich selbst aus Deutschland oder Japan
besorgen, oder woher er eben will.
Das letzte Skalpell, das ihm das Gesundheitsministerium
gekauft hat, stammt ungefähr aus dem Jahr, in dem
meine Mutter jetzt lebt.
Damit meine Mutter auch nur die geringste
Überlebenschance hat, braucht der Professor für
Neurochirurgie, der sie operiert,
Titanclips – zwei Stück.
Preis: 400 Euro das Stück
Herstellungsland: Deutschland
»Zwei Clips à 400 Euro«, sagt der Arzt zu mir, »ich hole
sie selber aus Deutschland, damit ich operieren kann.«
Damit du sagen kannst, du bist Arzt, du bist Chirurg und
kannst auch wirklich operieren, bleibt dir nichts anderes
übrig, als dir selbst alles zu kaufen, was du brauchst.
Und außerdem versuchst du, das Ganze mit einem
Gehalt von 300 Euro zu bewerkstelligen. Du versuchst ja
sogar, mit einer Rente von 50 Euro am Leben zu
bleiben – ungefähr so viel Rente bekommt meine Mutter.
Meine Mutter war zehn Tage auf der Intensivstation.
Zehn Tage lang habe ich jeden Morgen und Abend
dieselben Sätze gehört.
»Bringen Sie flüssige Seife mit, Apfelsaft, Kefir, trockene
Tücher, feuchte Tücher, stilles Wasser, Windeln für
Erwachsene … apropos, Windeln können Sie hier
kaufen, hier auf der Station. Gestern ist jemand
gestorben und die Verwandten haben angefragt, ob wir
sie nicht verkaufen können.«
»Wie viel?«, frage ich, obwohl ich schon weiß, dass ich
wieder meine Windeln kaufe, die Windeln, die ich meiner
Mutter auch gestern mitgebracht habe.
»Gib ihnen ein bisschen Geld, damit immer jemand bei
ihr Wache hält. Weißt du, am häufigsten ersticken sie an
ihrer eigenen Spucke, weil niemand da ist«, sagt eine
befreundete Ärztin.
»Meine Mutter hat eine Krankenversicherung …«
»Ja und?«, die Krankenschwester lacht. »Ich habe auch
eine Krankenversicherung. Glaubst du, ich zahle nicht,
wenn ich zum Arzt gehe? Mein Tipp: Am besten sagst du
gar nicht erst, dass du versichert bist, wenn die sehen,
dass du eine Versicherung hast, dann stehst du erst mal
richtig lange an.«
»Lies mir noch mal vor, was auf der Krankenkarteikarte
unter Geburtsort steht!«, sagt sie weiter lachend.
Krankenkarteikarte
Einweisungsdatum: August 2011
Geburtsort: MDA
Geburtsort: Hmtjaaaah,
denke ich,
das klingt irgendwie unsicher und zwielichtig,
als stünde da
Geburtsort: Brrrr Geburtsort: Hmm
Geburtsort: Oops Geburtsort: Yeah
Geburtsort: Ouch Geburtsort: Phew
Geburtsort: Ey Geburtsort: Shh
Geburtsort: Mmmtjaaa
In Wirklichkeit hat MDA ebenfalls einen Gehirnschlag erlitten.
Ich glaube, dass MDA sogar mehrmals einen hatte.
So lässt sich das jedenfalls aus den Symptomen schließen,
die es zeigt, und aus seinem Verhalten.
Am Anfang waren da
schlimme Kopfschmerzen,
sie kamen zusammen mit der Unabhängigkeit
und dem Verlust von Geld auf dem Knijka-Sparbuch und
dem Zusammenbruch der UdSSR,
mit der FREI-HEIT!!! in lateinischer Schreibweise
und Чемодан! вокзал! Россия! in kyrillische
Cu говори на человеческом языке! , und nur noch
tiefgekühlte Ananas in allen Geschäften,
dann
plötzlich kamen Sprach- und Verständnisschwierigkeiten.
Sie tauchten in allen Sprachen gleichermaßen auf,
sowohl im Rumänischen als auch im Moldauischen und
Gagausischen,
und die Verständnisschwierigkeiten führten zu einem
Konflikt in Gagausien
und zum Krieg in Transnistrien.
Tod den Kasachen!
Mолдаване быдло!
Die haben uns schon wieder das Gas abgedreht.
Dann folgten Sehprobleme und Schwindelanfälle.
1 Leu = 1000 Coupons.
Wiedererlangung der rumänischen Staatsbürgerschaft
und Verkauf von Vaterlandsrückführungen,
5000 Leute stehen Schlange bei der Eröffnung des
ersten Supermarktes
und Schwarzarbeit in Italien [zu Fuß, mit rumänischem
Pass, mit gefälschtem Pass, mit Sportler- oder
Künstlervisum für Trainingslager oder Tourneen, mit
Touristenvisum – wenn man Glück hat – oder mit einem
anderen Namen im Pass – wenn man kein Glück hat].
Danach kam der Verlust des Gleichgewichts.
Morgens mit den Russen, abends mit den Rumänen,
in between sind wir Moldauer,
neuerdings gehen wir auch in die Kirche.
Morgens in die rumänische Kirche, abends in die
russische.
Manchmal wollen wir in die Europäische Union,
manchmal in die Euroasiatische Union. Aber ginge es
nicht auch in beide? Oder sogar in alle drei? Plus NATO!
Vielleicht verstehen wir uns ja?
Und jetzt
Verwirrung und Bewusstseinsveränderung.
Man geht wählen, um die Verbrechen des Kommunismus
zu verurteilen und die kommunistischen Symbole zu
verbieten, weil die Kommunisten mit 44 Prozent in der
Opposition sitzen,
für das Gesetz der Lustration wird nicht gestimmt,
denn unser Land ist zu klein
und wir wären dann unsere ganze politische Elite los und
die Schriftsteller auch,
das Land braucht doch Helden!
Die Slogans auf den Häuserwänden in der Vorstadt
wechseln jede Nacht.
Moldova ist Rumänien! Rumänien durchgestrichen,
ussland hingeschrieben. Russland durchgestrichen.
Moldova durchgestrichen.
Meine Mutter lebt im Jahr 1977 in der UdSSR.
Sie klaut Zigaretten von meinem Vater und sagt zu mir,
es wäre wohl an der Zeit, dass ich mich mal wieder
kämme.
Meine Mutter hat noch mal von vorne angefangen. Sie
hat noch mal gelernt, wie man einen Löffel hält, wie man
isst, wie man geht, wie man liest, wie man schreibt, wie
man redet und noch viele andere Dinge, wie man …
Wie man behält, wo man die Zigarette hingelegt hat, die
man meinem Vater geklaut hat.
MDA hat alles vergessen. MDA hat eine gestörte
Wahrnehmung. Aufgrund von Verhaltensstörung und
Denkstörungen hat es alles vergessen.
MDA erinnert sich an nichts und versteht nicht mehr, was
die Russen bei ihm im Land zu suchen haben.
MDA erinnert sich nicht an die Existenz der UdSSR.
MDA erinnert sich nicht daran, wie und wohin die Juden
aus den Dörfern verschwunden sind.
Oder aus Chișinău.
MDA erinnert sich nicht einmal an den Krieg in
Transnistrien.
MDA hat alles aus seinem Gedächtnis gelöscht. Alles,
was ihm nicht gefällt.
Sogar noch mehr.
Im Gegensatz zu meiner Mutter, die behauptet, sie lebt in
der Vergangenheit, ist MDA das Land, das in der Zukunft
lebt.
So steht es zumindest auf den Milchflaschen und auf den
Butterpäckchen, die in MDA hergestellt wurden.
Herstellungsdatum: Oktober 2013.
Meine Mutter lebt im Jahr 1978 in der UdSSR.
Sie klaut Zigaretten von meinem Vater, der immer
vergisst, wo er sie hingelegt hat.
»Mama, was für ein Jahr haben wir grade?«
»1978.«
»Und in welchem Jahr bin ich geboren?«
»Auch 1978«, sagt meine Mutter lachend, »ihr habt
meinen Kopf ganz verdreht.«
Meine Mutter weiß, dass Breschnew Generalsekretär ist,
und trotzdem weiß sie gleichzeitig auch, wer gerade
Präsident der Republik Moldau ist.
Der Präsident,
der Parlamentspräsident,
der Premierminister von MDA
kann,
wer auch immer er ist,
von welcher Partei auch immer,
einfach alles:
mit dem Autoscooter fahren,
Klimmzüge am Reck,
Lilia aus dem Kinderheim zu sich ins Büro einladen
und ihr einen Fernseher schenken,
vor allem wenn gerade ein Journalist in der Nähe ist,
er kann vor den Wahlen mit einem Geldumschlag und
einer Visitenkarte zu Schauspielern, Schriftstellern und
Müttern mit vielen Kindern gehen,
er kann mit Veteranen Fußball spielen,
weiße Blumen kaufen,
kann vor Julio Iglesias niederknien,
kann auf dem Berg Athos beten,
kann Autos verschenken,
kann Medaillen verleihen,
die nie jemand ablehnt,
»Ich habe diesen Orden wirklich verdient! Mein ganzes
Leben habe ich für dieses Land geschuftet. Warum
sollte ich ihn ablehnen? Vielleicht andere, die ihn nicht
verdient haben.«
– dieses Programm
des Präsidenten,
des Parlamentspräsidenten,
des Premierministers,
wer auch immer er ist,
von welcher Partei auch immer,
heißt
Europäische Integration
und für die Europäische Integration werden die Gesetze
gleich in ganzen Paketen gewählt.
Es unterliegt der Wahl ... Gewählt!
Es tritt in Kraft, sobald es im Gesetzesblatt
veröffentlicht ist.
Bitte nicht zur Kenntnis nehmen: Es wird respektiert,
sobald es im Gesetzesblatt veröffentlicht ist.
In MDA kann man einen Menschen umbringen,
man kann zu einer Haftstrafe von siebzehn Jahren
verurteilt werden,
der Gerichtshof kann von siebzehn auf fünf Jahre
heruntergehen, weil man Geschäftsmann ist und die
Kalaschnikow, mit der man fünf Mal geschossen hat,
LEGAL dabeihatte – neben den anderen hundertzwanzig
Feuerwaffen.
Und solange man auf die Begnadigung durch den
Präsidenten wartet, knipst man ein paar Fotos im Knast:
ein Bild, wie man Fleischspieße grillt; eins, wie man
Whiskey trinkt; eins, wie man Zigarre raucht ...
und, warum auch nicht,
eins, auf dem man die Jacke des Justizobersten trägt,
die Jacke hat man vom Oberst des Gefängnisses
ausgeliehen.
KommunistenIndenMüll@ hat das Bild kommentiert: Auf
der ganzen Welt herrscht Krise, und der säuft Whiskey
und raucht Zigarre.
NichiforAusGrozești@ hat das Bild kommentiert:
меня кризис не касается, лично мне он даже нравится …
Meine Mutter lebt im Jahr 1979 in der UdSSR.
Sie klaut immer noch Zigaretten von meinem Vater und
versteckt sie in allen Jackentaschen.
»Ich versteh’ nicht ganz ... tu’ ich jetzt Jacken in die
Wäsche oder Zigaretten?«, fragt mein Vater.
Meine Mutter erinnert sich an: Религия это опиум для
народа!
Wir sind auch Christen und haben Werte und Traditionen.
Glaubt ihr, das ist uns egal? Wenn wir in die Europäische
Union wollen, müssen wir auch mal was wählen, was uns
nicht gefällt. Die sind eben nicht Menschen wie wir, aber
wir kommen nicht um das Syntagma der sexuellen
Orientierung herum, wenn wir ein freizügiges
Visumsrecht wollen.
Wenn ihr in unserem orthodoxen Land die Arschficker
wählt und dass sie heiraten, dann werden wir nicht mehr
für euch beten und für eure Familien auch nicht.
Fürchtet den Herrn!
pussyriot@ schrieb: срань, срань, срань Господня!
Wenn ihr den Islam in unserem Land legalisiert, dann
werden wir nie mehr für die Regierung dieses Landes
beten.
OrthodoxerChrist@ schrieb: Habt ihr gesehen, wie Gott
die Japaner gestraft hat, weil die bei sich eine Gay Pride
veranstaltet haben? Wollt ihr, dass die Natur sich auch
gegen euch wendet?
Wenn ihr den Religionsunterricht aus dem Lehrplan
streicht und Sexualkunde einführt, dann sollt ihr und eure
Kinder verflucht sein!
Und gleichzeitig:
Ein sechzehnjähriges Mädchen entschuldigt sich im
Unterricht, geht nach Hause und bringt ein Kind zur Welt.
Sie hat erst bemerkt, dass sie schwanger war, als sie das
Kind bekommen hat.
Der Vater des Kindes ist ihr sechsundzwanzigjähriger
Onkel, der seit ihrem zwölften Lebensjahr eine sexuelle
Beziehung mit ihr führt.
MDA ist groß geworden. Es hat Abitur über Torrents
gemacht. Es hat einen Doktor in Copy-Paste.
MDA hat eine Abschlussarbeit geschrieben.
Anzeige: Wir schreiben auf Bestellung
Abschlussarbeiten,
Masterarbeiten, Semesterarbeiten. Die Arbeit wird nach
allen wissenschaftlichen Kriterien fertiggestellt und einer
an den Universitäten der Republik Moldau üblichen
Redaktion unterzogen. Die Arbeiten werden von
Lehrenden aus Rumänien und der Republik Moldau
verfasst. Höchste Vertraulichkeit! Kontakt [Tel.]:
079518874
MDA hat einen rumänischen Pass.
Anzeige: Verkaufe zwei gültige rumänische Pässe ohne
Vermerke. Preis: 400 Euro. Kontakt [Tel.]:
0040749632981
MDA hat Nieren.
Anzeige: Verkaufe eine Niere nach Ihren Wünschen. Ich
bin 22 Jahre alt. Ich bin gesund. Ich verkaufe eine Niere.
Ich habe die Blutgruppe A positiv. Kosten: 15.000 $, aber
wir können noch verhandeln. Kontakt [Tel.]: 068165507
Meine Mutter lebt im Jahr 1980 in der UdSSR.
Sie klaut meinem Vater Zigaretten, aber sie vergisst,
auch das Feuerzeug zu klauen.
»Mal sehen, was sie in den Nachrichten bringen«, sagt
sie, um ihn abzulenken.
Zehnjähriges Kind erhängt aufgefunden.
Vierzehnjährige hat sich erhängt.
Ein Dreizahnjähriger wurde erhängt vorgefunden.
Seine Eltern sind zum Arbeiten nach Russland
gegangen.
Die Eltern sind zum Arbeiten nach Italien gegangen.
Er ist bei den Großeltern aufgewachsen, da die Eltern
zum Arbeiten im Ausland sind.
Unsere Mutter hat auf die Kinder aufgepasst, sagen die
Nachbarn.
Sie hatten immer etwas zum Anziehen und zu essen.
Die Verwandten sagen, dem Jungen habe es an nichts
gefehlt, da seine Eltern ihm regelmäßig Geld schickten.
Die Eltern schicken alles regelmäßig.
Hunderttausende von Minibussen, beladen für ihre
Kinder. Regelmäßig.
Millionen von Päckchen und Paketen. Regelmäßig.
So kommunizieren wir mit unseren Kindern. Regelmäßig.
Über Päckchen. Regelmäßig. Voll mit allem Möglichen.
Mit Süßigkeiten und Spielsachen. Voller Pesto und Pasta.
Mit Panettone und Geld.
Geld für die Prüfungen und das Abitur, für die Diplome
und Abschlussarbeiten.
Regelmäßig. Und Briefe auch regelmäßig.
Дражеле меле, Ноуэ таре ни-й дор де вой. Деграбэ о
сэ веним акасэ. Яка май стрынжем олякэ де бань ши
не ынтоарчем. Ла дынший ый кризис. Да пе ной ну не
о афектат. Ной трэим бине. кяр дакэ ши ной авем
паспорт ромынеск пе ной аичь ну не принеск ка пе
ромынь. адикэ ну не зиче нимень кэ сунтем цигань.
кэ ной сунтем май бэлэйорь. Ши ну арэтэм кэ авем
паспорт ромынеск. арэтэм нума пе чел молдовенеск.
Ши де аста не респектэ. кэ ной сунтем май пресус.
кяр ку кытева капурь май сус декыт италиений. Ной
кяр ши лимба лор о штим. Таре самэнэ ку а ноастрэ.
Ла ной ый бунэ зиуа ла дынший се зиче бон жорно. Да
яка руший ничь пынэ азь лимба ноастрэ но ынвацат.
Тата востру о зыс кэ яка о сэ се ынтоаркэ ши се фаче
примар. Ши о сэ конструяскэ чя май маре касэ де ла
ной дин сат. Таре ний дор де сат. Таре ний дор де
касэ. Де Патрия ноастрэ. Де Патря мамэ кум с-ар
зиче. Патрия аста ый ка ун наркотик. Тот тимпу ай
невое ай невое. Ну те поць дезбэйра. вой сэ фиць
куминць. Наркотише сэ ну луаць ши сэ аскултаць де
буника. аичь ынкей мика ме скрисоаре. мама ши тата
востру. Ши сэ цинець минте Патрия ну поате фи
луатэ пе тэлпиле пантофилор. Нэстика спер кэ ну о
крескут аша репеде кишиору ши о сэць винэ
пантофий маримя 34.
MDA ist wirklich eine Droge.
Eine Droge mit psychoaktiver Wirkung, Love Pills, ein
Derivat des Amphetamins MDA löst im Subjekt einen
Zustand besonderer Offenheit für die Umwelt und der
Selbsterkenntnis aus. Er manifestiert sich in einem
besonderen Interesse für zwischenmenschliche
Beziehungen.
Es existieren Gegenanzeigen bei MDA-Konsum:
Muskelverspannungen [besonders im Halsbereich],
nächtliches Zähneknirschen, unnormales und unstetes
Verhalten, Delirium, temporäre Amnesie,
neuropsychische Verwirrung. Es wurden auch Todesfälle
gemeldet.
Regelmäßige Einnahme von MDA ist
charakteristischerweise begleitet von:
1. psychischer Abhängigkeit – »craving«, dem intensiven
Wunsch, die Wirkungen der psychoaktiven Substanz
noch einmal zu erleben,
2. Toleranz – das heißt der Notwendigkeit bedeutend
höherer Dosen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen,
3. körperlicher Abhängigkeit – der Organismus arbeitet
nicht mehr normal ohne die regelmäßige Einnahme der
Substanz,
4. Entzugserscheinungen – treten auf bei der
Herabsetzung der Drogendosis,
5. Halluzinationen.
Die Behandlung fordert den Entzug der Droge,
im Bedarfsfall die Unterstützung der Atmungsorgane,
die Vergabe von Substituten,
beispielsweise eines anderen Landes.
Meine Mutter lebt im Jahr 1981 in der UdSSR.
»Moldova ist Rumänien«, sie liest die Schrift auf unserer
Hauswand laut vor.
»Mmmtjaaa«, sagt sie lächelnd, »Moldova ist Rumänien.
Rumänien ist Ungarn,
Ungarn ist Österreich,
Österreich ist Deutschland,
Deutschland ist Polen,
Polen ist die Ukraine,
die Ukraine ist Moldova.«
»Und wie heißen die alle zusammen?«
»Das kannst du nennen, wie du willst. Manche sagen
dazu Sowjetunion! Andere sagen Europäische Union!«,
sagt sie und holt eine Zigarette aus der Jackentasche.
»Willst du Feuer?«
»Hab’ ich selber.«
Meine Mutter klaut Zigaretten von meinem Vater
und erinnert sich sehr gut daran, wo sie sie versteckt.
(Übersetzt aus dem Moldawischen von Eva Ruth Wemme)
© Text: Nicoletta Esinencu, ilb 2012 / Foto: theatrecontemporain.net
Nicoletta Esinencu
*1978 in Chişinău, Republik Moldova / Moldau, studierte Theaterwissenschaft und Bühnenbild an der
Kunsthochschule in Chişinău und nahm dort zu dieser Zeit u. a. an Workshops von Biljana Srbljanovic und Matéï Visniec teil. 2001 schrieb sie gemeinsam mit Mihai Fusu und Dumitru Gudu das Theaterstück A saptea kafana / Das siebte Kaffeehaus, das in Moldau, Rumänien und auf der Bonner Biennale aufgeführt wurde. Seit 2002 arbeitete sie als Dramaturgin am Eugène-Ionesco-Theater in Chişinău. Weitere Projekte sind: ?The seventh coffee-house (Co-Autorin des Theaterstücks), u. a. Aufführungen zur Bonner Biennale, Festival Balkanisation Générale, Paris, 2002 und Helsingborg, 2004 und Publikation bei Editions Espace d'un Instant, Paris, 2004. 2003/2005 erhielt sie je ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, wo sie die Stück Fuck You, Eu.ro.Pa! (2005 in deutscher Übersetzung bei Solitude erschienen, 2009 Stuttgarter Theaterpreis) und zuckerfrei (DE Dresden, Mai 2008) verfasste. Fuck You, Eu.ro.Pa! löste heftige politische Debatten in Rumänien und der Republik Moldau aus und wurde u. a. in Chişinău, Galati, Bukarest, Moskau und Nancy gespielt. Esinencu erhielt dafür den rumänischen Theaterpreis Dramacum. Sie schrieb einige weitere Theaterstücke, die in Rumänien, der Republik Moldau, Schweden, Deutschland, Russland, Japan, Frankreich und Österreich aufgeführt wurden, darunter: Dromomania (UA Düsseldorf, 2006), Tzap-Tzarap (UA Graz, 2006), A(II) Rh+ (2007 erschienen), .md* und Grüße aus Transnistrien (zusammen mit der deutschen Autorin Tanja Dückers). Die beiden letztgenannten Stücke waren zum ersten Mal im Juni 2008 im Rahmen des Projekts Moldova Camping am Berliner HAU zu sehen. Nicoleta Esinencu lebt und arbeitet in Chişinău.
Über die Autorin und Theatermacherin
Nicoletta Esinencu wurde 2005 schlagartig in der Republik Moldau und in Rumänien bekannt – mit ihrem Theaterstück FUCK YOU, Eu.ro.Pa! Die Veröffentlichung des Stückes im Reader des Rumänischen Pavillons der 51. Biennale von Venedig (2005) verursachte eine politische Kontroverse in Moldau und Rumänien; das Stück war Gegenstand einer langanhaltenden Diskussion in der Öffentlichkeit über die Freiheit der Kunst und lieferte aufgrund seiner Europa-kritischen Haltung Diskussionsstoff für drei parlamentarische Anfragen. In der Republik Moldau wurde das Stück gar abgesetzt, konnte aber unter einem neuen Titel wieder gespielt werden.
Die Attacken gegen das mit dem rumänischen Theaterpreis Dramacum 2 ausgezeichnete und mittlerweile weltweit aufgeführte Bühnenstück richteten sich zwar vordergründig gegen die politische Haltung, die drastische Sprache und den direkten Ton, entsprangen aber einem viel tieferen Dispositiv: dem gekränkten Selbstbild der postkommunistischen Gesellschaft, das die Autorin aus der Perspektive einer doppelten Ausgrenzung (als moldauische Rumänin und als Frau) zertrümmerte. Die postkommunistische Gesellschaft Rumäniens, die ihre kommunistische Vergangenheit abgelegt und sich geschichtsblind einer neuen Ideologie, dem Europäismus, zugewandt hat, fühlte sich provoziert, herausgefordert, gedemütigt.
Das noch schmale Bühnenwerk der jungen Autorin Nicoleta Esinencu zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus: den kraftvoll-aggressiven Sound und die Kritik am Identitätsumbildungsprozess Moldaus und Rumäniens vom kommunistischen Einheitsstaat zur postkommunistischen Gesellschaft, unter deren demokratischer Oberfläche die alten Macht- und Geschlechterverhältnisse weiter wirken. Ihre Stücke umkreisen Themen wie Arbeitsmigration und Rassismus, soziale Kälte und Religionswahn, Nationalismus und Frauenunterdrückung. Nicoleta Esinencu ist die zornige Stimme einer nach politischer und sozialer Orientierung suchenden jungen Generation, die sowohl mit den Denkschablonen des Staatskommunismus als auch mit den leeren Versprechungen des Kapitalismus aufgewachsen ist.
Die Republik Moldova / Moldau, das Herkunftsland der Autorin, mit ihrer mehrheitlich rumänischen Bevölkerung ist eine doppelt vergessene Welt, seit Rumänien 2007 in die EU aufgenommen wurde und seine Ostgrenzen abgeriegelt hat. Obwohl rumänischer Herkunft, benötigen Bürger aus Moldau ein Visum, um nach Rumänien einzureisen. Von Rumänien und der EU gewissermaßen aus Europa hinausgedrängt, bleibt das Land auf unabsehbare Zeit von ökonomischem Wohlstand, politischer Stabilität und kultureller Integration ausgesperrt. Die junge Generation sieht keine Zukunft und wandert aus.
Anders dagegen Nicoleta Esinencu, die trotz langjährigen Aufenthalten und Stipendien im Westen ihrem Land nicht den Rücken kehrt, sondern immer wieder zurückkehrt in dieses vergessene Land, um für Veränderungen einzutreten. Nicoleta Esinencu arbeitete von 2002-2005 als Dramaturgin am unabhängigen Theater Eugène Ionesco. Inzwischen hat sie ihr eigenes freies Theater in Chişinău aufgebaut, das unter dem Namen Mobile European Trailer Theatre firmiert. Der Name ist Programm, denn Nicoleta Esinencu ist dafür bekannt, ihre Theaterarbeit auch an unkonventionellen Orten zu realisieren.
Kraftvoll und provozierend, aber auch anrührend und zart – mit scharfem Blick und geschliffener Sprache zerlegt Nicoleta Esinencu die Tabus einer Welt, die aus den Trümmern der sozialistischen Utopie hervorgegangen ist und sich von Gewalt und Gier nährt. Und auch Zuschauer im Westen haben es nicht leicht, ihre Stücke zu ertragen, insbesondere an Stellen, wo die Autorin Figuren voller Fremden- und Frauenhass sprechen lässt. Es muss sein. Nicoleta Esinencu spricht aus, was die Bewohner dieser neuen Welt denken, wie sie fühlen und was sie begehren: den Selbsthass der Erniedrigten und Gedemütigten wollen sie loswerden und weitergeben.
Veränderung setzt Erkenntnis, Konfrontation, Kritik voraus. Darin besteht das ästhetische Programm Nicoleta Esinencus: in der gespiegelten Welt des Theaters die Wahrheit über die reale Welt anschaulich und ertragenswert machen.
Marius Babias und Sabine Hentzsch
Aus dem Vorwort zu: Nicoleta Esinencu. A(II)Rh+. Der deutsch-rumänische Band, der Theaterstücke, kurze Erzählungen und Essays enthält, erschien im Rahmen des Projekts Kunst im öffentlichen Raum Bukarest 2007 im Verlag der Buchhandlung Walther König und bei IDEA Design&Print Cluj-Napoca, herausgegeben von Marius Babias und Sabine Hentzsch ( After The Fall, Europa nach 1989, www.goethe.de).
