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Natalia Shchyhlevska über den neuen Gedichtband von Olga Martynova

 

 

Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte.
Übersetzt aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova.
96 Seiten, Literaturverlag Droschl, Graz 2012.
€ 16,00. ISBN-13: 9783854208310

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Tschwirik und Tschwirka ist ein besonderer Gedichtband. In erster Linie handelt es sich um eine Eigenübersetzung der Dichterin und Schriftstellerin Olga Martynova – der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin –, die sie als Gemeinschaftswerk zusammen mit Elke Erb, ebenfalls Schriftstellerin und verdiente Übersetzerin aus dem Russischen, vorgelegt hat. Zweitens vereint dieser Band zwei Gedichtbände, die 2007 und 2010 in Moskau in der Originalausgabe erschienen. Das Wichtigste sind aber die Gedichte selbst: Diese Texte werden dem Wort „Gedicht“ mehr als gerecht. In ihnen verdichten sich Zeit- und Raumdimensionen; Realität, Fantasie und Traum verschränken sich, die Laut- und Klangbilder werden an ihre Ursprünge zurückgeführt, bis ein archaischer Rhythmus zu vernehmen ist.

Ein Hinweis vorab: Gedichte, und diese Gedichte insbesondere, wollen gesprochen werden. Sie haben einen Resonanzkörper, der mit einer Stimme zum Klingen gebracht werden soll. Eine wiederholte Lektüre wird nicht nur den Text beleben, sondern einen meditativen Zustand des Lesenden herbeiführen und es ihm so ermöglichen, sich auf die Inhalte dieser Gedichte voll einzulassen. Zugegeben, es ist eine anspruchsvolle und aufwendige Lektüre. Manche Gedichte magnetisieren uns, lassen uns nicht aus ihrem Bann. Die Frage, wer denn Tschwirik und Tschwirka sind, bleibt offen. Ihre vogelartige Erscheinung und ihr menschenähnliches Wesen sind in vielen Kulturen anzutreffen: ob im babylonischen Gilgamesch oder beim hinduistischen Glücksgott Ganesha. Wie mit einem Zauberstab lässt Olga Martynova sie beide in der Figur des Balletttänzers Marius Petipa durchschimmern. Wie in einem Ballettflug gleiten die Buchstaben vorüber, einer Choreographie der Alliterationen, Vokaldehnungen, Abzählreime oder der Logik des Absurden gehorchend: „Die nassen Frösche im Frühling, die dünnen Wurzeln im Winter.“, „bach ach dach knach / omen ofen oder opel /wotan wonne monat mai.“

"Gedichte aus dem Roman über Papageien" lautet der Untertitel zu den russischen Texten Von Tschwirik und Tschwirka, die Martynova parallel zu ihrem deutschen Roman Sogar Papageien überleben uns (2010) schrieb. Ein Schreiben, zwei Bücher und „sie werden sich wohl nie unter einem Buchdeckel treffen“. Eigentlich sind es drei Bücher, denn mit der Übersetzung des Gedichtbandes ist ein weiteres eigenständiges Werk entstanden. Auf die Frage, warum sie Gedichte nur auf Russisch und Prosa auf Deutsch schreibt, hat Olga Martynova eine Antwort: „Gedichte setzen eine andere Geschwindigkeit voraus. Solche Schnelligkeit habe ich auf Deutsch nicht.“

Mit der Fluggeschwindigkeit eines Vogels lässt Martynova in ihren Gedichten Von Tschwirik und Tschwirka Zeit-, Raum- und Kulturgrenzen überqueren. Die Deutungsmöglichkeiten sind grundsätzlich vielfältig. Ob Vögel als Seelenvögel interpretiert werden oder ob man intertextuellen Bezügen nachgeht, mit jedem Aspekt verdichten und vervielschichtigen sich diese Texte. Wäre es etwa verkehrt, den Vers „Mit ihren Halbkreisen schnitten die Wiedehopfe die Luft“ auf die Oper L’Upupa des kürzlich verstorbenen Komponisten Hans Werner Henze zu beziehen? Novalis und Emily Dickinson, Thomas Pynchon, Johann Wolfgang Goethe, Rainer Maria Rilke und eine ganze Reihe russischer Literaten zitiert Olga Martynova. Durch diese intertextuellen Bezüge, archaisch-mystische Assoziationen sowie Laut- und Klangbilder schafft sie neue Welten, die jenseits des Gewöhnlichen und Bekannten liegen: „Wiesenjenseits“, „das Bienenkorbjenseits jenseits des Korbs, die Jenseits-Wiese der Wiese“, „die Welt-hinter-der Welt“, „das sonnige Hiatus-Luft(loch)schloß ‚i‘-‚e‘“. Ist es paradiesische Wahrnehmung oder Todessehnsucht? Stellenweise findet man sich in einer Fantasmagorie wieder: „am Kai der weiten Nacht / schaukeln wie Wellenbrecher / Planeten, saftige Kometen / und goldene Stachelschweine, / und Flugzeuge, und Satelliten. / Dort sind golden und stachelschweinen / die auffliegenden Zöpfe von Sträuchern.“ Wer das Ungewöhnliche des Gewöhnlichen so beschreibt, ist ein Poet!

An welchen Vorbildern orientiert sich Olga Martynova? Zwei weitere Gedichtzyklen, Wwedenskij und Verse von Rom, offenbaren jene russische Literatur des 20. Jahrhunderts, die in der Sowjetzeit nur in Samisdat verbreitet wurde und nur wenigen bekannt war: Leonid Aronson, Nikolaj Sabolozkij, Daniil Charms, Alexander Wwedenskij, Leonid Lipawskij, Elena Schwarz. Zitate dieser Autoren flicht Martynova in eigene Texte ein, eröffnet einen Dialog, der diese Dichter dem Vergessen entreißt und ihre Werke ins geistige Zentrum der europäischen Literatur rückt. Es ist ein vielfältiges Projekt: eine Synthese der klassischen Dichtkunst und Moderne, religiöse, ja mystische Dichtung und eine seltsame Entrückung, eine andere Tradition der Nonsens-Poesie und der Absurdität. Diese Quellen lassen Martynova und Erb durch die Übersetzung auch in die deutsche Literatur einfließen. Dabei gelingt ihnen ein Paradebeispiel der lyrischen Übersetzung, die nicht blind am Reim festhält, sondern den Geist dieser Gedichte atmen lässt: auf Russisch anders, auf Deutsch anders, aber in beiden Sprachen lebendig!

© Text: Natalia Shchyhlevska

 

 

Olga Martynova*1962 in Dudinka, aufgewachsen in Leningrad,  ist die Gewinnerin des diesjährigen Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt und erhielt den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Text Ich werde sagen: ‚Hi!‘, einem Auszug aus dem Roman Mörikes Schlüsselbein, der im kommenden Jahr bei Droschl erscheinen soll. Die seit 1991 in Deutschland lebende und bereits mehrfach ausgezeichnete Autorin war mit ihrem Debütroman Sogar Papageien überleben uns bereits für den Deutschen Buchpreis nominiert. Martynova, die zunächst als Lyrikerin bekannt wurde, schreibt ihre Gedichte prinzipiell auf russisch, Prosa auf deutsch.

 

10.07.2012 Olga Martynova im Gespräch

Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova über den Wettbewerb in Klagenfurt, ihre Zweisprachigkeit und die Vorzüge der Leichtigkeit ihres Textes.

Sie haben sehr konzentriert alle Lesungen und Diskussionen verfolgt. Das Ganze ist ein Wettbewerb. Kann man sich da über den gelungenen Text eines anderen freuen?

Martynova: Ich habe die anderen keine Sekunde als Konkurrenten betrachtet. Als Autor freut man sich immer über gelungene Texte. Andererseits bewundere ich die Gedankenblitze der Juroren. Die Jury war oft sehr witzig, nur einige Male hatte ich Sorge, dass es zu verletzend gewesen sein könnte.

Was hat Sie als etablierte, mit Preisen bedachte Autorin dazu gebracht, sich dieser Konkurrenzsituation auszusetzen?

Martynova: Ich war neugierig. Ich glaube, Neugier ist wichtig für einen Autor. Aber das heißt natürlich nicht, dass ein Schriftsteller spektakuläre Dinge erleben muss. Ich wollte die Lesungen auf mich wirken lassen und diese Erfahrung auch selbst machen.

Jeder Auftritt vor der Klagenfurter Jury ist mit einem Risiko verbunden. Hat Sie das nicht beunruhigt?

Martynova: Mein Lektor, der sehr freundlich ist, hat mich gewarnt. Er sagte: "Weißt du, dass das sehr verletzend sein kann." Nun, ich glaube, dass ich ziemlich resistent bin. Aber die Vermutung blieb ungeprüft: Die Juroren waren meinem Text gegenüber sehr freundlich.

Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und leben jetzt in Deutschland. Was bedeutet das für Ihr Schreiben?

Martynova: Ich fühle mich in zwei Welten zu Hause. Es ist ein Geschenk, die Möglichkeit zu haben, die Welt von zwei Seiten anzuschauen

Betrachten Sie es auch als Vorteil, in zwei Sprachen beheimatet zu sein?
Martynova: Ja. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man in beiden Sprachen aktiv bleibt. Ich
 lebe in Deutschland, doch zu Hause in Frankfurt am Main umgibt mich und meinen Mann, Oleg Jurjew, eine kleine russische Bibliothek. Meine Alltagssprache ist Deutsch, aber jeden Tag lese ich russische Texte. Und ich bin und bleibe eine russische Lyrikerin.

Gedichte schreiben Sie auf Russisch, Prosa auf Deutsch. Wie ist diese Trennung zustande gekommen?
Martynova: Ich habe auf diese Frage schon sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Aber ich denke immer wieder neu darüber nach, es ist tatsächlich nicht so einfach. Meine Antwort jetzt: Mir geht es darum, Lyrik und Prosa auseinanderzuhalten. Das gelingt mir besser, wenn ich mich beider Sprachen bediene. Ich hasse es, wenn es in einer Kritik heißt: Das ist die Prosa eines Lyrikers.

Es ist oft ein Kompliment.
Martynova: Ja, man meint es oft positiv. Aber wenn ich Prosa schreibe, will ich auch eine andere Sprache dafür finden.
 

Ihr Roman "Sogar Papageien überleben uns" ist ein großes Mosaik und darin dem Text, den Sie in Klagenfurt gelesen haben, nicht unähnlich. Ist das ein Formprinzip, das Sie besonders schätzen?
Martynova: Ja, diesmal sind nur die Bauelemente größer geworden. Ich versuche, jedes Kapitel so zu schreiben, dass es eine abgeschlossene Geschichte ergibt, die für sich stehen kann und die Nachbargeschichten nicht braucht. Aber tatsächlich sind die einzelnen Episoden miteinander verbunden. Vor dem Beginn des Schreibens habe ich ein Mosaikbild im Kopf, mir ist noch nicht jedes Steinchen bekannt, aber sobald eines auftaucht, weiß ich, wohin damit.

Es gibt eine Reihe wunderbarer Einfälle: Da ist zum Beispiel der Chef mit fünf Sekretärinnen, für jeden Tag eine, oder die anders erzählte Geschichte von Adam und Eva. Wie finden Sie Ihre Steinchen?
Martynova: Ich glaube nicht, dass ein Autor diese Frage beantworten kann. Wenn man schreibt, hofft man auf solche Einfälle. Und ich bin jedes Mal sehr glücklich, wenn sie sich einstellen. Was wir geschenkt bekommen – das ist die eine Frage; die andere: was wir daraus machen. Die eigentliche Arbeit beginnt, wenn das Geschenk da ist.
 

"Man geht in dem geschilderten Städtchen sehr gern spazieren", sagte Hubert Winkels bei der Jurydiskussion. Das ist eine treffliche Beschreibung für eine schöne Leichtigkeit und Beschwingtheit, die Ihren Text durchziehen.
Martynova: Ich schreibe oft über unerfreuliche Dinge, aber ich möchte das nicht noch betonen. Literatur ist dazu da, das Gedächtnis zu sensibilisieren. Und wenn man Vergangenheit anders erzählt, wird sie vielleicht auch anders lebendig. Leser sagen dann eher nicht, das haben wir schon tausendmal gehört.

Ihr Text Ich werde sagen ›Hi!‹* erzählt von einem Jungen, Moritz, der erste Schreibversuche macht, möglicherweise Schriftsteller wird. Ist das auch ein Stück Selbstporträt? 

Martynova: Nein, aber es gibt in dem Roman Mörikes Schlüsselbein, aus dem der Text stammt – er steht dort etwa in der Mitte –, zwei Hauptfiguren, die beide Schriftsteller sind. Meine schriftstellerische Empathie ist immer dann am ausgeprägtesten, wenn diese beiden auftreten. Moritz war am Anfang nur eine Nebenfigur, allmählich wurde er immer wichtiger.

Was hat es mit dem Romantitel auf sich? 

Martynova: Es geht in dem Buch um die deutsche Romantik und in einem Kapitel auch explizit um Mörikes Schlüsselbein.

Nach welchen Kriterien haben Sie den Text, den Sie in Klagenfurt vorgetragen haben, ausgewählt?
Martynova: Ich habe einfach geschaut, welches Kapitel die richtige Länge hat, die Stoppuhr war entscheidend. Die Kapitel sind sehr verschieden, aber sie gehören alle zu mir. Ich kann nicht sagen, dieses liebe ich mehr als jenes. Es ist unmöglich vorherzusagen, welcher Text die größten Erfolgsaussichten beim Bachmann-Wettbewerb hat. Das ist wie im Spielcasino, da weiß man auch nicht, ob man auf Rot oder Schwarz setzen soll.
 © Interview: Holger Heimann, Börsenblatt des deutschen Buchhandels; Foto: Olga Martynova, ddpa

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