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Bruchstücke einer Kindheit

von Katja Schickel

 

 

Otto Dov Kulka – Landschaften der Metropole des Todes
Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft
Originaltitel: Landscapes of the Metropolis of Death: Reflections on Memory and Imagination. Originalverlag: Penguin Books
Aus dem Hebräischen von Inka Arroyo Antezana, Anne Birkenhauer, Noa Mkayton
192 S., geb., mit Abb., DVA Verlag München, 2013
€ 19,99 [D], € 20,60 [A], CHF 28,50*(* empf. VK-Preis), ISBN: 978-3-421-04593-5.




 


Preisträger des 34. Geschwister Scholl-Preises*

 

 

Otto Dov Kulka wird 1933 in der Tschechoslowakei geboren, erlebt als Kind, wie sein Vater von den deutschen Besatzern verhaftet und er selbst – im September 1942 – gemeinsam mit seiner Mutter zuerst in das Ghetto Theresienstadt, später nach Auschwitz-Birkenau ins so genannte Familienlager deportiert wird. Die zweimalige Liquidierung dieses vom übrigen Vernichtungslager separierten Teils – Block B II b – im März und Juli 1944 überleben Sohn und Mutter zwar, doch kurze Zeit später wird die schwangere Frau ins KZ Stutthof (bei Danzig) abtransportiert, wohin sie sich 'freiwillig' gemeldet haben soll. Otto Dov Kulka wird seine Mutter nicht wiedersehen und seinen kleinen Bruder nie kennenlernen. Von der engeren Familie werden nur er und sein Vater überleben. „Sie ging weg und verschwand“, ohne sich noch einmal zu ihm, ihren elfjährigen Sohn, umzudrehen, so beschreibt Kulka das Trauma der Trennung von seiner Mutter. Dass sie sich nicht nochmals ihm zuwendet, vielleicht ein letztes Mal winkt, hat ihn zeitlebens nicht losgelassen; wer von ihnen beiden war damals Orpheus, wer Eurydike? – und das Wissen, das diese Frage seinen Kummer nicht im Mindesten angemessen wiedergibt. In seinen Träumen ist der erwachsene Mann auf all den Wegen, die er als Kind nicht gehen muss, auf denen er allerdings damals schon die Anderen – mindestens beobachtend – begleitet: auf den Appellplatz, zu brutalen Bestrafungen von Häftlingen bis hin zu Hinrichtungen, zum morgendlichen Arbeitsantritt der Erwachsenen, in die Waggons auf einen 'neuen Transport' oder direkt in die Gaskammern. In seinen Träumen und in einer gewissen Gedankenverlorenheit ist er sich und seinen Familienangehörigen wenigstens nahe, auch Bekannten und Freunden, die er als Kind schmerzlich, aber still vermisst; er kann den Verlust zulassen, den er fühlt, für den er jedoch, wie für die fundamentale existentielle Einsamkeit, als Kind (und vielleicht auch danach) keinen Begriff hat und sich deshalb als Erwachsener einer zugleich klaren wie poetischen Sprache bedient.


Der nun achtzigjährige, emeritierte Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem hat als Historiker wissenschaftlich über die Vernichtung der Juden geforscht und geschrieben (einer seiner Aufsätze ist jetzt auch im Buch abgedruckt: Ghetto im Vernichtungslager: Jüdische Sozialgeschichte zur Zeit des Holocaust und ihre Grenzen), über seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse jedoch geschwiegen, sie nie zum Thema einer zu veröffentlichenden Arbeit gemacht. Nach eigenen Bekundungen hat er sich auch nie Filme über die Shoah, über Einzelschicksale angesehen, weder fiktionale noch dokumentarische, hat keine Biografien oder andere literarische Werke gelesen, keine diesbezüglichen Ausstellungen besucht. Er hielt sich immer lieber an Fakten und Tatsachen und trennte strikt zwischen seinem wissenschaftlichen und „außerwissenschaftlichen“ Leben. Obwohl sein eigenes Schicksal also nie Grundlage seiner historischen Studien war, hat Kulka doch jahrzehntelang Tagebuch geführt und laut eigener Aussage ab den 1990er Jahren auch auf Band gesprochen: Gedanken zu Auschwitz, über sein Gedächtnis, die wiederkehrenden Bilder – lauter diffizile und sensible Selbstreflexionen, animiert von Erlebnissen, Erinnerungen, Träumen und Empfindungen darüber, die er nun für diesen Band zusammengestellt und durchkomponiert hat.

Gleich zu Beginn legt er Wert auf die Feststellung, dass es sich bei dieser Veröffentlichung nicht um ein historisches Zeugnis oder autobiografische Erinnerungen handele, „sondern um die Betrachtungen eines Menschen in seinen späten Fünfzigern und Sechzigern, der jene Fragmente der Erinnerung und der Vorstellungskraft in seinen Gedanken hin und her wendet, die aus der Welt des staunenden Kindes von zehn bis elf Jahren, das ich damals war, geblieben sind.“ In dem vorliegenden Buch, das also vor allem eine literarische Reflexion über Bedingungen von Wahrnehmen und Erinnern ist, verbindet er Fragmente der Erinnerung an seine eigene Kindheit mit im Laufe seines Lebens immer wiederkehrenden Bildern und Träumen, fragt nach Ursprüngen und Motiven eigenen Lernens, Denkens und Fühlens, rekonstruiert sie, so durchlässig wie möglich, in ihren erstmals bewusst wahrgenommenen Erscheinungen und Eindrücken und stellt damit ganz grundsätzliche Fragen: Wie lernt man leben? Wie lernt man das Leben, das eigene und das anderer Menschen, kennen und unterscheiden – im Besonderen unter den Bedingungen von Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau? Wie vermittelt man das, was den Nachgeborenen nur als historische Fakten gegenübertritt? Wie entsteht Erinnerung überhaupt? Worte, Begriffe, Namen: Wann lernt man sie unterscheiden, mit Inhalten füllen, und wie grundieren sie das ganze übrige Leben?


Beim Lesen erhält man Einblicke, wodurch sich Erfahrungen eines überlebenden Kindes von denen anderer Kinder unterscheiden mögen. Ein Beispiel: Der Horizont, ein Himmel und die Farbe Blau: wir alle kennen Bilder, die diese Worte evozieren, Gefühle, die sie auslösen – und doch sind sie unvergleichbar und unvergleichlich, sowohl im Moment des einstmals ersten Gewahr-Werdens, ihrer vielfältigen Bedeutungsebenen als auch in späterer Betrachtung dieser „Kindheitslandschaften aus Auschwitz“. „Das einzige wirkliche Blau, das jede andere Farbe übertrifft, eingebrannt in meine Erinnerung als die Farbe des Sommers, die Farbe der Stille, die Farbe des Vergessens – eines vorübergehenden Vergessens –, ist die Farbe eines polnischen Sommers im Jahr 1944.“

Ein anderes Beispiel: Auch Zäune und Elektrizität sind elementare Bestandteile des kindlichen Erlebens (und einer nochmals anderen Unterscheidung zwischen Leben und Tod im Lager) und zeitlebens durch den Ort, an dem das Kind sie schmerzhaft 'erfährt', konnotiert. Eine kindliche Mutprobe besteht darin, den Zaun zu berühren. Manchmal gibt es sogar einen mehr oder weniger heftigen, aber aushaltbaren Schlag. Die geschilderte Episode endet allerdings nicht gut  – und doch geht alles weiter, als sei nichts geschehen. Der Junge will dem Onkel durch den Zaun Essen zukommen lassen. Diesmal steht der allerdings offenbar vollkommen unter Strom und das Kind stirbt. Es hängt im Zaun, schwebt sozusagen über dem Boden, und doch nimmt niemand Notiz von der grotesk verzerrten Gestalt, dem Kind und seinem Sterben. Noch im Tod hat es die Welt genau vor Augen und stirbt mit der Erkenntnis, dass sie genauso aussieht wie vorher, dass es einfach ohne einen weiter geht, für die anderen wie bisher. Immer geht alles weiter. Das ist der Lauf der Dinge, wie es heißt. Für die Mithäftlinge geht das Leben weiter, während ein Kind im Zaun hängt, während Menschen in die Gaskammern gehen. Der Tod ist zu allgegenwärtig, als dass er einzeln beklagt werden könnte. Man erschrickt über alle die Dinge, die (vermutlich oder gewiss) gerade geschehen, während man die diesbezüglichen Überlegungen im Buch dazu liest.


Räume, Landschaften und eigene Gefühls- und Gedankenwelten, haben eine spezifische Architektur, es sind Kindheits-, aber eben auch Todeslandschaften – und bleiben so im Gedächtnis, für immer. Hier, in der „Metropole des Todes“ erhalten sie Oberfläche, Tiefe und Struktur, folgen dem „unabänderlichen Gesetz des Todes“, dem „Großen Tod“. Das sind Demarkationslinien einer Kindheit, in die die Matrix eines Lebens eingeschrieben wird. Als Übersetzungshilfen oder Orientierungspunkte für das 'Verstehen' von Auschwitz taugen sie nicht. Es gibt nur eine Verbindungslinie von dem „Dort“ zum „Hier“ - und die wird durch menschliches Erleben, Empathie und Verstehen-Wollen geschaffen, also durch selbst gelebte Humanität.

Otto Dov Kulka schreibt keinen Überlebensbericht, nicht chronologisch und kausal, nicht über ein historisches Ereignis, sondern Bruchstücke über seine Kindheit. Er wollte herausfinden, betont er, „warum meine Gegenwart so besetzt ist von dieser Vergangenheit, die ich ununterbrochen erfahre, in der ich ununterbrochen arbeite, in die ich mich ununterbrochen flüchte.“ Indem Kulka radikal subjektiv bleibt, in seinem Gedächtnis, seinen Empfindungen und Erinnerungen, kann man sich in Beziehung setzen zu seinen Erzählungen über die Metropole des Todes, die kein authentischer Ort ist. Er geht wie selbstverständlich, aber vorsichtig durch die Zeit und die Räume, misstraut den Übereinkünften, ist aber vor allem neugierig und immer gleichzeitig ein bisschen verwundert über seine eigenen Fragen. Sein Tonfall ist behutsam und abwägend, nicht aus Furcht, sondern aus Klugheit, denn erst durch diese Erzählweise lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen ihm, seinen Überlegungen und seiner Leserschaft.


Kulka versucht, einer Erinnerung auf den Grund zu gehen, er ringt mit den Emotionen, die sie bei ihm auslöst, er reflektiert über Gewissheiten und Ahnungen. Er kämpft mit dem eigenen Gedächtnis, dem Verblassen wie dem Nicht-Enden-Können seiner Erinnerungen (in Form von Flash backs, Wortfetzen, Bildschemen und Metaphern). Er sucht intensiv nach Worten, bekräftigt sie und revidiert sie wieder. Manchmal stürzt eine wahre Bilder- und Metaphernflut über ihn herein, die Worte fließen, dann wiederum wird es karg, jeder Satz scheint sich zu sträuben, jedes Wort will genauestens gewählt sein. Er selbst ist ja auch argwöhnisch und voller Widersprüche, will sich nicht zufriedengeben mit wohlfeilen Erklärungen und schnellen Analysen. Schon für das Kind, das er einmal war, gibt es ein Vorher und ein Nachher, und die Unterschiede sind manchmal verwischt und undeutlich. Seine Kindheit, das ist auch ein Labyrinth, ein Irrgarten, wie das Lager selbst, das wie selbstverständlich quasi um einen herum gebaut worden ist, in dem man lebt, in das man jeden Tag hinein geht, manchmal sogar ohne Angst, einfach so. Dennoch wird das Denken und Fühlen anders strukturiert als beim Spielen in einem Stadtpark etwa oder in einem Dorf. Konterkariert vom täglichen Umgang mit unsäglichen Grausamkeiten, dem bloßen Hier-Existieren-Müssen, den Blicken ausgemergelter Menschen, dem Wissen über die Natur der Selektion, der Gewissheit der Krematorien, entsteht das Panorama einer kindlichen Seelenlandschaft, die, aus der Sicht eines Jungen erzählt, sich sehr tief hinein wagt auch und gerade in das Reich des Unterbewussten, des Verdrängten – ohne jemals läppisch und  pseudopsychologisch zu werden oder kindisch. Man schaut in einen Raum, den man nicht kennen kann, der einem aber vertraut vorkommt, weil Otto Dov Kulka ihn aus kindlicher Perspektive untersucht und so ungefiltert wie möglich erzählt. Buchstäblich unsagbare Verzweiflung und Verlorenheit holt Kulka empor, also aus sich selbst heraus, sogar das Aufblitzen von Freude, das trotzige Dennoch-Leben in Birkenau. Das in jedem Augenblick versteckte Trotzdem. Es ist diese Ernsthaftigkeit, die Kindern durchaus eigen ist, wenn man sie nicht zu Abziehbildern von Erwachsenen degradiert, die Kulkas Essay so schmerzhaft und verstörend macht und gleichzeitig sein Unterfangen so eindringlich beglaubigt.


Kulka macht es sich und uns nicht leicht. Er möchte nicht zu schnellen Schlüssen kommen, sich nicht selbst betrügen, im besten Sinne des Wortes wahrhaftig sein. Darüber hinaus ist er auch noch Wissenschaftler und möchte der (eigenen) Wahrheit so nahe wie möglich kommen, so präzise wie möglich (be-)schreiben, was mit ihm geschah und nie endet, wie er weiß, so lange er lebt. Er schreibt gewandt, gekonnt unzensiert könnte man es paradox nennen, luzide und scharfsinnig, von einer Reise in die Vergangenheit, die zunächst wie eine gegenwärtige Reise anmutet, im Zug, im Taxi, und sogleich die Erkenntnis mitbefördert, dass das Leben nämlich immer weitergeht, selbst wenn Monströses geschieht oder geschehen ist, so, wie die Gesetze in der Metropole des Todes funktionieren und die Welt sie nicht zum Stillstand bringt oder gebracht hat, weil sie selbst eben aus dieser stammen. Sie verkörpern eine scheinbar allen verständliche Logik, die nie erklärt wird, weil man ungefragt davon ausgeht, dass sie von allen angewandt wird, weil sie als unveränderbar gilt (und sowieso von allen akzeptiert werden muss). Es ist eine Logik, wie auch Kafka sie beschrieben hat, den Kulka sehr schätzt, auf den er sich immer wieder bezieht. Die meisten Menschen in der 'Welt nach Auschwitz' haben nichts oder nicht all zu viel aus der Geschichte gelernt. Sie erinnerten sich lediglich schnell daran, dass Vergessen-Können das beste Überlebensmittel ist. Sie haben wieder oder weiterhin ihre Lieblings-Feindbilder und Sündenböcke, sie pflegen ihre Ressentiments und Vorurteile. Und scheinen aus allem kurzfristig immer unbeschadet hervorzugehen.

Bei Kulka vermischen sich die Zeitebenen ständig, weil er sich seinen Erinnerungsströmen überlässt. Auschwitz lernt man zuerst kennen durch vermeintliche Lichterketten, die das Kind bei seiner Ankunft dort regelrecht verzaubern. Es herrscht eine Stille, die zunächst anheimelnd, fast feierlich wirkt. In einem anderen, weitaus düsteren Erinnerungsbild erkennt er dunkle Flecken im Schnee, aber es sind keine Frühlingsboten, wie man denken könnte, sondern Tote am Straßenrand, liegen gelassene Leichen, und bei seinem ersten freiwilligen Besuch in Auschwitz, dreiunddreißig Jahre später, sieht er den Verfall des verödeten Lagers zwischen Betonpfeilern und Drähten, und es herrscht wieder diese Stille, die sich wie ein Firnis aus Lautlosigkeit über alles legt und dem gesamten Gelände etwas Unantastbares, Unberührbares verleiht.


Kulkas Betrachtungen zeigen auch, dass Vergangenheit tatsächlich nicht vergeht, nie vergangen ist. Alles Erinnerte wird und wirkt gegenwärtig. Auch wenn man sich damit abfinden muss, dass einmal Verlorenes unwiederbringlich verloren ist, dass Tote jedenfalls im Diesseits nicht wiederauferstehen, wird es durch Sprache, das Zur-Sprache-Bringen, mit dem Zur-Sprache-Kommen doch wiederbelebt und dem Vergessen entrissen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind bloß willkürliche, künstliche Einteilungen. Stets sind sie in einem Leben, einem Körper aufbewahrt, konstituieren beide, sind mit Sinnen, Gedanken und Gefühlen ausgestattet und verbunden, die sich verändern, streiten und versöhnen können. In Kulkas Gedanken, seinen Erinnerungen ist die Vergangenheit immer ein Fluchtpunkt und sein Essay ein vorläufiges Résumé. Nichts ist abgeschlossen, solange man lebt. Und die Erinnerung schmerzt und wird immer wehtun. Eine einheitliche Retrospektive kann es nicht geben. Es heißt, dass jeder Mensch, der in einem Konzentrationslager war oder ein Vernichtungslager überlebt hat, sein ureigenes Lager in sich trägt, weil er je spezifische Erfahrungen gemacht hat, die nicht umstandslos verallgemeinerbar und teilbar sind. Kulka zeigt Szenen aus seiner Kindheit, nicht nur, um sie zu deuten und zu analysieren, sondern um durch sie Formen und Mechanismen von Gewalt und Ohnmacht zu beschreiben, die das Lagerleben charakterisieren, die Auschwitz allererst möglich gemacht haben und die es auf die eine oder andere Weise immer noch gibt und uns daher alle angehen. Auch darauf macht Kulka aufmerksam: Damit wir uns nicht immer herausreden können. Sein Text ist beides: Erkenntnissuche und Versuch einer Klarstellung, einer Klärung, die schmerzt, gerade weil sie nicht hermetisch ist, sondern offen und einladend und mit genügend Ecken und Kanten versehen. Es ist auch eine Grenzüberschreitung.


Vor allem ist es ein sehr bemerkenswertes Buch, das sofort die Gedanken im Kopf in Bewegung setzt und die eigene (Kinder-)Seele tief berührt; über das man weiter nachdenken muss, weil es so viele Räume aufgeschlossen und geöffnet hat, in die man hineingehen kann, auch wenn man nicht immer weiß, wohin sie führen, und sich doch zurechtfindet; weil man die eigene Wahrnehmung schärfen und einen „kleinen Teil des Vergessenen lernen“ (Breton) und sich so auch gegen das längst ritualisierte Gedenken wappnen kann – und schließlich, weil Kulkas Textcollagen tatsächlich über die „Sphäre der Geschichte“ weit hinausreichen.


© Katja Schickel. Die Zitate sind – bis auf das Breton-Zitat – dem hier besprochenen Buch entnommen; Fotos: DVA; faz.net



* 19.10.2013 - Für sein Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (DVA) erhält Otto Dov Kulka den 34. Geschwister-Scholl-Preis, der am 18.11.2013 um 19.00 Uhr in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München vergeben wird. Für den 19.11.2013 ist eine öffentliche Lesung des Preisträgers auf der Münchner Bücherschau im Rahmen des Literaturfests München geplant. Infos zum Preis: www.geschwister-scholl-preis.de.

19.10.2013


19.11.2013 - Anhang

Interview mit dem Preisträger Otto Dov Kulka 
von
Andreas Trojan (boersenblatt.net)


Als Historiker haben Sie Standardwerke zum Judentum im Nationalsozialismus geschrieben. Ihre eigenen Erlebnisse in Auschwitz haben Sie dagegen erst spät in Tonbandaufnahmen und Tagebuchnotizen verarbeitet − und noch viel später in dem Buch, für das Sie jetzt geehrt werden. Warum haben Sie so lange gezögert?

Nach dem Studium der Philosophie und der Frühgeschichte fiel meine Entscheidung, mich der Erforschung und der Lehre der modernen jüdischen Geschichte zu widmen, die NS-Zeit eingeschlossen. Jahrzehntelang glaubte ich, dass es ausschließlich der wissenschaftliche Weg sein könne, auf dem ich diese Vergangenheit verstehen will. Sie können fragen: Wo war Auschwitz die ganze Zeit? Es war anwesend, aber nur in meinen Tagebüchern und Träumen. Etwa vor zwanzig Jahren hatte ich zugestimmt, eine Reihe von Interviews aufzuzeichnen, die eigentlich eher monologische Reflexionen zu dieser „Metropole des Todes“ sind. Und erst nachdem ich die letzten Forschungs- und Dokumentationsprojekte in den Jahren 1997 bis 2010 abgeschlossen hatte, beschloss ich, meine sozusagen außerwissenschaftlichen, privaten Betrachtungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.


Der Historiker sammelt Fakten, eine persönliche Schilderung lebt von Erinnerungsbildern, auch wenn es Schreckensbilder sind. Ist nun der autobiografisch schreibende Autor Kulka dem Unerklärlichen nähergekommen als der Historiker Kulka?

Möglicherweise ja. Aber nicht als autobiografisch Schreibender, sondern im reflexiven Denken des Historikers und in seiner metaphorischen Sprache. Ich möchte hier die zwei Betrachtungsweisen in meiner sogenannten privaten Mythologie erklären: zum einen die unmittelbare, direkte Erfahrung der Welt von Auschwitz, die der Verstand des Kindes nicht in vollem Umfange erfassen konnte. Und gleichzeitig die zweite Dimension, betrachtet durch das Prisma meines reflektierenden historischen Denkens, die in der Abstraktion der Realität − der letzten Phase der "Endlösung" − besteht. Im Letzteren geht es mir um die Bedeutung von Auschwitz als Quintessenz, als Inbegriff und Verwirklichung von politischen Ideen, die den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern sollten.


Was bedeutet Ihnen der Scholl-Preis?

Er bedeutet mir viel und ich betrachte es als große Ehre, neben den israelischen Autoren David Grossman und Saul Friedländer sowie dem chinesischen Dissidenten Liao Yiwu mit diesem Preis ausgezeichnet zu werden. Vor allem aber bewundere ich den Mut der Geschwister Scholl zur Auflehnung gegen das Regime, aber auch gegen die Gleichgültigkeit und Judenfeindlichkeit der deutschen Bevölkerung. In ihren Flugblättern sagten sie damals deutlich, „dass seit der Eroberung Polens 300.000 Juden in diesem Land auf bestialische Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“ Aber es ist ihnen klar, zu wem sie hier sprechen. Gegen die Judenfeindlichkeit oder Gleichgültigkeit der Deutschen scheint ihnen dann ein anderes Argument wirksamer gewesen zu sein, nämlich „… dass die gesamte polnische adelige Jugend vernichtet worden ist. ( ...) Wozu wir dies ihnen alles erzählen, da sie es schon selber wissen … Man kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!“


Ein Vers lässt Sie Ihr Leben lang nicht los: „Gott möge das Blut der Unschuldigen rächen.“ Aber anstatt auf Sühne und Rache zu setzen, drucken Sie im Buch drei Gedichte von einer jüdischen KZ-Insassin ab. Das eine trägt den Titel „Wir, die Toten, klagen an!“- Hat heute, fast siebzig Jahre nach Ende des NS-Regimes, die immerwährende Klage den Ruf nach Rache ersetzt?

Der Vers stammt aus einem Jahrhunderte alten Gebet für Märtyrer. Gott und nicht die Menschen sollen Vergeltung üben. In dem von Ihnen zitierten Gedicht geht es weder darum zu klagen noch um Rache. Im letzten Vers des Gedichtes heißt es „…und allen Völkern schreien wir ins Gesicht: Wir, die Toten, klagen an!“, was ein Aufruf zur Gerechtigkeit ist. In dem dritten, von mir ausgewähltem Gedicht schreibt die unbekannte Autorin an der Schwelle zur Gaskammer: „Und trotzdem – lieber sterb ich, spuck mir nur ins Gesicht, zum Feigling lieber Mut, als an den Händen Blut.“ Ich enthalte mich einer Antwort auf die Frage der Rache heute, die für mich gegenstandslos ist.


In Zeiten der Trauer und der Not nehmen Sie Werke von Franz Kafka zur Hand. Kafkas Texte sind allerdings nicht gerade hoffnungsfroh zu nennen...

Es ist in der Tat diese ausweglose Not in Kafkas Schreiben und der von vorneherein vergebliche Versuch, sie zu überwinden – und trotzdem soll man nicht verzweifeln. Diese Haltung gibt mir Kraft, in meiner eigenen Not und Verzweiflung nicht aufzugeben. Sie können sagen, dass sei paradox. Doch ich halte es hier mit Wilhelm Dilthey, der sagt, Paradoxie sei ein „Merkmal der Wahrheit“.


 19XI13



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