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Wege aus dem Schlamassel

von Pascal Bruckner

 

 

Die schlechten Nachrichten häufen sich: Europa driftet politisch auseinander und scheitert wirtschaftlich. Der Kapitalismus scheint den Tod seines ältesten Feindes, des Kommunismus, nicht zu überleben. Kaum 23 Jahre trennen den Mauerfall vom großen Schlamassel, in dem wir stecken: Zwanzig Jahre, in denen es Europa und Amerika vom Triumphalismus zum Zweifel, von der Glorie zum Katzenjammer trieb. Vom Kapitol zum tarpejischen Fels waren es für uns tatsächlich nur ein paar Schritte, und nur einige wenige helle Geister haben diesen Sturz vorausgesehen. Wir befinden uns in der Lage deklassierter Bourgeois, die in ein paar Monaten ihr Vermögen verloren haben und ihre plötzliche Armut mit der Mentalität des einstigen Komforts leben. Wir können es nicht glauben, wir verharren im Zustand der Verblüffung. In dieser Häufung der Missgeschicke liegt etwas fast Komisches, als dürfte das Unglück nur in Serie kommen. Es reißt uns den Boden unter den Füßen weg, ein gedämpfter und dennoch schrecklicher Aufprall. Jedes Mal, wenn wir glauben, den Boden erreicht zu haben, öffnet sich ein neuer Abgrund unter unseren Füßen. Wenn alles sich auflöst, hilft nicht nur das Gespür für Widerstand, sondern auch das für die Nuance. Es gibt eine Selbstgefälligkeit in unserem Pathos des Niedergangs, denn unsere Lage bleibt beneidenswert für viele mittellose Völker, für die wir die "Fremden mit den runden Bäuchen" (Xi Jiping) bleiben.

 

Kopernikanische Revolution
Geben wir es zu: Wir verstehen nicht, was geschieht. Und doch sind es nicht so sehr die Tatsachen, die beängstigen, sondern unsere Interpretationswut. Eine Flut von Kommentaren bricht über uns herein, deren Zahl besorgniserregender ist als ihr Inhalt. Wie die Ärzte am Krankenbett bei Molière, die ihre widersprechenden Meinungen austauschen, während der Kranke stirbt. Was ist in unseren Gesellschaften schief gegangen, dass sie vom Übermut in die Depression abgleiten, während der Rest der Welt in die Geschichte zurückkehrt, sich auflehnt und mit großer Geschwindigkeit entwickelt? Nach dem Fall der Dritte-Welt-Romantik und des Sowjetismus muss unsere Generation dem Einsturz einer weiteren Bastion zu sehen: der westlichen Vorherrschaft über den Planeten.
Was uns nach 1945 frei machte, war die Gleichzeitigkeit materiellen Wohlstands, sozialer Umverteilung, technologischer Fortschritte und der Sicherheit des Friedens durch den Aufbau Europas und die nukleare Abschreckung. Im Schutz dieser vierfachen Einhegung konnten wir uns im Westen in aller Sorglosigkeit als freie Individuen selbst verwirklichen. Nun stürzen diese Säulen eine nach der anderen ein, die Schulden hängen wie ein Bleigewicht an unseren Ökonomien, die Arbeitslosigkeit grassiert, das vom Wohlfahrtsstaat geknüpfte Netz der sozialen Sicherheiten löst sich auf, Armut und Bettelei kehren zurück, die Gefahren für das Klima untergraben unser Vertrauen in den Fortschritt - wir fühlen uns mitten in unseren Aktivitäten getroffen und wechseln von Gelassenheit zu Furcht. Wenn so viele Bürger sich ängstigen, dann heißt das, dass die klassischen Stoßfänger abgenutzt sind und sich der Einzelne mit seinen immer gravierenderen Problemen allein gelassen fühlt. Nichts scheint mehr die Brutalität der Globalisierung abzudämpfen. Europa selbst ist kein Schutzraum mehr, da es unter unseren Augen zerfällt, es wird selbst zum Auslöser der Wirrnis, wie ein Tempel, der über seinen Gläubigen zusammenstürzt. Das Schlimmste ist nicht mehr auszuschließen: Was so solide schien, ist mürbe, was dauerhaft errungen war, erweist sich als flüchtig. Auch darum schließen sich immer mehr unserer Zeitgenossen in ihre Nationen, Regionen, Familien ein wie vor einem Sturm, der über sie hinwegfegt.
Überall droht das Gespenst der Pleite: Pleite der Mittelschicht, der die Proletarisierung bevorsteht, Pleite Europas und der Vereinigten Staaten, die auf dem Feld versagen, auf dem sie einst brillierten: in der Wirtschaft. Willkommen in der Ära der Herabgestuften. Agenturen erklären Staaten zu Ramsch. Mehr denn je regieren zwei Instanzen: die Schule und das Gericht. In einer Zeit wilder Konkurrenz zwischen Kontinenten und Regionen sind wir zugleich Zensuren und Urteilen unterworfen, werden von oben abgekanzelt und von Gleichen bewertet. Europa erschien seinen Mitgliedsstaaten wie eine Festung, die sie ein für alle Mal vor der Tragödie schützte. Nun kehrt die Tragödie wieder, leise rauschend auf den Flügeln des Erfolgs. Kaum sind wir dem Kokon der gloriosen Nachkriegszeit entwachsen, durchleben wir eine Periode des Sturms, aber mit der Mentalität des Überflusses, geprägt von Reflexen, die nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen. Überreste unser einstigen Herrlichkeit stehen Seit' an Seit' mit nagelneuen Bauruinen. Wir führen das Drama satter Kulturen auf, die auf alle Widrigkeiten mit Angst und Klageliedern reagieren. Schon die Alten hatten auf die unerbittliche Nachbarschaft von Sieg und Niederlage hingewiesen: Jede Vorherrschaft kann ins Gegenteil umschlagen. Der technischen und ökonomischen Verwestlichung des Südens entspricht ein Rückfall Europas und der USA in einen Zustand der Dritten Welt. Wir sind nicht mehr Herren über uns Schicksal, sondern sehen uns als Opfer einer Enteignung. Uns bleibt nur eine Gewissheit: Morgen wird schlimmer sein als heute, die eigentlichen Verluste kommen erst noch.
Schon im 20. Jahrhundert hatte sich eine Katastrophe ereignet, die doppelte Geißel des Nazismus und des Kommunismus, aber sie ist nicht vergleichbar mit der jetzigen. Die erste war schwarz und rot vor Blut, die jetzige ist grau in grau, ein sanftes Verenden. Aus jener Zeit der Finsternis und des Todes müssen wir lernen, um Maß für die jetzige Situation zu nehmen und unsere Kaltblütigkeit zurückzugewinnen. Wir brauchen keinen Churchill, es droht nicht jeden Tag ein Weltkrieg. Wir stehen nicht vor größeren Konflikten, wir leben nicht am Ende der Geschichte - höchstens am Ende der Geschichte Europas als dominierender Zivilisation. Das große politische und intellektuelle Ereignis dieses beginnenden 21. Jahrhunderts ist der Aufstieg einst kolonisierter Nationen in den Rang neuer, ihre einstigen Herren überragender Akteure des Weltgeschehens. Alles, worin wir glaubten zu brillieren, ahmen diese neuen Mächte nach und stürzen sich mit dem Eifer des Konvertiten in die Arena. Die alte Hierarchie des dominierenden Nordens und zurückgebliebenen Südens funktioniert nicht mehr. Wir sind nicht mehr die ersten und nicht mehr die besten. Wir treten in die Ära der braunen, gelben, schwarzen Menschen ein. Die Zeit des weißen Mannes ist vorüber oder zumindest relativiert. Das heißt nicht, dass die westliche Welt von der Karte verschwindet, im Gegenteil, aber sie muss ihre Kompetenzen und Grenzen neu definieren.

Selbstmord mit Kapital
Die Verheerungen des "Neoliberalismus" sind bekannt: Triumph des Finanzkapitalismus über den Kapitalismus der Unternehmen, Sieg einer parasitären Spekulation, die zur Explosion der Ungleichheit führt. Hinzukommt der massive Abbau der Industrie zugunsten der Dienstleitungen und Hochtechnologie,der auch zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führte, die in Niedriglohnländer verlegt wurden. Eine Ökonomie der Rente verdrängte die Ökonomie der Produktion. Die in der Reagan- und Thatcher-Ära gepriesene Fiktion einer aus sich heraus das Gute bringenden Ökonomie, die nur von allzu einengenden Steuern und Gesetzen befreit werden muss, findet nun ihr unglückliches Ende - in den irren Algorithmen der Trader, dem high frequency trading, den toxischen Papieren, die selbst von ihren Erfindern nicht mehr verstanden werden. Der letzte Beweis, dass das System von einem Überschuss an Komplikationen getötet wurde. Es hatte sich ein Glaube an eine Ökonomie durchgesetzt, die ihre Reichtümer jenseits der Arbeit hervorbringt, die Vermögen und Gehälter nach angeblich individuellem Verdienst verteilt und also die Schwachen bestraft und die Starken belohnt und dabei den zutiefst feudalen Charakter dieser Eliten verkennt, die sich in der Weise von Dynastien kooptieren und reproduzieren, auch wenn dann und wann ein Neuling ins System tritt. Diese Fabel wird von den exaltiertesten Anhängern der Tea Party ins farcenhafte Extrem getrieben, die die Steuern für Reiche ablehnen, nur noch die Armen und die Mittelschicht besteuern, jedwede Sozialhilfe abschaffen und die Regierung zu einer leeren Hülle machen wollen.
Wer glaubt, dass der Markt spontan die Einzelinteressen ausgleicht, dass er mit Gewissen und Vernunft ausgestattet ist, so dass Gier und Egoismus der Akteure die besten Garanten des Wohlstands wären, bewegt sich wie zu Zeiten des Kommunismus im Reich der reinen Ideen und sündigt aus Weltfremdheit. Wer eine bekannte Metapher verwenden will, könnte sagen, dass die unsichtbare Hand mitten in unserem Gesicht gelandet ist. Als hätte sich der Kapitalismus, als er auf sich gestellt war, in Ermangelung eines Feindes selbst vernichtet - wie ein Magengeschwür, das die Innenwände des Magens auffrisst. Zwanzig Jahre nach seinem Sieg hat er das Wunder vollbracht, genauso verhasst zu sein wie der Kommunismus in den Ländern des real existierenden Sozialismus. Beweis: die Wut über die von den Großfinanziers auferlegte Sparpolitik, die mit dem Wachstum jede Hoffnung auf eine Erholung tötet. Man kann sehr gut mit Schulden leben, solange man wieder herauskommt und sie nutzt, um einen neuen Wohlstand zu finanzieren. Erstaunliche Rückkehr von Montesquieus Klimatheorie: Die Länder des europäischen Nordens seien fleißig und sparsam, die des Südens verschwenderisch und müßig. Eine Armee arbeitsamer Ameisen gegen ein Ballett hirnloser Grillen.
Hellsichtige Analytiker haben einige Lösungsstrategien formuliert: Trennung der Geschäfts- und der Depotbanken, Schließung der Steuerparadiese mit allen Mitteln, inklusive Zwang, Kontrolle der Pensionsfonds, Kappung unanständiger Gehälter, Stärkung des Staates, Erschwerung der Steuerflucht, Entzug der Staatsbürgerschaft für Bürger, die ihre Steuern nicht in der Heimat zahlen, neue Zollgrenzen, Neudefinitionen der Rollen des Privat- und des öffentlichen Sektors mit einer Zentralbank, die in der Lage wäre, die Schulden unterschiedlicher Länder aufzukaufen und die Rolle der letzten Reserve zu spielen, Besteuerung finanzieller Transaktionen.
Allein, den Vermögenden zu nehmen und den Mittellosen zu geben, die Anstrengung auf alle zu verteilen, mag einen befriedenden Effekt haben, aber wird nicht alle Schwierigkeiten beheben. Auch mit strengerer Besteuerung - die Schulden müssen zurückbezahlt werden, in bar und klingender Münze oder sie werden Leiden bringen und die kommenden Generationen dauerhaft belasten. Ab einem gewissen Punkt reicht es nicht aus, die Reichtümer zu teilen, man muss neue produzieren. Unsere Länder haben über ihre Verhältnisse gelebt und ihre Fortschritte mit massiven Geldtransfers finanziert, mit denen sie die Defizite vergrößerten. Haushaltsdisziplin wird für alle gelten müssen.
Schlimmer noch: Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise seiner Bekämpfung. In dem Moment, wo die historische Lage Marx und Engels Recht zu geben scheint, ist man bestürzt von der Abwesenheit konkreter Vorschläge von Seiten der Berufsrevolutionäre und Neobolschewiken. Jenseits der totalen Sowjetisierung der Nationen mit öffentlicher Bestrafung der Unternehmer haben sie nur abgenutzte Rezepte zu bieten: Kollektivismus und Umerziehungslager. Der Antikapitalismus ist kein Projekt, sondern eine Leidenschaft, die junge Idealisten entflammt, alte stalinistische Professoren aus eingemotteten Abteilungen der Universitäten hervor lockt und Militante mobilisiert, die mit der etablierten Ordnung abrechnen wollen. Es ist die Leidenschaft, dagegen zu sein und den "Liberalismus" zu geißeln, ein selbstgenügsames Vergnügen. Eine Attitüde der Verneinung, als wäre sie das einzige, was von den alten Prophetien geblieben ist. Das Schlimmste, was der Markt seinen Feinden antun könnte, wäre zu verschwinden! Von einem Tag auf den anderen wären sie arbeitslos. Diese Kultur der Ausschließlichkeit ist übrigens eine Eigenschaft bestimmter europäischer Eliten, während Chinesen, Inder, Brasilianer, Südafrikaner pragmatisch genug sind, ihre Kräfte zu mobilisieren, weil sie wissen, dass verschiedene Arten der Marktwirtschaft existieren, die sich in Effizienz und Gerechtigkeit unterscheiden. Was dem Sozialismus, dem Staatskapitalismus, dem sozialen Kapitalismus in ihren Ländern folgt, hat für sie überhaupt keine Bedeutung, solange die Verteilung gerechter ist und den Planeten besser respektiert. So oder so wird man es mit weniger besser machen müssen, eine beachtliche Herausforderung des menschlichen Genies.
Wir befinden uns in der selben Desorientierung wie das 19. Jahrhundert - aber ohne die Hoffnung auf eine Überschreitung der bürgerlichen Gesellschaft. Das ist das schwarze Loch der Gegenwart: Unsere Welt ist nur die, die sie ist, ohne leuchtenden Horizont. In der Gegenwart müssen wir die Lösungen suchen, ohne die Hilfe einer hypothetischen Zukunft.

  

Goldenes Kalb und Klassenkampf
Jede Krisenzeit provoziert die selben, im Brustton des besten Wissens vorgebrachten Verwünschungen, etwa die Klage über die Herrschaft des Geldes. Sie ist legitim, solange man hinzufügt, dass nicht seine Existenz, sondern seine Knappheit, die Beschlagnahme durch eine Handvoll Leute, den Skandal darstellt. Entgegen den Analysen frommer Soziologen leiden Franzosen, Engländer, Deutsche nicht an einem Sinn-, sondern an einem Gelddefizit, und das Hauptproblem der Einkünfte liegt in ihrer ungleichen Verteilung. Das Leben erhält sehr schnell seinen Sinn zurück, wenn das Portemonnaie sich wieder füllt. Geld kauft Zeit, Freiheit, Sorglosigkeit. Selbst die "Empörten" - so das neueste Label auf dem Protestmarkt - erregen sich über die ungleiche Verteilung von Erbschaften und beklagen das besiegelte Schicksal der kommenden Generationen. Unfehlbarer Test: Wer immer in der Öffentlichkeit gegen das Goldene Kalb wütet, verehrt es im Innersten seines Herzens und genießt in der Regel ein komfortables Einkommen.
Geld bleibt ja auch ein einzigartiges Mittel, um durch Arbeit persönliche Unabhängigkeit zu erlangen, es gehört zu den Accessoires des "Guten Lebens", selbst wenn es nicht damit zu verwechseln ist. Es stellt für jene, die es haben und die ohne Komplexe damit umzugehen wissen, überhaupt kein philosophisches Problem dar. Aber statt die Mehrheit zu beglücken, bleibt es den Bevorzugten vorbehalten und liegt wie geronnen in den Händen einiger weniger. Die Statusdifferenzen zwischen Wohlhabenden und Mittellosen bekommen mehr und mehr eine geradezu metaphysische Konsistenz, als würde eine unerbittliche Theologie die einen retten und die anderen zurückwerfen in die Schwärze der Nacht. Die Mauer zwischen den Gehältern stellt unweigerlich Kastengrenzen wieder her, die diesmal auf materiellem Profit und nicht wie in der einstigen Aristokratie auf Blut, Tradition, Größe beruhen. Mitleidig blicken die Plebejer von oben herab auf die Plebejer unten, die murren und mit den Füßen scharren. Das Drama ist nicht, dass einige wenige auf unerschöpflichen Goldhaufen hocken, sondern dass die Mehrheit keine Gelegenheit mehr bekommt, sich zu bereichern und ihr Los zu verbessern. Willkommen zurück in der Ära des Prekariats, in der die große Mehrheit der Bevölkerung mit Bangen auf das Monatsende blickt, sich verschuldet, mit seinem Budget nicht mehr auskommt und nichts mehr fürchtet als das Gespenst des sozialen Abstiegs. Zählen, den Gürtel enger schnallen, verzichten - man ist wieder klamm, zurück in einer Zeit des Mangels, der Improvisation, ja der Unterernährung, die man nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen wähnte. Nach der Verschwendungssucht der gloriosen Nachkriegszeit erinnern wir uns der von unseren Eltern und Großeltern gepredigten Werte: Sparen, Vorsicht, Wissen um Knappheit, das in neurotischen Geiz umschlagen kann. Keine Nahrung wegwerfen, nichts vergeuden, auf den Strom- und Wasserverbrauch achten, Müll trennen, Metalle zurückgewinnen, Papier recyceln - und so weiter.
Das Neue der Ökologie liegt nicht darin, dass sie uns für die Natur sensibilisierte - das hatte die Romantik bereits getan -, sondern dass sie die Sparsamkeit in den Rang einer Tugend erhob. Sie hat die Erde in ein System der Erbsenzählerei eintreten lassen, in dem die geringste Aktivität, bis hin zum Atmen, in Begriffen von Soll und Haben abgerechnet wird. Sie hat unsere Urmutter Gaia in ein Kleinunternehmen verwandelt, das sich jedes Jahr einer Bilanz unterziehen muss und, entkräftet, vor dem kosmischen Bankrott steht. Ironischer Weise hat diese gegen die Logik des Produktivismus gerichtete Bewegung den Krämergeist auf Weltniveau gehoben. Wider Willen erschließt sie so dem Kapitalismus neue Gewinnchancen wie in den sechziger Jahren die Hippies, die der Touristikbranche prächtige Weltgegenden öffnete.
Zu glauben, dass die soziale Frage durch die Krise verschwinden wird, ist ebenfalls ein gravierender Irrtum: Streiks, Arbeitskämpfe, Aufstände werden um so bitterer sein, als Arbeiter und Angestellte sich keine Illusionen mehr machen. Zwanzig Jahre Lohndrückerei im Namen der Vollbeschäftigung und der Gleichgewichte haben ihre Geduld aufgebraucht. Das Gespenst der Armut wird jeden dazu treiben, den Arbeitgebern und dem Staat ein Maximum an Konzessionen abzupressen. Auch der Glaube an ein Verschwinden der Egoismen zugunsten einer neuen Großzügigkeit und der Lobpreis der Armut, der man höhere Werte andichtet, gehören ins Reich der frommen Wünsche. Gewisse Solidaritäten mögen sich verstärken, aber in begrenzten Bereichen und um den Preis von Gewalt und sozialer Rache, denn die Not wird die Interessenkonflikte innerhalb der Familien, Generationen, Unternehmen und Staaten noch verschärfen. Es wird Hilfsbereitschaft geben, aber im Rahmen geschlossenen Communities, die zunächst ihresgleichen helfen. Wir werden eine brüchige und begrenzte Brüderlichkeit (? ks) erleben, die niemals die anonyme Liberalität des Wohlfahrstaat ersetzen kann.
Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist der Klassenkampf in unseren Demokratien erbitterter denn je - ein Klassenkampf, der nach den Worten des Milliardärs Warren Buffett von den Reichen ausgerufen und gewonnen wurde.

 


Kritik ist nicht Zerstörung
Dennoch werden wir die viel geschmähte Konsumgesellschaft verlassen, auch wenn mehr und mehr Bürger in ihrer Not in Billigläden kaufen, Preise überwachen und sich überdies über die Auswirkung der Produkte auf den Planeten Sorgen machen. Auch der "bewusste Käufer" ist von den Produkten besessen: Er unterzieht sie gelehrten Vergleichen, statt sich von ihnen zu befreien. Das ist ein wichtiger Wandel - aber innerhalb der Warenwelt. Die Gegenmacht der Kunden bedeutet, dass sie die Spielregeln besser beherrschen, nicht dass sie aufhören zu spielen. Was sich in unserem Alltag ausbreitet, ist ein Geist der Rechnerei, die Mathematisierung unserer Existenz. Gewiss, die ökonomische Religion der letzten dreißig Jahre reduzierte das menschliche Los auf die bloße Gier und Anschafferei, die als Modelle der Freiheit gepriesen wurden. Was ist finsterer als eine Ladenpassage, wenn sie zum einzigen Horizont für Millionen Menschen wird, was ist trister als die vielen kleinen Städte in Nordamerika und Europa, die in Wohn- und Gewerbegebiete aufgespalten sind, mit der Straße dazwischen als einzigem öffentlichem Raum? Wenn sich Shopping als Lebensstil verkauft und die Einkaufspassage der einzige kollektive Raum ist, in dem die Leute flanieren, sich treffen, heiraten, dann wird er zu trübsten aller Utopien und ertränkt uns in einer Flut aus Plunder.
Aber täuschen wir uns nicht: Kritik heißt nicht Zerstörung. Der totale Sieg der Warenwelt, die Uniformierung des Verhaltens, die Verwandlung des Menschen in einen emsigen Hamster, der nur mehr konsumiert und produziert, werden in Frage gestellt. Aber der Widerwille gegen die Exzesse der Spekulation und die Herren der Finanzwelt kommt nicht einer globalen Verweigerung gleich. Kapitalismus und Demokratie kritisiert man im Namen nicht gehaltener Versprechen. Der Markt mischt sich dennoch mit unserer Zustimmung in unser Leben, denn er begleitet die Definition des Einzelnen als ein Wesen im Aufstieg, das sich von den materiellen Zwängen löst, um sich selbst zu verwirklichen. Wohlstand ist eine Errungenschaft, deren Verlust als Trübsal empfunden wird, weil er jedem einzelnen Zeit und Kraft gibt, sich den Tätigkeiten zu widmen, die ihm gefallen. Es gibt keine materielle Entwicklung, die nicht auch geistig wäre und neue Wege bahnte. Die Lust am Komfort ist nicht obszön oder überflüssig, sondern befreiend. Denn der Komfort erlaubt eine Befreiung von der Außenwelt und der Sorge um Nahrung und Wohnung. Armut ist ja gerade die Unfähigkeit, sich vom Bedürfnis zu lösen, der Zwang, Tag und Nacht das Joch der Notwendigkeit zu spüren. Es gibt nichts Kommerzielles, das nicht auch einen Widerhall in der Seele hat, der Konsum geht einher mit der Leidenschaft, man selbst zu sein, und die Technik ist, anders als die Nostalgiker glauben, keineswegs künstlich, sondern sie ist zur zweiten Natur geworden, zur Ausdehnung unseres Nervensystems, die uns vergrößert, statt uns zu unterwerfen. Wir wollen den Markt, wenn er uns dient, nicht wenn er uns versklavt, weil wir alles opfern müssen um zu überleben. Wirtschaft und Geld müssen Mittel bleiben und dürfen sich nicht in Zwecke verwandeln, die uns ihren unkontrollierbaren Mechanismen unterwerfen.

Seid eures Unglücks Schmied
Jede Krise ruft zwei Arten von Utopien auf den Plan: Utopien der Versöhnung und Utopien der Zerstörung. Für die ersteren würde es schon ausreichen, Freundlichkeit und Milde wieder zu rehabilitieren, Häuser der Brüderlichkeit zu errichten, in großem Maßstab Fürsorge und "Care" zu praktizieren, kurz: weltweit eine Politik der Güte zu initiieren. Ohne seine Notwendigkeit in der Gesellschaft verkennen zu wollen, ist es aber nicht sicher, dass Wohlwollen allein das Verbrechen entmutigen, den Fanatiker besänftigen, den Gierigen überzeugen, den Bösen bändigen kann. Gelebte Solidarität ersetzt nicht Politik, das heißt die friedliche oder gewaltsame Durchsetzung von Konfliktlösungen und Interessen. So oder so bleibt Geschichte tragisch. Nicht Freundschaft und Liebe begründen die Gesellschaft, es ist zunächst das Gesetz, das erlaubt und straft, und dann die Höflichkeit, die Leo Strauss als "kleine Politik" bezeichnete, ein Bürgersinn, der aus Distanz und Respekt besteht und es Millionen erlaubt, zusammen zu leben, ohne sich gegenseitig umzubringen.
Die entgegengesetzte Schimäre liegt in der Faszination des Schlimmsten, die auf folgendes Axiom gegründet ist: Die Lage ist ernst, wir sollten alles tun, um sie zu verschlimmern. Wir sollten die Grenzen für alle Migranten öffnen, sagt die extreme Linke. Und die extreme Rechte antwortet in symmetrischem Irrsinn: Wir sollten die alten Nationen gegen Brüssel neu errichten, uns in unserem gallischen oder auch germanischen oder ungarischen Dorf einigeln, der Welt die Tür zuschlagen, den Euro abschaffen, das ganze institutionelle Gefüge, das über fünfzig Jahre entstand, in Stücke schlagen. Besorgniserregend ist hier die Vielfalt der Rückzugsparolen: Mit dem Argument des Schutzes pflegt man den Traum, aus der Geschichte auszusteigen, die Begrenzung aufs Lokale soll ein Aktionsfeld nach menschlichem Maß wiederherstellen. Als bräuchten wir einen Radius nach unserem Maß, der den Raum des Privatlebens kaum überschreitet. Der Klaustrophobie von gestern, die den Einzelnen im Gefängnis der Ehe, der Familie oder des Dorfs ersticken ließ, folgt heute die Platzangst, der Schwindel angesichts der Weite. Was uns nahe ist, ist in unserer Hand. Umfragen zeigen politisch pessimistische Bürger, die sich zufrieden über ihr Alltagsleben äußern.
Eine andere Variante dieser Tendenz: Die Versuchung des Rückzugs. Da einige Länder in der Rezession stecken, sollen wir die Schrumpfung mit Freuden akzeptieren. Da wir schon nichts ändern können an unserem Unglück, sollen wir so tun, als ob wir dieses Unglück wollen. Bremsen wir die Industrie, den Handel, das Verkehrswesen, stoppen wir die Atomkraft im Namen der absoluten Sicherheit, begrenzen wir den Zugang zu Autobahnen, Flughäfen, Autos, Schnellzügen, schließen wir uns ein in unsere nachhaltigen Wohnviertel. Lasst uns rein bleiben. Richten wir uns ein in stetem Mangel, solidarischer Armut, ethischer Unterentwicklung.
Eine Sache ist es, eine schwierige Lage zu bewältigen, eine andere, daraus eine neue Gesellschaft zu entwickeln. Ohne Hoffnung auf ein besseres Leben wird man die Menschen niemals mobilisieren. Man muss schon recht pervers oder naiv sein, um zu glauben, dass man sie für ein Weniger begeistern kann. Die Sorge um den Planeten reaktiviert einen alten totalitären Traum von Kontrolle bis hin in unsere intimsten Gewohnheiten: wie wir uns waschen, anziehen, heizen. Glaubt man diesen Aposteln der Askese, dann muss man zu einem radikalen Wandel, einer Revolution des Bewusstseins aufrufen: hohle und beunruhigende Parolen, die an die Slogans der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erinnern. Die Fantasie vom großen Umsturz ist ebenso vergebens wie die Idee, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen. Wie ein Tanker auf hoher See soll die Menschheit als ganze beidrehen und einen anderen Weg nehmen als den von der Aufklärung vorgezeichneten Weg von Demokratie, Pluralismus, Säkularismus, Wohlstand, und ihr Schicksal in die Hände einer eingeweihten Elite aus Weisen legen, die wissen und entscheiden. Man kann sich aber auch vorstellen, dass die Lösung genau in der entgegengesetzten Richtung läge: in der Vertiefung der revolutionären Ideen, nicht in ihrer Preisgabe.

 
Weisheit in schweren Zeiten
In der Depression dieser Tage stimmen so manche also mal wieder die alte Leier von der Askese an. Seht nur die lange Kolonne der Heuchler und Frömmler, die Rückkehr und Verzicht predigen. Sie geißeln den schuldhaften Leichtsinn unserer Mitbürger, die einfach so in Ferien fahren, ins Kino gehen, im Internet surfen und trotz der Ereignisse ausgehen und sich amüsieren, statt sich Asche aufs Haupt zu streuen. Kaum ist die Party der Industrialisierung vorbei, soll man den Gürtel enger schnallen und zu Öllampe und Pferdekutsche zurückkehren. Euren Spaß habt ihr gehabt, nun tut Buße. Aber vielleicht ist die Gelassenheit unserer Mitbürger, trotz aller Leiden, eher ein Zeichen der Weisheit. Ruhig zu bleiben in Perioden des Chaos, heißt über die intellektuellen Mittel zu verfügen, sie zu bewältigen, statt dem Kleinmut zu erliegen. Klimawandel oder nicht, unsere Zeitgenossen sind nicht bereit, auf alle Annehmlichkeiten des Fortschritts zu verzichten. Die Kosten sind exorbitant, das ist richtig, aber man bringt nicht sieben Milliarden Menschen zur Welt, ohne dass es Folgen hat. Die Auswirkungen müssen korrigiert werden, aber Rückkehr zu biblischer Einfachheit wäre ein Irrweg. Wenn die ganze Welt unseren Lebensstil annimmt, rufen die Heuchler, geht sie unter. Gewiss: aber dann muss man auch nach der Verführungskraft dieses Lebensstils fragen und zugeben, dass er Milliarden Menschen offenbar erstrebenswert scheint. Wir dürfen in Erwartung künftiger Fortschritte nichts von den erreichten preisgeben.
In Japan, so sagt uns die Presse, wandte man sich nach dem Tsunami von 2011 und der Tragödie von Fukushima wieder dem Luxus zu, suchte gegen die Grausamkeit der Natur nach Schönheit und Dauer. Nicht die Kargheit sollte man predigen, sondern die Entdeckung neuer Reichtümer und Herrlichkeiten. Angesichts des Zitterns und Bangens neue Quellen der Schönheit und des Geistes erschließen. Die Befreiung von der materiellen Not ist nur eine der Bedingungen der Freiheit, aber sie erschöpft sie nicht. Während die Börsen zusammenbrachen, gingen die Franzosen öfter denn je ins Kino. Die Museen sind voll. Der Literatur und dem Theater geht´s nicht so schlecht. Niemals hat man mehr gelesen als in dem Moment, in dem das Buch selbst gefährdet zu sein scheint. Niemals mehr bewundert, applaudiert, geträumt, geschaffen als in diesem Moment der Depression. In Zeiten der Knappheit setzt das Wesentliche sich durch: Kultur, Freundschaft, Lust. Es bleibt auf unserem alten Kontinent etwas von jener Douceur de vivre, um die andere Völker uns beneiden können, eine Lust, die persönliche Freiheit mit einer Zivilität des Umgangs zu verbinden, eine Lebenskunst, die auf dem besten Erbe von Jahrhunderten beruht. Vergnügen und Fröhlichkeit tragen wohl mehr zur Zivilisierung der Menschheit bei als Trauer und Prüderie. Begrüßen wir die demografische Vitalität der Franzosen, die bei einem angeblich so deprimierten Volk einen schönen Vertrauensbeweis darstellt. In schwierigen Zeiten sind Heiterkeit und Leidenschaft die beste Antwort aufs Unglück.
Die großen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts - 1936 in Frankreich, dann 1945 und 1968 - bestanden nie allein in Umverteilung, sondern brachten der großen Masse eine neue Lebensqualität: Freizeit dank bezahlter Urlaube, sexuelle Befreiung, Kultur für alle, günstige Reisemöglichkeiten: ein verwandelter Alltag. Eine Gesellschaft ist um so dynamischer, je mehr sie Lebensentwürfe ermöglicht, die nicht allein durch das Vorbild der Vermögendsten geprägt sind, je mehr sie Modelle finanziellen mit solchen sozialen Reichtums in Konkurrenz setzt. Das Geld muss ein Trampolin bleiben, keine Fessel und erst recht keine Mystik. Die großen Momente der Emanzipation waren jene, wo der gerade geltende Konformismus durch neue Formen der Gemeinschaft abgewertet und Bürgerlichkeit in Frage gestellt wurde. Entdeckung von Glücksformen, die mit Geld nicht zu bezahlen sind, Festhalten am alten revolutionären Traum vom Luxus für alle, von der Schönheit für die Ärmsten. Luxus liegt heute in allem, was sich rar macht: im Einswerden mit erhaltener Natur, dem Kult der Stille, der Lust am Lesen, der gewählten, aber nicht auferlegten Langsamkeit, der Lust, unzeitgemäß zu leben, des Lernens in Muße, der sexuellen Lust in allen Formen - alles Privilegien, die den meisten Menschen in der westlichen Welt zugänglich sind und der Logik der Akkumulation widerstreben. Profitstreben wird nicht verschwinden und ist übrigens notwendig, aber es sollte durch andere Formen des Erfolgs relativiert werden. Jeder kann in seinem Leben unterschiedliche Sehnsüchte verwirklichen, je nach Zeit und Alter. Man muss sich nicht von steriler Geschäftigkeit anstecken lassen. Man kann sich befreien von gesellschaftlich gewollten Nichtigkeiten, die Grenzen des Notwendigen und Überflüssigen selbst verschieben, Pracht suchen, wo andere nur eitle Vergeblichkeit sehen, oder Kargheit, wo andere die Opulenz feiern. Es geht nicht darum sich einzuschränken und Trübsal zu blasen, wie es eine ganze Schule der Zerknirschung heute predigt, sondern darum, Glück zu suchen, wo es gemeinhin nicht unbedingt vermutet wird. Man kann aufgeben, was nicht notwendig ist, um anderswo dem Tand zu huldigen. Vorausgesetzt man respektiert die Grenze zwischen Öffentlich und Privat, diese Errungenschaft des Liberalismus, die viele Wohlmeinende heute im Namen der Transparenz und der Moral einreißen wollen. Zwei Mächte sind heute gleichermaßen zu fürchten: die des stets inquisitorischen Staats und die der auf Medien und Internet gestützten öffentlichen Meinung, die jeden zur Beute aller macht. Der lauernde Staat und das Geschwätz der Medien können sich vereinigen, um Einzelne bei der kleinsten Abweichung der Lynchjustiz auszusetzen.
Jeder kann für sich selbst entscheiden, von welchem falschen Glanz er sich befreien will. Verzichten, seine Freiheit dem Komfort und Status vorziehen, eine weitherzigere Existenz wählen, statt sich mit Objekten zu umstellen, um Angst und Tod abzuwehren. Der wahre Luxus - aber alles "was kostbar ist, ist auch schwierig und selten" (Spinoza) - liegt in der Erfindung des je eigenen Lebens, in Freundschafts- und Liebesverhältnissen zu einigen wenigen wesentlichen Personen und in der Fähigkeit zu staunen. Das Geheimnis des guten Lebens ist es vielleicht, sich zu entwickeln ohne zu verzichten, einige Vergnügen aufzugeben um neue zu entdecken und sich niemals ins Unvermeidliche zu finden. Das Wissen um seine Grenzen - man soll eher seine Begierden als die Ordnung der Welt bezwingen, sagt Descartes - darf nicht Synonym der Abdankung sein. Glück wird immer in der Vervielfachung der Leidenschaften und Bindungen, nicht in ihrer Austrocknung liegen. Wer diese Lehre aus dem Sturm zieht, ist vor Depression gefeit.

 

Einrichtung in der Niederlage
Wäre die Krise nur materieller Natur, würden wir sie bewältigen. Finanzielle und ökonomische Probleme lässt man immer irgendwann hinter sich. Aber sie ist geistiger Art und rührt an die Fundamente eines an zwei Hauptübeln krankenden Europas: Angst und Larmoyanz. Es hat über sich selbst so eine klägliche Meinung, dass es sich nicht traut, seine Konstruktion zu vollenden. Seit vierzig Jahren scheitert es daran, sich eine solide Struktur, eine Diplomatie, Verteidigung und Regierung zu geben. Es ist eine Krankheit an der Seele, nicht an der Gemeinschaftswährung, die es durchmacht. Was ist in Europa fehl gelaufen, dass es sich in jeder schwierigen Phase mit den selben Dämonen konfrontiert sieht: dem Zweifel, der Müdigkeit,dem Selbsthass aus einer allzu blutigen, allzu schwer zu ertragenden Geschichte? Wie soll der Rest der Welt Europa lieben, da es sich selbst nicht liebt und nicht aufhört sich zu geißeln und mit den schwersten Vorwürfen zu überhäufen? Die Technik fügt dem ein weiteres Element hinzu: Die Angst erwächst aus unserer eigenen Erfindungskraft. Die Werkzeuge unserer Herrschaft über die Welt können uns entgleiten und gegen uns gekehrt werden. Aber der Tragödie des Optimismus, der blendet und Gefahren verkennt - „die Optimisten kamen nach Auschwitz, die Pessimisten nach Beverly Hills“, hatte der geniale Billy Wilder mal gesagt - entspricht ein Pessimismus, der immer das Schlimmste anvisiert und in dem es sich die privilegierten Völker gemütlich machen. Vorgestellte Gräuel werden so zu einem wunderbaren Vorwand für Untätigkeit. Die Rekorde der Melancholie, mit denen die Franzosen seit einigen Jahren die Nigerianer, Ghanaer oder Vietnamesen schlagen, haben etwas Bestürzendes. Wir flennen zu laut, als dass es noch glaubhaft wäre.
Uns geht´s schlecht, aber anderen geht´s besser. So die heiter verblüffte Erkenntnis der Inder, Chinesen, Brasilianer, Afrikaner seit zwanzig Jahren: Während wir uns unter der Last der Vergangenheit beugen, entdecken sie ihre Fähigkeit, dem Elend und der Unterentwicklung zu entkommen. Ihre Geschichte ist nicht mehr die eines erlittenen, sondern die eines überwundenen Schicksals, auch wenn viel zu tun bleibt. Wer immer in den letzten dreißig Jahren in diese Regionen reiste, wird von der ungeheuren Revolution frappiert sein, die diese Völker vollführt haben, um den Missständen zu entfliehen. Möglich, dass der Hegelsche Weltgeist Europa und Amerika verlassen hat, um sich irgendwo zwischen Schanghai, Bombay, Sao Paolo und dem Kap der guten Hoffnung niederzulassen. Möglich auch, dass unsere Faszination für die Katastrophe nur das Symptom unserer Erschöpfung ist. Möglich schließlich, dass Europa sich auflöst und den nationalen und regionalen Egoismen anheim fällt. Dann wäre es stets nur ein Wille zum Aufbau gewesen, mehr eine Absicht als ein Resultat, eine ewige Skizze, die ihre Vollendung nie erreicht, ein Turm zu Babel, von dem die erschöpften Baumeister ablassen.

Die Kräfte der Globalisierung vorzuschützen, um nichts zu tun, wäre die schlimmste Art der Selbstaufgabe: So gering der Handlungsspielraum sein mag, er existiert. Wir könnten uns von jenen Überseenationen inspirieren lassen, die auf Not mit Tatkraft reagierten in der verrückten Hoffnung, nach Jahren des Chaos wieder oben anzukommen - wie Argentinien es vormacht. Europa stand seit 1945 unter einem unausgesprochenen Vertrag: ein bisschen weniger nationale Souveränität gegen ein bisschen mehr internationale Macht. Der Vertrag ist nicht erfüllt worden: Europa hat weniger Vaterland, weniger Union und weniger Einfluss. Es wollte Macht und Gerechtigkeit aufhäufen und hat nur Ohnmacht mit Ungerechtigkeit multipliziert, selbst wenn die Sozialsysteme in Resten noch funktionieren. Wir stehen mitten in der Furt, unfähig rückwärts oder vorwärts zu gehen. Wir treiben in unserer eigenen Entschlusslosigkeit vor uns hin. Die alte Welt wird zur leeren Abstraktion, die langsam an einer Mischung aus Moralismus und Merkantilismus vergeht, weil sie sich nicht mehr zu ihrer alten Rolle aufschwingt. Aufstände erschüttern so viele Hauptstädte, Milliarden Menschen befreien sich langsam unter großen Verlusten aus Ungerechtigkeit und Hunger, und Europa verkriecht sich in sein Schrebergärtchen und kapituliert. Groß war es nur, als es über sich hinaus wuchs. Heute erscheint es wie eine Schnecke, die nicht von ihrem Haus lassen kann.
Eine von Angst besessene Gesellschaft schafft unweigerlich, was sie fürchtet: Lähmung. Schwächegefühle drücken sich in unterschiedlichen Epochen unterschiedlich aus. Aber selten hat man wie in der Gegenwart Innovation an sich als gefährlich angesehen und aus Verhinderung eine Tugend gemacht. Man kann die menschliche Aktivität nicht auf die Beschwörung aller denkbaren Gefahren beschränken. Je umfassender der Schutz, den man sucht, desto gestaltloser die Risiken, die überall zu drohen scheinen. Im medizinischen Bereich etwa wächst die Furcht vor schweren Krankheiten parallel zu den Fortschritten der Wissenschaft. Was die Sorge begrenzen soll, stärkt nur ihr Regime. Von der Ernährung über die Handys, die Funkwellen und die Luft, die wir atmen. Das Reich der Technologie scheint bewohnt von bösartigen Geistern und raffinierten Giften, die nur auf unsere Vernichtung aus sind. Wir fürchten die Dinge, die aus unseren Händen kommen und sich gegen uns wenden. Eine veritable Philosophie der Angst tritt hier als Weisheitslehre auf und versetzt uns in ein post-technologisches Mittelalter mit seinen kollektiven Wahnschüben. So schwanken wir, wie es De Gaulle über das Frankreich des Jahres 1958 sagte, zwischen "Drama und Mittelmaß".

Die Werkzeuge unserer Befreiung fangen an uns zu bedrücken: Kritischer Geist wird zu Selbstgeißelung, Individualismus zu kindischem Spiel der Launen, Hedonismus zu ständiger Angst vor Schmerz, Toleranz zu Duldung des Fanatismus, Offenheit gegenüber anderen zu Selbstverleugnung, Fortschrittsliebe zu Angst vor Neuem. Das Recht selbst, Grundlage allen sozialen Fortschritts, wird zum Reich der Klagen, eine riesige Armee von Jammerlappen angeführt von ganzen Kohorten von Anwälten. Die Unfähigkeit, das beste aus seinem Los zu machen, mag bei uns modern sein. Und unsere Demokratien nähren eine Unzufriedenheit, die sie niemals werden sättigen können. Indem sie das Wohlleben zur Norm erklären, machen sie den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit noch unerträglicher und verschärfen die Ungeduld. Wir verdienen, dass es uns immer besser geht. Das Hindernis, die Anstrengung sind nicht mehr der normale Prüfstein auf unserem Weg der Selbstverwirklichung, sondern eine persönliche Beleidigung, für die uns Schmerzensgeld zusteht. Teufelskreis der Zivilisation: Mit ihrer Unglücksallergie verwischt sie die Grenze zwischen Normalität und Leiden und verdoppelt das Unglück in seinem Versuch, es zu beheben. Die kleinsten Unannehmlichkeiten werden in den Rang einer Tragödie erhoben. Der geringste Widerstand gegen die Erfüllung unserer Wünsche ist ein Skandal. Verglichen mit den früheren Generationen ist die Schmerztoleranz in den reichen Ländern beträchtlich gesunken (ein Immigrant ist einer, der vor Schwerarbeit nicht zurückschreckt). Kraftlos angesichts der Widrigkeit verfallen wir in eine Klage, die das Symptom verbreitet, das uns schreckt und das Fatum beschleunigt, dem wir entgehen wollen. In Europa halten sich viele große Geister für hellsichtig, die nur verdrießlich sind.


Für einen aktiven Skeptizismus
Mag sein, dass die Idee des Westens - ein offener Individualismus in einer Gesellschaft der Gleichen, die selbst wieder in eine demokratische Ordnung eingebettet ist - unexportierbar ist und ihren Geburtsort nicht verlassen wird. Schon versuchen China und viele muslimische Länder uns zu beweisen, dass materieller Wohlstand ohne verfassungsmäßige Freiheiten, Gleichheit von Mann und Frau und die komplexen Verfahren eines pluralistischen Regimes auskommen kann, die als westliche und imperialistische Werte abgetan werden. Die Marktwirtschaft soll also ohne Demokratie und die Infragestellung von Tradition triumphieren, die sie eigentlich voraussetzt. Die technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Globalisierung ist durchgewunken. Die Globalisierung der Demokratie hinkt hinterher. Freie Wahlen bringen die finstersten Feinde des Parlamentarismus an die Macht. Die arabischen Aufstände, deren Beharrlichkeit solche Bewunderung abnötigte, waren am Ende womöglich nur der Umweg des fundamentalistischen Islams auf seiner Welteroberung. Nach Jahrhunderten des Niedergangs führt er sich immer noch wie ein Besiegter auf, der nur Revanche will und seinen Zeloten eine starke Dosis Ressentiment einimpft. Zum Glück ist die Religion des Propheten in Sunniten und Schiiten aufgespalten, und man sollte nicht müde werden, dieses Ursprungsschisma zu vertiefen. Man könnte über den Islam sagen, was François Mauriac einst über den deutschen Nachbarn sagte: Man liebt ihn so sehr, dass man gerne mindestens zwei davon hat. An jenem Tag, an dem der Islam mindestens so viele Spielarten zulässt wie das Christentum und er akzeptiert, eine Religion unter anderen und nicht die einzig wahre zu sein, wird er aufhören jene Gotteswut zu verbreiten, die so vielen Menschen - und an erster den moderaten Muslimen - Sorge bereitet. Ein Gott nach dem Herzen ist einem Gott nach den Riten mit seinem gnadenlosen Proselytentum vorzuziehen. Davon sind wir leider weit entfernt. Es wird eine der großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts sein. Die Vereinigten Staaten stellen dem Islam den Schutzschild ihrer viele Kirchen entgegen, Europa hüllt sich in die Daunendecke seines Unglaubens. Ob sie den Feuersturm des Predigertums abhalten wird, ist noch nicht ausgemacht. Es ist an uns, andere Kulturen zu überzeugen, dass die Befreiung der menschlichen Wesen ein interessanteres Menschheitsabenteuer darstellt als das Festhalten an Verboten und Dogmen. Zeigen wir, dass genau das, was traditionellen Gesellschaften als amoralisch erscheint, eine Chance ist - eine ungeheure Erweiterung unserer Fähigkeiten. Freiheit ist ein Vorschlag, kein Dekret.
"Jedes Mal wenn mein Denken sich verfinstert und ich an Europa verzweifle, gewinne ich meinen Mut erst mit dem Gedanken an die Neue Welt zurück", schrieb Paul Valéry im Jahr 1931. Seit dem 11. September verzweifeln viele an Amerika, seiner Kultur der Paranoia, dem aggressiven Militarismus und grotesken Frömmlerei. Die Rechtfertigung der Folter durch gewisse Eliten, das Schlamassel im Irak und in Afghanistan, die Arbeitslosigkeit, die Deklassierung der Mittelschicht, das skandalöse Wachstum von Armut und Gefängnisbevölkerung, die soziale Undurchlässigkeit, die Bevorzugung der Erben vor den Innovatoren, die Straflosigkeit der für die Subprime-Krise Verantwortlichen, die arrogante Herrschaft einiger Superreicher ziehen diese große Nation nach unten. Aber noch ist nicht alle Hoffnung verloren: Der grundlegende Optimismus des amerikanischen Volks, seine stete Erneuerung durch Immigranten, die Tatsache, dass dieses Land durch seine Vielfalt zum Abbild des Planeten wird, sein Zukunftskult, die Überzeugung, die Heimat aller Beladenen zu sein, lassen eine Wiederauferstehung nicht unmöglich erscheinen. In seinen besten literarischen, musikalischen und kinematografischen Schöpfungen war Amerika unmittelbar und für das ganze Menschengeschlecht zugänglich. Mag sein, dass dieses Wunder weitergeht. Ob man es will oder nicht - es ist die amerikanische Soft Power, die träumen lässt, auch wenn sich dieser Traum manchmal in einen Alptraum verwandelt. Weder China, noch Russland, noch die Türkei erfinden die große Erzählung für morgen. Auch Bollywood hat Hollywood nicht verdrängt, die beiden koexistieren aufs beste. Solange die Vereinigten Staaten das große narrative Laboratorium der Welt bleiben, solange ihre Mythen von einer Mehrheit angenommen werden, haben sie ein Chance, sich wieder aufzurichten, auch wenn sie sich die Führung der Welt mit China teilen müssen.
Was unser gutes altes Europa angeht, so legt es eine verblüffende Entschiedenheit an den Tag, nicht zu existieren,nicht zu zählen und hat damit großen Erfolg. Es ist wie ein Paar Verlobte, die sich niemals zur Hochzeit durchringen und lieber in einem emotionalen Zwischenreich leben. Gleich Melvilles Bartleby sagt es: "I would prefer not to". Es könnte in eine seltsame Lage geraten, in der es zugleich zum Verkauf steht und dem Vorwurf ausgesetzt ist, ein Empire gewesen zu sein. Zugleich Stück für Stück von den neuen Finanzmächten geschluckt zu werden und des Kolonialismus oder Postkolonialismus angeklagt zu werden, das wäre das Schlimmste: Als Hegemonialmacht behandelt zu werden, während man sich schon beherrscht fühlt. Entweder findet es seine Selbstachtung wieder, oder es wird von den neuen Haien zerlegt, die sich seine Häfen, Denkmäler, Wälder, Industrien einverleiben. In diesem Punkt wäre ein Dialog mit Mittel- und Osteuropa angeraten, das lange unter dem Joch unterschiedlicher Eroberer lebte und eine größere Widerstandskraft hat. Wir haben sehr viel von unseren tschechischen, ukrainischen, rumänischen, polnischen Cousins zu lernen, mindestens so viel wie sie von uns. Zwischen einem brüchigen Westen mit wucherndem Gedächtnis und einem zähen Osten, der manchmal verdrängt, sollte das Gespräch nicht aufhören, selbst wenn die einen oder andren zuweilen den alten Dämonen anheim fallen. In diesem Fall kann sich auch das Desaster als fruchtbar erweisen, wie ein guter Lehrmeister, der uns weckt. Wir können die gegenwärtige Depression noch in eine Renaissance verwandeln und dem von zu vielen Skrupeln und Ängsten heimgesuchten Europa die Pforten der Zukunft öffnen. Wie grausam das Schicksal auch sein mag, man muss auf seiner Höhe sein. Selbst im Zustand des Verschwindens und Bedeutungsverlusts kann Europa die Welt bereichern. So wie das von Rom vernichtete Athen seinen Bezwinger zu erobern und zivilisieren wusste.
Es gibt diese rituelle Frage: Welche Welt werden wir unseren Kindern hinterlassen? Man muss sie neu formulieren: Welche Kinder müssen wir formen, damit sie in der unvollkommenen Welt von morgen bestehen können? Welche Werte und welche Fähigkeiten sollen wir ihnen weitergeben? Die schlimmste Erbschaft, die wir unseren Kindern hinterlassen können, ist unsere Ängstlichkeit und Desillusionierung. Wir müssen sie für die kommenden Schwierigkeiten rüsten, ihnen ein "interesseloses Wohlgefallen" an Wissen und an Vertrauen in die Macht der Zeit mitgeben. Den Predigern, Spekulanten und Superstars, die heute triumphieren, sind Erzieher, Forscher und Unternehmer entgegenzustellen. Größe der Bildung, Kühnheit der Forschung, Mut der Innovatoren sollten ins Licht gesetzt werden. Eine Gesellschaft, die nur ihre Vergangenheit kriminalisiert, die Geisteswissenschaften aufgibt, Allgemeinbildung verachtet, Finanz- und Rechtsmetiers denen der Wissenschaft und Industrie vorzieht, ist schlecht positioniert. Wir leben sehr wohl am Ende einer guten Zeit, die so nicht wiederkommen wird, aber in dieser bittersüßen Dämmerung zeichnen sich womöglich die Konturen eines neuen Welt ab, die wir erfassen müssen.
Im Sturm, den wir durchqueren, brauchen wir ein Fanal. Dieses Fanal liegt mehr denn je in den Werten der Aufklärung: Vernunft, Erziehung, Freiheit des Geistes, Mitleid mit den Schwachen, Hass auf Fanatismus, Armut, Sklaverei. Nur dieser Kompass kann die Alte Welt aus ihrem geistigen Koma führen. Sollte das Europa der 27 einstürzen und die schwächsten Nationen der Anarchie und dem Bürgerkrieg überlassen - dann muss es neu beginnen, zu zweit, zu fünft zu acht, unter Vermeidung der alten Fehler. Wir haben keine Wahl. Unsere Haltung zu Griechenland ist in dieser Hinsicht ein Präzedenzfall: Manchmal rettet der völlige Schuldenerlass die Gläubiger so sehr wie die Schuldner. Ein brennendes Griechenland, das gegen Brüssel und Berlin aufgebracht wäre und die Retter als Henker sähe, könnte ganz Südeuropa anstecken wie einst der serbische Nationalismus. Einen neuen Balkankrieg können wir uns nicht leisten. Neben der elementaren Pflicht zur Solidarität mit dieser Wiege Europas, die auch sein Grab werden könnte, handelt es sich auch um unser wohl verstandenes Eigeninteresse. Geben wir dem griechischen Volk seine zweite Chance, ohne es auszuhungern und über Jahre mit debilen Sparmaßnahmen zu demütigen. Dann muss es die notwendigen Reformen ergreifen und sein Schicksal in die Hand nehmen.

Wie desorientiert sie auch immer sein mögen: Die westlichen (aber auch asiatischen, südamerikanischen, afrikanischen) Demokratien müssen ihre Verbindungen stärken und Lasten gemeinsam tragen. Sie sind im Besitz eines unendlich verderblichen und fragilen Schatzes: der Menschenrechte. Sie sind verantwortlich für das Überleben der Demokratie selbst, Wächter ihrer Werte. Sie müssen aus dem subversiven Reichtum ihrer Ideen und der Vitalität ihrer Grundsätze neue Energie schöpfen. Niedergang ist keine Fatalität: Man muss stets auf die Größe des Menschen setzen, seine Fähigkeit, die Gefahren zu bewältigen. Keine Schwierigkeit ist in sich unüberwindlich, nur den Sinn für Proportionen darf man nicht verlieren. Der melancholischen Skepsis, die die Geschichte als ein Trümmerfeld sieht, gilt es eine aktive Skepsis entgegenzusetzen, die unsere Grenzen erkennt, ohne den Willen zur Reform aufzugeben. Weder Verzweiflung noch Glückseligkeit, sondern ewiges Erstaunen darüber, dass wir uns permanent an verschiedenen Fronten bewähren müssen. Steriler Niedergeschlagenheit wäre eine wache Unruhe vorzuziehen, die die Tür des Handelns offen hält. In gewisser Hinsicht ist diese Prüfung das beste, was uns passieren kann, in ihre erweist sich unsere Widerstandskraft. Wir haben die Wahl zwischen Aufstieg oder Niederlage.

Aus dem Französischen von Thierry Chervel

 

 

Pascal Bruckner, * 1948 in Paris, studierte an der Sorbonne und ist französischer Autor. Als Vertreter der Nouvelle Philosophie bekannt geworden durch u.a. Die neue Liebesunordnung (1979) und Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die Dritte Welt. Eine Polemik (Rotbuch 1984). Zuletzt erschien von ihm Le fanatisme de l'Apocaypse. Sauver la Terre, punir l'Homme, (Grasset-Fascelle 2011)

 

© Im Rahmen des tazlabKongress über das Gute Leben in Berlin (Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin-Tiergarten) sprach Pascal Bruckner über den Fanatismus der Apokalypse - Titel seines letzten, bisher nur in Frankreich erschienenen Buchs. Einige der darin erörterten Themen greift er auch in seinem Essay Wege aus dem Schlamassel auf, der am 09.04.2012 erstmals auf deutsch in perlentaucher.de erschien. - Foto: famme.ro








 



 

 


 

 

 

 

 

 



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