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Peter Becher – Der Löwe von Vyšehrad

 


Peter Becher, Der Löwe vom Vyšehrad

209 Seiten, geb., 19,80 Euro

Verlag Karl Stutz, Passau 2012, ISBN: 978-3-88849-066-8

 

 

 

 

 

 

 

 

von  Katja Schickel

 

 Denken heißt überschreiten - Ernst Bloch

 

 

Peter Becher, 1952 als Sohn einer Steiermärkerin und eines Sudentendeutschen in München geboren, wurde in seiner Jugend schon gerne mal der „Sudeten-Becher“ genannt, ein Titel, der in Zeiten, in denen in der alten Bundesrepublik um die neue Ost-Politik der Sozialdemokraten, allen voran des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt, erbittert gestritten wurde, durchaus abfällig gemeint war. Man bekämpfte mit diesem Begriff wohl auch den Vater, den aus Karlsbad / Karlovy Vary gebürtigen Vertriebenen- und CSU-Politiker Walter Becher, der sich vehement gegen diese Entspannungspolitik wandte.

Mit Der Löwe von Vyšehrad liegt nun ein Band mit Reden, Feuilletons und Essays vor, die - meistens in den 1990er und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends verfasst - Bechers Denken veranschaulichen und seine politischen und literarischen Prägungen sowie emotionalen Bindungen an Menschen und Orte zeigen. Sie führen uns in die europäischen Wendejahre ab 1990, lassen uns noch einmal teilhaben an der Umbruchstimmung der Jahre nach der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei, dem Hochgefühl von wiedergewonnener Freiheit, Hoffnung auf grundlegende Veränderung und dem glücklichen Bewusstsein, in einem wichtigen Moment der Geschichte, der die zukünftigen Geschicke ganz Europas bestimmen würde, dabei gewesen zu sein. Auch erstes Innehalten und Zweifel am eingeschlagenen Weg werden nicht verleugnet, die Ernüchterung darüber, wie zählebig Extrempositionen und Maximalforderungen sind und wie lange sich eingefahrene Strukturen halten können. Schon ein unachtsames Wort kann verheerende Auswirkungen haben. Arroganz und falscher Stolz, Unnachgiebigkeit und Eigennutz sind ernstzunehmende Gegner und Feinde von Annäherung und Aussöhnung. Dies betrifft in Bechers Texten natürlich vor allem das Verhältnis der Tschechen und der Deutschen zueinander. Die Zusammenarbeit, die im kleinen Grenzverkehr sozusagen zunehmend funktioniert, kommt im Großen und Ganzen häufiger ins Stocken; es herrscht oft Stillstand trotz scheinbarer Bewegung.

In Zeiten, da Europa bedroht ist von Gegnern, die das Feuer aus Vorurteilen und Ressentiments schüren, um darauf ganz ungeniert ihre nationalen Süppchen zu kochen, ihre politischen, vor allem aber ökonomischen Partikularinteressen vertreten, uns Scheinkrisen (Stichwort: Währungskrise) und Scheinlösungen (Stichwort: Banken-Rettungsschirme) anbieten, könnte die Erinnerung an das gefeierte Ende des - durch 2. Weltkrieg und darauf folgenden Kalten Krieg - gespaltenen Europas neue Orientierung geben. Die Rückbesinnung dient der Selbstvergewisserung und weist darüber hinaus ganz unspektakulär und eher zwischen den Zeilen auf die Notwendigkeit einer weiter reichenden europäischen Utopie.

Es geht Becher nicht um Gleichmacherei, sondern um gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung von Sichtweisen, die nicht die eigenen sind. Das klingt banal, ist aber oft schon zwischen einzelnen Individuen schwer zu bewerkstelligen. Wie jeder Mensch hat auch jedes Land seine Eigentümlichkeiten, seine Geschichte und Traditionen, auf die es sich beruft. Das Bild des Anderen ist immer eine Projektion und verkommt oft zum Zerrbild, zur bloßen Karikatur.

„Wechselt einmal eure Position“ - das ist der scheinbar einfache Zuruf, der sich durch alle Texte Bechers zieht, wohl wissend, wie schwierig dieses Unterfangen im Einzelfall ist: „So kommt es, dass Sudetendeutsche und Tschechen ihre gemeinsame Geschichte der vergangenen 150 Jahre extrem gegensätzlich wahrnehmen und die anderen nicht als Landsleute empfinden, die es zu verstehen gilt, sondern als Feinde, gegen die man sich wehren muss.“ Schließlich findet sich nur in ihnen „Hässlichkeit, Bosheit und Dummheit“ verkörpert. Allerdings wurde von Sudetendeutschen (sudetý) vermehrt erst in der 1. Tschechischen Republik gesprochen, alle Deutschen dann durch die Nazi-Besatzer unter diesen einen Begriff subsumiert. 

Becher ist Mitglied des tschechischen PEN-Klubs, des Beirats für das deutsch-tschechische Gesprächsforum, der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie korrespondierendes Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts von Oberösterreich, darüber hinaus in der SPD und der sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde aktiv sowie Unterstützer des Zentrums gegen Vertreibungen. Seine Position ist nicht eine zwischen den Stühlen, es ist keine Zerreißprobe, der er ständig ausgesetzt ist, auch wenn ihn harte Parolen von politischer Seite in Tschechien wie auch von Vertriebenen-Verbände und Sudetendeutschen Landsmannschaften und Verdrängungen auf beiden Seiten ärgern können und ihn immer wieder intervenieren lassen. Er relativiert auch nicht, spielt nicht ein Verbrechen gegen ein anderes aus, vergleicht nicht, was nicht zu vergleichen ist. Dennoch möchte er die Vertreibung der Deutschen nicht als zwar inhumanes, rechtlich bedenkliches, aber notwendiges Übel unter den Tisch fallen lassen. Becher möchte das Rad der Geschichte weder zurückdrehen noch aufhalten. Er kennt die jahrhundertealte Geschichte der Tschechen, der Deutschböhmen und -mähren, die 1. Tschechische Republik, das Prag der deutschen Emigranten ab 1933, die Situation der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen 1938, die Schrecken und Grausamkeiten während der deutschen Okkupation, die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung bereits ab 1933, ihre Deportation von 1941 an nach Theresienstadt und von dort in die Vernichtungslager.

Aus einer Familie mit Vertriebenen stammend (aus der Tschechoslowakei waren es rund drei Mio., insgesamt etwa zwölf Mio. Flüchtlinge und Vertriebene, die nach dem Krieg in die vier Alliierten-Zonen Deutschlands verteilt wurden), kennt er von Kindesbeinen an die individuellen Erzählungen der Vertreibung, das viel zu seltene, aber existente Eingeständnis eigener Schuld, aber auch ihr viel häufigeres Verdrängen; das Schweigen über die Verluste, aber auch das Aufrechnen des Leids; schließlich die völlig inakzeptable Leugnung und Schuldverschiebung auf andere, die unnachgiebigen Positionen von Parteien, Verbänden und ihren Funktionären in Deutschland. Da Täter immer ein viel kürzeres Gedächtnis haben als ihre Opfer, die mit ihren Traumata leben lernen müssen, begegnet er der tschechischen Seite mit Respekt und ohne Vorbehalte. Er möchte zuhören und verstehen lernen, die Menschen, ihr Leben, ihren Alltag. Ihn interessiert die tschechische Kultur, er lernt tschechische Schriftsteller kennen, bringt sie mit deutschen zusammen. Erstmals 1990 kommen auf Einladung des Adalbert Stifter-Vereins mehrere tschechische Schriftsteller nach München, für einige ist es nach mehr als zwanzig Jahren die erste Auslandsreise, neben Lenka Procházková kommt auch Ludvík Vaculík, nach dem Ende des Prager Frühlings, den er mit seinem legendären Aufruf 2000 Worte mit initiiert hatte, einer der prominentesten vormaligen Dissidenten. Nach 1989 kann Becher endlich auch die Landschaften jenseits des Eisernen Vorhangs entdecken; er wandert mehrmals auf den Spuren Adalbert Stifters, über den er immer wieder geschrieben hat. Den gleichnamigen Verein in München leitet er seit 1986 als Geschäftsführer. Seine Streifzüge führen ihn natürlich zum Stifter-Obelisk am Plöckensteiner See /Plešné jezero, der bis 1990 in militärischem Sperrgebiet steht. Becher beschreibt mit viel Sinn für komische Details das aktuelle Geschehen, mischt es mit Zeitgeschichte, dem Werk Stifters und eigenen Naturbetrachtungen. Er verteidigt Stifter gegen die Eingemeindung ins Germanisch-Deutsche und kann an anderer Stelle konzis den Niedergang der Kultur gerade anhand des Sprachgebrauchs nachweisen. Er verfasst dichte Portraits u.a. des ehemaligen Botschafters in Deutschland František Černý, des Psychologen Petr Příhoda, der Übersetzerin Christa Rothmeier und des bereits erwähnten Schriftstellers Ludvík Vaculík. Immer steht die Begegnung mit ihnen im Mittelpunkt, entfaltet sich ihre Persönlichkeit durch die Schilderung ihres Werdegangs, ihres Handelns und die unaufdringliche Beschreibung ihrer Gesten und Sprechweisen. Becher kann einen Sachverhalt präzise auf den Punkt bringen, legt aber auch Wert auf das Atmosphärische, die Impression, was den Sammelband trotz des durchaus schwierigen Themas zu einem Lesevergnügen macht. Er hält die - hier abgedruckte - Laudatio auf Max Mannheimer, der 1920 im nordmährischen Neutitschein / Nový Jičín geboren, die Shoah überlebte und als Zeitzeuge für eine gemeinsame Zukunft stritt und stellt Volkmar Gabert vor, einen bedeutenden sudetendeutschen, in Vergessenheit geratenen Sozialdemokraten.

Becher kann sich in die - bis heute manchmal äußerst komplizierten - tschechisch-deutschen Befindlichkeiten einfühlen und sie gleichzeitig genau analysieren. Die sudetendeutsche Problematik ist für ihn eingebettet in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, sie hat humanitäre Aspekte, staatsrechtliche und politische Implikationen, die seiner Meinung nach auf verschiedenen Ebenen erörtert werden sollten: von VertreterInnen der Regierungen beider Länder, soweit es Gesetze und staatliche Vereinbarungen betrifft; von Parteien, nicht-staatlichen Organisationen und Verbänden, soweit gesellschaftliche, vor allem bürgerschaftliche Belange tangiert sind. Es geht Becher darum, Geschichtsklitterung zu verhindern mithilfe von Aktivitäten, die Verdrängung oder Leugnung historischer Schuld nicht länger zulassen. „ [D]ass eine Verständigung über die Verletzungen der Vergangenheit nur möglich ist, wenn auch die Würde der anderen geachtet wird, und dass dies umso notwendiger ist, je vielfältiger Schuld und Unschuld vermischt sind, je schwieriger es ist, Leidtragende und Täter zu trennen“, ist Bechers Überzeugung und durch die Haltung des Bildhauers Otto Herbert Hajek beglaubigt, dem er eine Erinnerung gewidmet hat.

In allen seinen Ausführungen ist noch immer die Begeisterung der möglich gewordenen Annäherung, der Vertiefung und Verwandlung von Begegnungen in Freundschaften spürbar. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte hat Becher Verbündete in beiden Ländern finden lassen, weil Kultur nicht an den Grenzpfosten von Ländern halt macht, nur bestimmten Nationalitäten vorbehalten oder nur in ausgesuchten Regionen beheimatet ist. Seine eindringlichen Appelle gegen Polarisierung und für Verständigung sind nicht zu überhören. Sie wären angesichts der jetzigen prekären Situation in Europa vielleicht drastischer ausgefallen, weil Becher, dem der Konsens mehr liegt als der Streit, auch ahnt, dass die sich abzeichnenden Tendenzen (Stichworte: Arm und Reich, soziale Ungleichheit, Rechtsradikalismus) so manche positive Entwicklung zunichte machen könnten. Es braucht einen langen Atem, Initiative, Enthusiasmus und gute Verbündete – Peter Becher weiß davon zu erzählen - und von einem in morgenkalte Dunkelheit“ gehüllten, steinernen Löwen, der jahrelang die Bahnhofstation in der Nähe von Prag bewacht hat und eines Tages verschwunden ist, und niemand kann dem Reisenden sagen, „warum er aufgebrochen ist, wann, mit wem und wohin.“

 


 

© Peter Becher in Prag, PLH/Klika

 

Peter Becher, *1952 in München, Studium der Geschichte und Germanistik. Promotion zum Dr.phil. an der Universität München mit einer Arbeit über literarische und historiographische Darstellungen des Untergangs der Donaumonarchie. Tätigkeiten in der Jugendarbeit (Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder), beim Bayerischen Rundfunk und im Goethe-Institut. Seit 1986 Geschäftsführer des Adalbert Stifter-Vereins, München.

 

Weitere eigenständige Veröffentlichungen

Der Untergang Kakaniens. Darstellungsweisen eines historischen Phänomens. Frankfurt a.M. 1982. (Phil.Diss)

Ach, Stifter. Ein tschechisch-deutscher Briefwechsel mit Ludvík Vaculík, München 1991

Zwischen München, Prag und Wien. Essays und Feuilletons. München 1995

Adalbert Stifter. Sehnsucht nach Harmonie. Eine Biografie. Regensburg 2005

Nachtflug. Roman. Passau 2009


Herausgeberschaft

Böhmen. Blick über die Grenze. Reise-Lesebuch. Gemeinsam mit Hubert Ettl. Viechtach 1991

Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933-1939. Gemeinsam mit Peter Heumos. München 1992

Gleiche Bilder, gleiche Worte. Deutsche, Österreicher und Tschechen in der Karikatur 1848-1948. Gemeinsam mit Jozo Dzambo. München 1997

Deutsch-tschechischer Almanach 2000. Gemeinsam mit Ivan Binar. München 2000

Deutsch-tschechischer Almanach 2002. Gemeinsam mit Ivan Binar. München 2001

Literatur unter dem Hakenkreuz. Böhmen und Mähren 1939-1945. Gemeinsam mit Ingeborg Fiala-Fürst. Prag 2005

Praha - Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen. Gemeinsam mit Anna Knechtel, Verlag Karl Stutz, Passau 2012

 

 

s. hier auch Spots, Über Grenzen, zur Ausstellung Praha - Prag 1900-1945, Ludvík Vaculík

VIII-2012



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