LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

PETER KURZECK 

 

 

 

 

 

Peter Kurzeck ist 1943 in Tachov/Tachau - Böhmen geboren. Aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen.

Lebt in Frankfurt am Main und in Uzès (Südfrankreich).

Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2007.

 

  

So durch den Tag, durch die Jahre. In Gedanken immer mit der Vergangenheit oder vor dir selbst her und in deiner Vorstellunglängst schon dort, wo du in Wirklichkeit erstnoch hin willst. So gehst du und gehst [...] Wer bin ich? Und warum hier? Meistens fällt es dir wieder ein. Oft nur mit Mühe und jäh einem Schreck.

Aber wie hierher? [...] War das auch heute? [...] Vielleicht ein anderer Tag, ein früheres Leben? Oder jeden Tag wieder? Du stehst, die Zeit ruckt, der Boden schwankt. Und dann endlich hast du dich eingeholt. Gegenwart. (aus: Oktober und wer wir selbst sind, 2007)

 

   

PETER KURZECK  - vorgestellt mit einer Leseprobe und einem Take aus der neuesten CD

 

VORABEND

 

LESEPROBE

© Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main, Basel 2011

 

Damals, sagte ich. Seinerzeit. Noch überall auf dem Land die angestammten alten Kaufläden.

Mindestens einer in jedem Dorf. Meistens zwei-drei. Mit ihrer überkommenen Zeitrechnung,

einem wohlbedachten, über Jahrzehnte hin von mehreren Generationen zwecks Auskommen

und Gelderwerb hingebungsvoll ausgeklügelten Warenlager für gute und schlechte Zeiten und

mit ihren dauerhaften Regalen, Wandschränken und Schubladen. Vor gut fünfzig oder achtzig

oder hundert Jahren vom seinerzeitigen Dorfschreiner mit Umsicht und Sachverstand

ergrübelt, ausgemessen und angefertigt. Und seither abgenutzt und poliert von der Zeit und

den vielen Handgriffen, Blicken, Berührungen. Altes Holz, Messinggriffe und

Kupferbeschläge. Müssen immer wieder sorgsam geputzt werden. Blanke Emailschilder.

Meistens oval. Weiß und mit blauer Frakturschrift. Erst feucht und dann trocken abwischen.

Mit einem weichen Lappen. Morgens und abends und öfter auch zwischendurch. Die alten

Dorfläden. Seinerzeit. Alle gleich und doch jeder anders. Und jeder mit seinem eigenen guten

Geruch, einem nahrhaften alten Ladengeruch aus der Erinnerung an viele Gerüche. Nach

Gewürzen, Kaffee und dem alten Holz der Ladeneinrichtung. Und nach dem Bienenwachs,

mit dem dieses Holz immer wieder eingerieben, gepflegt, konserviert wird. Seit Jahrzehnten.

Wie geträumt eine Zeit. Geträumt und vergessen und wieder geträumt. Dunkel vom Alter das

Holz, vom Bienenwachs und der Zeit. Und so ein beständiger matter Glanz auf dem Holz.

Gehört alles noch mit in den gleichen einen einzigen Traum hinein. Nach Kernseife riecht es,

nach Putzsoda, Bohnerwachs, Sauberkeit und geschäftigen Werktagmorgen. Nach Nußöl,

Steinöl und Wachspapier. Wachspapier riecht nach China, nach Sumatra, Panama und

Brasilien.

Ein Werktagmorgen. Nach Brot, frischem Brot wird es riechen im Laden. Bauernbrot aus dem

Vogelsberg. Nach oberhessischer Wurst, nach Räucherwurst, Schinken und Speck. 

 

Kandiszucker an Fäden. Mittwoch und Freitag frischen Fisch und im Keller zu jeder Zeit Salzgurken, Essig, Öl, ein Sauerkraut- und ein Heringsfaß. Nach Edamer, nach Emmenthaler, nach Wetterauer Handkäs, nach Quark und nach Butter, die damals noch gute Butter hieß, Kuhbutter. Im Gegensatz zur einfachen, zur normalen Butter, der Margarine. Es gab Margarine, Ersatzmargarine und Margarinenersatz. Nach guter Butter also, nach Sahne und frischer Milch. Lauter gute Sachen, die es kurz vorher noch gar nicht gab. Nicht für Flüchtlinge jedenfalls. Und riechen jetzt umso besser. Auch deutlicher. Und dann? Wonach noch? Nach Sirup, Himbeersirup, den jeder im Sommer selbst macht im Dorf. Und hier gibt es das ganze Jahr selbstgemachten zu kaufen, falls er doch einmal jemandem vorzeitig ausgegangen sein sollte. Himbeersirup, gut gegen Fieber. Und Rübensirup, süßen goldenen Rübensirup aus der Wetterau. Und nach Honig. Aber das ist nicht der Honig in den Gläsern, den riecht man nicht. Die Fliegenfänger sind es, die hier so nach Honig riechen. Hängen von der Decke und die Fliegen wissen, es ist falsch, aber können nicht widerstehen. Nur wenigstens einmal! Ganz kurz nur! Und bleiben dann kleben und sterben langsam. Zuerst, wenn man so einen Fliegenfänger neu aufhängt, ist er honiggelb. Ist neu und glänzt. Und dann nach und nach schwarz von Fliegen und immer mehr Fliegen. Und wird immer schwerer. Ein süßer Tod, süß und klebrig und wie die Fliegen sich danach drängen. So praktische Fliegenfänger. Jederzeit vorrätig. Drei Stück eine Mark. Nach Tee riecht es, nach Tabak, Rosinen und Dörrpflaumen. Die Rosinen hauptsächlich für die Weihnachtsbäckerei, aber trotzdem ganzjährig vorrätig. Die Dörrpflaumen trocknet jeder im Dorf sich selbst. Hier im Laden sind sie, weil der Kaufladenbesitzer seit vielen Jahren schon jeden Tag den ganzen Tag Dörrpflaumen lutscht und kaut. Raucht dazwischen ab und zu eine gute Zigarre. Eigentlich zu teuer, aber immerhin raucht er ja zum Einkaufspreis, sagen untereinander die Leute im Dorf.

Und er selbst, er sagt sich das auch immer wieder. Und kann es sich leisten. Die Dörrpflaumen

sind umsonst. Und es ist ja schließlich auch eine gute Werbung, wenn er so vor der eigenen

Ladentür steht. Mit der goldenen Uhr seines Großvaters. Auf dem eigenen Grund und Boden.

Und hat (das weiß jeder im Dorf) sein Erbteil gehörig vermehrt. Hat es zu etwas gebracht.

Das sieht man ihm an. Hat eine moosgrüne Wildlederweste an. Läßt die Zeit vergehen. Auf der goldenen Uhr seines Großvaters, die jetzt ihm gehört (die ihm niemand streitig macht).

Sieht den Bachstelzen zu, wie sie eifrig hüpfen, weil es am Morgen geregnet hat. Steht und 

weiß genau, wer er ist.

Und raucht nach dem Mittagessen mit Behagen bedacht eine gute Zigarre aus dem reichhaltigen eigenen Sortiment. Nicht nur Lebensmittel, sagte ich. Manche von diesen Dorfläden, die meisten, sagte ich, waren klein wie oberhessische Küchenstübchen oder wie die Schlafkammer in einem Witwenhäuschen. Aber jeder von ihnen hatte seine eigenen vielen Abteilungen. Stricknadeln, Wolle und Nähzeug. Schulsachen, Spülmittel und Kosmetik – aber so hieß es damals noch nicht. Toilettenseife liest du mit Staunen (sieben Jahre alt und seit Ostern schon in der zwoten Klasse!). Duftseife, Parfümseife, Schönheitsseife. Ni-ve-ha mit Vogelvau. Mo-uson Creme, Mo-uson Lavendel – wieder ein Vogelvau. Und 4711 (vier-sieben-eins-eins – über viertausend – viertausendsiebenhundertundelf). Echt Kölnisch Wasser. Und Haarschampon, aber wer kauft es? Gleich daneben die Zahnputzabteilung. Die Bürsten mit Holzgriff. Viele haben sich zu der Zeit die Zähne mit Salz geputzt. Manche mit Kernseife. Sich bereitstellen. Die Borsten anfeuchten. Die nassen Borsten kurz auf die (geduldig wartende) Kernseife draufstupsen und nicht im voraus schon das Gesicht verziehen.

Riesige Stücke Kernseife, richtige Blöcke, die (falls wieder ein Krieg kommt) noch jahrelang reichen werden. Wer sich überhaupt damals die Zähne geputzt hat, sagte ich. Viele mit fünfzig schon keine Zähne mehr. Unten noch ein paar Stummel und oben das Oberteil von einem Gebiß. Aber weil es nicht richtig sitzt und auch geschont werden soll, wird es nur sonntags getragen. Als Kind, sagte ich, findet man Zähne zum Rausnehmen gar nicht schlecht. Aber wie funktioniert wohl so eine Schönheitsseife?

Dann Kämme. Alle Sorten. Große aus Holz, aus Zink, aus Horn und aus Kunststoff. Für die ganze Familie. Manche mit Griff. Und kleine. Die gibt es noch nicht so lang. Taschenkämme. Aus Blech, aus Holz, aus Kunststoff, aus Horn. Aus Kunststoff, der aussieht wie Horn. Und aus Kautschuk. Auf denen aus Kautschuk steht Kautschuk drauf. Oder Echt Kautschuk. Echt Kautschuk ist natürlich noch besser als Kautschuk. Ein paar Kämme sogar mit Etui. Auf manchen Germany oder Made in W.-Germany. Eingraviert. Man kann die Schrift mit den Fingern spüren. Auf einem gelben in Schreibschrift mit Schnörkeln: „Die elegante Welt“. Auf einem andern aus Kunststoff, der aussieht wie Horn: „Prince of Wales“. Beides in Gold und mit Gänsefüßchen. Eigentlich sind die Taschenkämme mehr für die Größeren. Für die jungen Burschen, die schon arbeiten und abends zusammen offm Kreuz stehen und auch schon in die Gastwirtschaften gehen. Aber auch wenn du erst sieben bist (bald acht und nächstens schon neun), die elegante Welt und den Prince of Wales mit Gänsefüßchen würdest du sofort nehmen. Jederzeit. Abends offm Kreuz die jungen Burschen und vor der Gastwirtschaft Zecher. Feierabend. Vielleicht noch eben die letzte Abendsonne um sie herum. Stehen und sprechen vom Fußball und was für Autos und Motorräder sie sich kaufen wollen, wenn sie ausgelernt haben und mit achtzehn den Führerschein und dann vielleicht auch noch beim Fußballtoto einen Hauptgewinn. Zwölf Richtige! Immer wieder sprechen sie davon. Und dann zieht einer von ihnen seinen Taschenkamm heraus und sieht sich nach allen Seiten um und kämmt sich mit Sorgfalt die Haare.

Gleich noch zwei oder drei, die das auch machen. Fassongschnitt. Manche tun sich beim Kämmen geschickt vornüber beugen, das gibt dann so eine kleine Welle im Haar. Manche machen sich das Haar extra naß, damit es sich besser kämmen läßt. Es naß machen und sich vorbeugen, ist vielleicht noch besser. Wenn einer Birkenhaarwasser will, muß er sein Geld zählen und macht sich auf den Weg nach Lollar. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Und in Lollar in einen von die vielen städtischen Friseurläden auf der Lollarer Hauptstraße. Besser erst in allen Läden sich zeigen lassen, was sie da haben und nach dem Preis fragen. Dann bei den Kämmen die unzerbrechlichen. Steht drauf. Weltneuheit.

Man kann sie hin- und herbiegen. Beim Kämmen dran denken, daß man sich vornüber beugt.

Eine kleine Welle. Und dann biegt man ihn wieder. Immer nochmal. Geht so leicht, daß man gar nicht leicht damit aufhören kann. Je öfter man so einen Kamm biegt, umso geschmeidiger wird er. Vor den staunenden Zuschauern. Wenn keine da sind, denkst du sie dir aus. Beinah wie Zaubern. Du biegst einen Kreis. Du biegst einen Bogen. Die Buchstaben O und U. Ein L geht, ein Berg, leichte Wellen. Ein P, ein N, dann mit Vorsicht ein M – und da bricht der Kamm. Mittendurch. Unzerbrechlich. Auch das Wort mittendurch.

Du hättest dir lieber keinen unzerbrechlichen kaufen sollen, dann hättest du ihn auch nicht soviel hin- und hergebogen. Und dann wäre er nicht zerbrochen. Die zerbrechlichen halten länger.

Eh und je viele Ecken und Winkel in diesen Läden, viele Vergangenheiten. Manchmal eine Abteilung groß wie die Wand und um die Ecke, als ob man in einen Spiegel hineingeht, hört sie noch lang nicht auf. Immer noch mehr. Andere winzig. Kaum ein halbes Regalfach. Im Schatten. Hinter einem schmalen verstellten Durchgang, wo man die Luft anhält und schon denkt, da geht es gar nicht mehr weiter. Je nach Jahreszeit auch. Was gerade gebraucht wird.


Jedes Ding hat seine Saison. Jetzt auf den Winter zu immer mehr Wolle. Fertige Strickjacken neuerdings auch. Und für die Kinder bunte Pullover mit Norwegermuster. Die Strickjacken hauptsächlich für die älteren Frauen. Meistens Witwen, die immer beim Ofen sitzen und frieren. Müssen das ganze Jahr für ihre Kinder, Enkel und Nichten stricken und haben deshalb keine Zeit für sich selbst. Die Augen nicht mehr die besten. Wenn sie dann so eine gekaufte Strickjacke geschenkt kriegen, mal sagen von einer Schwiegertochter, dann können sie die natürlich gut gebrauchen. Aber trotzdem wird so eine Strickjacke aus dem Kaufladen, wenn sie neu ist, erst eine Weile in den Schrank gelegt. Mottenkugeln nicht vergessen! Was neu ist, muß erst einmal gründlich geschont werden. Haben noch mehrere alte Strickjacken der Reihe nach aufzutragen. Manchmal muß an so einer alten Strickjacke auch ein Stück angestrickt werden oder erneuert, wo sie sich schon auflöst. Die hier zum Beispiel ist aus dem Jahr 1934.

Hier gestopft, da angestrickt und da ein neues Stück eingesetzt. Vorn an den Ärmeln auch

ausgebessert. Aber sonst tadellos. Hauptsächlich in gedeckten Farben die Strickjacken für die

älteren Frauen. Beige, aber nicht zu hell. Eher steinpilzbeige, moosgrün und dunkelbraun.

Dunkelgrau und schwarz für die Witwen. Weinrot und dunkelgrün ist eher für die Strickjacken der Männer. Die sind meistens ärmellos, also Westen. Holzknöpfe, Hirschhornknöpfe, Perlmuttknöpfe. Und rechts und links je eine Westentasche. Wieder Herbst. Man sieht die Wolle im Kaufladen und spürt schon im voraus, daß es jetzt bald wieder kalt wird. Kalt und feucht, so sind hier die Winter. Auch wenn so ein selbstgestrickter Pullover dann erst noch ein bißchen kratzt, ist er trotzdem schön warm. Schon jetzt fängst du an, dich darauf zu freuen, daß du dann, wenn es kalt wird, so einen schönen warmen Pullover anziehen kannst. Kommt noch mehr Wolle, sagt der Schlapps Ernst zur höflich staunenden Kundschaft. Schon bestellt! Kommt noch vor Allerheiligen, sagt er. Seine eigene Mutter, die als Witwe noch regelmäßig mit zur Hand geht im Laden, hat jetzt auch schon jeden Tag solche gekauften Strickjacken an. Ihr Vater war Schultheiß hierorts. Ihr Großvater auch.

Als Kind in so einem Laden. Du bist fünf, dann schon sieben, dann acht Jahre alt. Und wie es scheint, immer der gleiche oberhessische Herbstnachmittag. Naßkalt und grau. Die Scheiben angelaufen. Nicht mehr lang, dann ist morgens das erste Eis an den Fenstern. Von da an dann jeden Morgen. Bis die Fenster auch tagsüber nicht mehr abtauen. Du stehst und gaffst und bist überm Gaffen längst ins Staunen und Träumen geraten. Was es nicht alles gibt. Und auch, daß man in so einem Kaufladen von fast jedem Ding eine Mehrzahl: gleich ganze Stapel von Schulheften. Alle neu und kantengleich aufeinander. Hier die Rechen- und da die Schreibhefte.

Und in jedem neuen Schreibheft höchstwahrscheinlich ein ganz neues Löschblatt drin.

Daneben die Bleistifte. Nicht zwei oder drei – dicke Bündel. Seit es das neue Geld gibt, sind die Bleistifte bunt lackiert. Gelbe, rote, grüne und blaue. Neuerdings manche sogar mit Radiergummi hintendran. Einmal, da warst du noch klein, hast du im Oberdorfkaufladen zum erstenmal ein Schränkchen gesehen. Aus hellem Holz ein kleines Schränkchen mit Glastür, eine Vitrine. Und hängt an der Wand. Hinter der Glasscheibe Garnrollen. Nähseide. Nach Farben sortiert. Fängt mit Weiß an und hört mit Schwarz auf. Und dazwischen die schönsten Farben. Mehr als du damals zählen konntest. Allein fünf oder sechs Sorten Grünblau, dann Blaugrün genausoviele und dann kommt erst Blau. Vielleicht die Sonne im Laden oder war am hellen Tag noch ein Licht an? So viele Farben und wie sie nebeneinander sind und gehen ineinander über. Ein Fest für die Augen. Du weißt noch jetzt, wie die Farben dich froh gemacht haben – du kannst es noch spüren. Als ob der Laden, als ob die ganze Welt (es wird auch so ein grauer hiesiger Herbstnachmittag gewesen sein, Herbst oder Nachwinter) zu lächeln anfängt und dir ab jetzt auf der Welt nie mehr etwas passieren kann, so leicht wurde dir ums Herz. Du warst fünf und jetzt bist du acht. Ein langer Herbstnachmittag im Kaufladen. Du stehst zwischen den Regalen, hörst die Erwachsenen reden und manchmal das Türglöckchen klingeln.

Je nachdem, ob es beim Kreuz der Scholtesse ist, der Oberdorfkaufladen oder bei Brickels, klingt das Türglöckchen immer ein bißchen anders.

Leise die Stimmen. Die Leute kommen und gehen. Meistens Hausfrauen, Flüchtlings- und

Bauernfrauen und ein paar Männer, die bei Buderus Frühschicht hatten und jetzt kaufen sie sich Eckstein, Zuban und Overstolz Zigaretten oder ein kleines Fläschchen Korn oder Jägermeister und zwei Stumpen, bevor sie heimgehen und bis in die Nacht hinein Holz hacken. Auch wenn einer lang bleibt und hat vielleicht eine Geschichte zu erzählen an so einem Herbstnachmittag, am Ende geht er dann doch. Und du bist acht und dir ist, das ist alles schon einmal gewesen. Schon oft. Immer kurz vor dem Dunkelwerden. Du weißt nicht, wie lang du schon so hier stehst. Du weißt auch nicht mehr, warum du gekommen bist. Willst du etwas kaufen? Hat dich jemand geschickt? Daß du etwas fragen-holen-ausrichten sollst? Da schickt man bei uns hier im Dorf gern die Kinder. Nicht nur, warum du hier stehst, auch wer du bist, hast du vielleicht längst vergessen. Hautcreme, Zahnbürsten, Seife und Kämme. Und jetzt hier die Ölsardinen. Man erkennt sie schon an den Büchsen. Aus Spanien, aus Portugal, aus Marokko. Flache gelbe, rote und goldene Blechbüchsen, die gut aufeinanderpassen. Und auf jeder Büchse so eine winzige fremde Schrift. Bei jeder Büchse ein kleiner Schlüssel als Öffner angelötet, damit man denken soll, sie sind zwar gut verschlossen, aber gehen leicht auf.

Du stehst bei den ordentlich aufgestapelten Sardinenbüchsen und siehst das Meer und die Schiffe auf dem Meer. Siehst, wie die Netze eingeholt werden und der Himmel sieht dabei zu. Ein Himmel, der aussieht, als ob er den Menschen schon immer bei allem zusieht. Die Netze einholen. Ein guter Fang. Und wie die Schiffe dann mit ihrem Fang (das ist vielleicht schon der nächste Tag) in den Hafen einfahren. Als ob du selbst mit dabei. Hörst die Möwen und spürst, wie das Schiff unter dir auf- und ab-, immerfort auf- und abrollt. Das Meer ist groß, weit. Erst einmal im Leben hast du Ölsardinen gegessen. Aber wirst nach und nach alle Sorten ausprobieren. Unbedingt. Das versprichst du dir jetzt hier vor dem Regal. 

Neben den Ölsardinen Rollmöpse, Räuchermakrelen und Bratheringe. Immer andere Büchsen. Wieder auf hoher See, dann im Hafen. Im nächsten Regal Backzutaten. Gleich soviele, als ob die Zeit fortan nur noch aus langen dämmrigen Adventsnachmittagen bestehen soll. Und dann die Schokolade. Bei jedem Ding fragst du dich, wo es herkommt, wofür es ist und wie es gemacht wird. Und mußt dir immer weiter ausdenken, wie es zugeht auf der Welt oder siehst es sogar vor dir. Ein Herbstnachmittag. Du hörst das Ladentürglöckchen und fährst noch einmal aufs Meer hinaus. Wolkenhimmel. Wird es nicht auch schon dunkel? Wie die Sehnsucht dich zieht.

Dann jäh ein Geschrei und laut Wagenbremsen – direkt vor der Ladentür. Einer flucht. Und dann kommt der alte Simon in Stiefeln zur Tür herein. Er hat ein Ochsengespann. Zwei große milchweiße Zugochsen. Die besten Zugochsen weit und breit. Wird beim Holzfahren sein. Kommt in den Laden und sucht sich in aller Ruhe Pfeifentabak und ein paar gute Zigarren aus und erzählt dabei, welche Wege im Wald schon trocken, wenigstens halbwegs trocken sind und welche noch lang nicht.


  

Aus der Vorschau des Verlages www.stroemfeld.de

Im Jahr 1982 in Frankfurt-Eschersheim ein langes Wochenende im Herbst. Der Erzähler ist mit Frau und Kind bei Freunden zu Besuch. Vielleicht das letzte Wochenende, bevor die Freunde nach Südfrankreich ziehen. Der Erzähler ist müde. Will schlafen. Um ihn her der Nachmittag und die vertrauten Stimmen und dazu die Stimmen in seinem Kopf. Und dann muß er erzählen! Eine lange Reise. Und wir begleiten ihn in das Land seiner Kindheit. Das Oberhessen aus der Zeit nach dem Krieg und bis in die Siebziger Jahre. Gestern noch hier und jetzt ein versunkenes Land.
Man muß die ganze Gegend erzählen, die Zeit! Und dazu die Menschen. Kleinbauern, Handwerker und Gießereiarbeiter. Die Oberdorfwitwen, die alten Leute und ihre Geschichten. Und die Kinder, als wir alle noch Kinder waren. Die alten Kaufläden. Flohmarkt- und Flüchtlingsgeschichten. Wie es bei der Arbeit zugeht.
Lebensläufe, Vergangenheiten, die Zeit. Was die Zeit mit uns macht. Das Fernsehen. Die Liebe. Drei Paargeschichten. Wie man mitten im Pferdefuhrwerk- und Dampflokzeitalter als Sechsjähriger in Lollar am Güterbahnhof bei der amtlichen Waage steht (neben einer großen Pfütze) und weiß vom Hörensagen, die Erde ist eine Kugel. Ein langer Herbstnachmittag und er ist sechs und muß sich alle Stimmen und Farben und jede Einzelheit merken. Hier will er ein Dichter und groß werden! Wenn man auf einem Berg wohnt, führt jeder Heimweg am Ende bergauf.
Die Nachkriegs-, die Not-, die Hunger-, die Hamster-, die Schwarzmarkt- und dann die neue und immer noch eine neuere neue Zeit. Der Fortschritt. Und fängt dann zu fahren an. Baustellen, der Straßenbau, Autobahnen, Schnellstraßen und Autobahnzubringer. Staatssekretäre, Ehrenjungfrauen und das Weltbild der Igel. Eine vergessene alte Landstraße, die leer in der Sonne liegt. Supermärkte, Einkaufsfahrten, Räubergeschichten, ein gelungener Amoklauf und die langen Sommer der späten Sechziger Jahre. Ein ganzes Zeitalter und jeder Augenblick fängt zu reden an.

"Schon mein ganzes Leben lang wollte ich dieses Buch schreiben." (Peter Kurzeck)

 

Seit Mitte der neunziger Jahre arbeitet Peter Kurzeck an dem großen autobiographisch-poetischen Projekt: Das alte Jahrhundert. Die ersten vier Bände sind bereits erschienen:
Übers Eis (1997)
Als Gast (2003)
Ein Kirschkern im März (2004)
Oktober und wer wir selbst sind (2007)

 

Vorabend wurde im Sommer 2010 von Peter Kurzeck im Literaturhaus Frankfurt öffentlicht diktiert und war auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2011

© Foto: Frankfurter Literaturhaus 

 

s. auch folgende Seite: Jan Gerstner über Peter Kurzecks Roman Vorabend 

 

 

Peter Kurzeck - Wie ich Schriftsteller wurde

 

 

© Peter Kurzeck, Stroemfeld Verlag; veröffentlicht am 26.03.2012 auf YouTube

Hörprobe aus: Peter Kurzeck erzählt: Unerwartet Marseille, 2 CDs. CD 2, Track 8
Live an der Universität Siegen am 25. Mai 2011, ISBN 978-3-86600-007-0

 

 

 

 

  



Tweet