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Kindheit als schrecklicher einsamer Ort

von Katja Schickel

 

 

Pola Kinski, Kindermund.

268 S., geb., Insel Verlag, Berlin 2013,

19,95 Euro; ISBN-10: 3458175717

 

In der letzten Zeit haben die schlüpfrigen Sprüche eines deutschen Politikers zu einem #aufschrei auf Twitter und einer heftigen Debatte in Medien und Webforen über Sexismus geführt. In bisher über 80.000 Einträgen (tweeds) innerhalb einer Woche berichten Frauen über ihre alltäglichen Erfahrungen mit Männern, angefangen bei den immer gleichen dummen Sprüchen über sexuelle Anmache bis hin zu körperlichen Übergriffen – am Arbeitsplatz, in der Freizeit, öffentlich wie privat – und darüber, welche Auswirkungen dieses Verhalten auf die Frauen selbst hat. Im Vordergrund steht das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, oft ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis.

 

 

Von einer - euphemistisch gesprochen - extrem ungleichen sexuellen Beziehung und den schrecklichen Konsequenzen, die sie auf das kindliche wie das weitere Leben hatte, erzählt das kürzlich erschienene Buch Kindermund von Pola Kinski, das den vierzehnjährigen Missbrauch eines kleinen Kindes und heranwachsenden Mädchens durch seinen Vater beschreibt. (Männliche) Kritiker schreckten nicht vor der gruseligen Unterstellung zurück, die Autorin benutze die Popularität des Vaters, Klaus Kinski, für eine dubiose Abrechnung, die sich für sie durch den Erfolg des Buches jetzt auch noch finanziell rentiere, und bestritten die Schilderung von sexuellen Übergriffen in der dargestellten Vehemenz (sic!) unter anderem wegen der Zeitspanne, die zwischen dem Geschehen und der Veröffentlichung liege oder weil der sexhungrige und potente Schauspieler Vergewaltigung doch gar nicht nötig gehabt habe. Darüber hinaus unterstellten sie der Autorin ein ominöses 'Opfer-Abo', lauter ziemlich dumme Behauptungen, mit der sie ihre Glaubwürdigkeit insgesamt zu diskreditieren suchten.

Pola Kinski hat sich schreibend erinnert, an ihre Kindheit und Jugend, hat sich alles ins Gedächtnis zurückgeholt, sich nicht geschont und eben nichts geschönt. Das macht die Lektüre stellenweise so fürchterlich und furchterregend. Die kindliche Liebe zum Vater, schon bald von ihm gegen sie gewendet und zunichte gemacht -  indem er seine eigene Vorstellung von Liebe ohne Rücksicht auf die der anderen Person realisiert, und durchsetzt, was er sich offensichtlich darunter vorstellt, nämlich sexuelle Unterwerfung, eigene Spannungsentladung und Befriedigung, sei es durch eine Frau, sei es durch das eigene Kind. Mit seinen Allmachtsphantasien vom sich frei entfaltenden genialen Künstler, der sich darin gefällt sich zu nehmen, was er will, wo und wie er es will, mit denen er oft genug auch Erwachsene traktiert (eine Facette davon ist die Genese der Herzog-Filme), greift er sich auch seine wehrlose Tochter, die natürlich Liebe will, aber nicht diese, die sich nach Verständnis sehnt und es nicht bekommt, deren Hilferufe ungehört bleiben, vor allem auch von der Mutter. Ein Klima der Bedrohung, der Gewalt und Angst umgibt ein einsames, verlassenes Kind, hin- und hergeschoben zwischen feindlichen, geschiedenen Elternteilen, das doch beiden gefallen und ihre Zuneigung will, aber auf emotionale Leere und Abwehr stößt oder mit perfiden sexuellen Attacken konfrontiert wird. Sie erinnert sich an den Schrecken, weil sie wieder dieses Kind ist, das seine eigene Hilflosigkeit und diese allgegenwärtige existenzielle Demütigung und Verletzung durchlebt, und doch weiß, dass sie als Erwachsene, aus erwachsener Perspektive darüber schreibt. Es ist der schmerzhaft genaue Blick der Autorin in die eigene Unterwelt, der wie nebenbei diesen Mann, den offensichtlich die Lust an Erniedrigung und Zerstörung anderer Menschen vorantreibt, um sein eigenes Ego daran wachsen lassen zu können und aufzubauen, enttarnt und entthront. Mögen Klaus Kinskis Anzüglichkeiten und seine Willkür Erwachsenen gegenüber zwar bedenklich krankhafte und blindwütige Züge tragen, wie auch einige seiner Bewunderer konzidieren, aber zu seinem Genius dazugehören, einem Kind gegenüber war und ist dieses Ausagieren eigener (sexueller) Komplexe in keiner Hinsicht statthaft und entschuldbar. Außerdem stellt sich die Frage, welches Menschenbild solcherlei Entschuldigung und Bagatellisierung eigentlich zugrunde liegt.  

Der Antagonismus ist schon im Titel angelegt: Im Sprichwort heißt es: Kindermund tut Wahrheit kund; der Vater identifiziert sich mit dem Villon-Satz: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, der ihn berühmt gemacht hat.

Pola Kinski findet immer wieder Bilder für ihre verlorene Kindheit und Jugend und bringt sie – im doppelten Sinn – zur Sprache. Das macht auch die literarische Qualität des Buches aus. Die Tableaus der Orte, die Szenen einer Kindheit aus dem Blickwinkel des Mädchens sind der Erwachsenen im Gedächtnis geblieben. Das Schreiben befreit nochmals alle widersprüchlichen Emotionen und Affekte, die damaligen wie die heutigen – und das ist das schwierigste Unterfangen: Das Verdrängte aufspüren, die Wucht der Erinnerung aushalten und sich dem Erlebten und dem Leben danach stellen. Pola Kinski zeigt, wie sie der Enge, dem (Ver-)Schweigen entkommen will, wie sie die Furcht zu vertreiben versucht, indem sie sie ganz nah an sich heranlässt, wie das Austreiben der Lügen und Gemeinheiten, das Lüften der Familiengeheimnisse, der Kumpanei und Komplizenschaft, immer wieder von vorne beginnt, wie sie mit ihren Schamgefühlen umgehen lernt. Sie weiß, das sie dem Erlebten nie ganz entkommen wird, weil diese Vergangenheit sie so maßgeblich geprägt hat. In einem Gespräch sagt sie den bedrückenden Satz: "Ich habe lebenslänglich"  – und weiter: "Ich habe erlebt, dass ich immer noch mit Ängsten kämpfe, und sein Glorienschein wird immer größer. Jedes Jahr noch ein Buch, noch ein Bildband. Er mutierte langsam zum sensiblen, zarten, verletzlichen Künstler – da hat es mir gereicht!“ Und dankenswerterweise hat sie  daraufhin dieses aufwühlende Buch gegen das Verschweigen und Vertuschen geschrieben. 

 

Pola Kinski, *23.3.1952 in Berlin, ist die Tochter von Klaus Kinski und seiner ersten Ehefrau, der Sängerin Gislinde Kühbeck. Nach der Scheidung ihrer Eltern 1955 wuchs sie zunächst bei ihrer Mutter, dann bei ihrem Vater auf. Sie ist die Halbschwester von Natassija Kinski und Nikolai Kinski. Nach ihrem Schauspielstudium spielte sie in mehreren Filmen und auf der Bühne (Schauspielhaus Bochum, Deutsches Schauspielhaus Hamburg). In den 1970er Jahren arbeitete sie mit Peter Zadek und unter Intendant Ivan Nagel, danach spielte sie freiberuflich in Berlin und Paris und übernahm Rollen in Fernsehspielen. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt wieder in Berlin.

 


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