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Anlässlich der Disskussionen über Assimilation, die wieder gefordert wird, und Integration, die Verbindung von Intelligenz und Genen, jüdischen im Vergleich zu türkischen und deutschen beispielsweise, ein Beitrag von Prof. Dr. Manfred Schneider

 

 

 

Wer an Europadämmerung glaubt

 

Die sarrazynischen Untergangsbilder sind ein Import US-amerikanischer Paranoia. 2009 erschienen gleich drei amerikanisch Untergangsbücher.

 

Wer ein wenig die amerikanische Literatur zum Thema Immigration und Islam in Europa kennt, hat beim Hören und Lesen von Thilo Sarrazins Thesen zu diesem Thema jede Menge Déjà-vu-Erlebnisse. Für eine wachsende Zahl amerikanischer Autoren wird der Westen nicht erst am Hindukusch verteidigt, sondern an Elbe, Rhein, Donau und Seine.

In ihren Endzeitbildern überflutet eine von Hasspredigern geführte gewaltige Migrationswelle mit maßlosem Kindergewimmel Europa und ersäuft Freiheit, Kultur und christliche Werte. Diese Bücher sind im gleichen apokalyptischen Tonfall geschrieben, den auch Sarrazin anschlägt. Als einer der ersten entwarf Bruce Bawer 2006 das Europauntergangsszenario aus Geburtenrückgang, Sozialstaat und muslimischer kultureller Übermacht in seinem Buch „While Europe slept“. Ihm folgte Walter Laqueur 2007 mit „Die letzten Tage von Europa“.

2009 erschienen gleich drei Untergangsbücher zum Thema: Bawers „Surrender. Appeasing Islam. Sacrificing Freedom“, Mark Steyns „America Alone: The End of the World as we know it“ und aus der Feder des angesehenen Journalisten Christopher Caldwell „Reflections on the Revolution in Europe“. Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ importiert also den endzeitlichen Tonfall seiner amerikanischen Kollegen, aber nicht nur den.

Alle diese überaus erfolgreichen Bücher bedienen sich der gleichen Methode, indem sie einen kleinen Satz von Zitaten, Ereignissen und Daten zu einer Europakrise oder Deutschlanddämmerung montieren. Caldwell ist durch die muslimische Immigration in Europa alarmiert, die er als gesteuerte Raumeroberung deutet. Türken in Deutschland, Marokkaner in Frankreich, Pakistani in England führen im Rahmen einer großen muslimischen Reconquista regionale Landnahmen durch. Ihm will nicht in den Kopf, dass Europäer zwischen verschiedenen islamischen Kulturen Unterschiede machen: „What Islam will contribute to the West is Islam.“ Der Islam als großes übelwollendes Subjekt, das den Geist, der so lange erfolgreich den Westen von Fortschritt zu Fortschritt führte, verdrängt?

Was spricht für diese steilen Thesen? Ereignisse, Zahlen und Dummheiten: In Europa hat die Zahl der Personen muslimischen Glaubens seit 1950 erheblich zugenommen; in Europa wie in den USA gab es terroristische Anschläge von Männern, die sich zum Islam bekennen; vor allem aber lassen sich die Europäer aus einem Anfall von Geistesabwesenheit in eine multiethnische Gesellschaft verwandeln. So verdammt Caldwell den törichten Liberalismus der Europäer, die der aggressiven Politik der Islamisten nicht entschlossen Einhalt gebieten. Deutschlands und Spaniens Weigerung, 2003 die Geheimdienstfiktionen über irakische Vernichtungswaffen ernst zu nehmen, versteht Caldwell nicht als Folge einer abweichenden Lageanalyse, sondern als Zeichen, dass den Europäern mehr an ihrer Selbstachtung gelegen sei als an ihrem eigensten Interesse.

Das Grundübel antiislamischer Bücher ist die historische Blindheit

Da die europäischen Politiker seine Sicht der Dinge nicht teilen, wendet sich Caldwells Liebe den europäischen Bürgern zu, von denen er zu wissen glaubt, dass sie gegen die Kapitulation vor dem Islam aufbegehren: Die Mehrzahl der Europäer wolle nicht in einem „Basar von Weltkulturen“ leben. Als Beweis dient ihm Roland Koch, der mit seiner Kampagne gegen Ausländer 1999 die Landtagswahl gewann. Außer Koch findet Caldwell aber nur wenige Verbündete unter den europäischen Politikern. Sarrazin wird ihm vielleicht Mut machen. Nur den niederländischen Politiker Pim Fortuyn, der 2002 Opfer eines Attentats wurde, kann Caldwell für seine Sache reklamieren.

Das Grundübel dieser antiislamischen Bücher ist ihre historische Blindheit. Caldwells Analyse beginnt im Jahre 1945, während die Geschichte der euroasiatischen Migrationen vor beinahe 2000 Jahren einsetzte. Vom osmanischen Reich und den Türkenkriegen hat er keinen blassen Schimmer. Die Ideologie von Huntingtons „Clash of Civilisations“, der Bibel der Bush-Regierung, fiele ihm schärfer ins Auge, wenn er über die Erinnerung daran verfügte, dass der Erste Weltkrieg von der gleichen Idee eines kulturellen Gegensatzes zwischen deutscher und westlicher Kultur getragen wurde, wie sie heute das Dogma von der Unvereinbarkeit des Islam mit der westlichen Aufklärung verkündet.

Die Rede von der Unvereinbarkeit deutscher Kultur und westlicher Zivilisation, die damals dem literarischen Scharfmacher Thomas Mann aus der Feder floss, ist nicht einmal 100 Jahre alt. Auch Muslime gab es bereits früher in Europa, und ihr kultureller Beitrag zur Wissenschaft des Mittelalters steht außer Zweifel. Aber Caldwell türmt Zitat auf Zitat, um die Strategie der muslimischen Europa-Eroberung offenzulegen.

Welche törichte Weltpolitik könnte man aus den gesammelten Äußerungen westlicher Politiker zusammenleimen! Wie sollen nicht aus den Mündern eines paar Dutzend muslimischer Geistlicher und Politiker, die Caldwell als Kronzeugen zitiert, auch Mengen von Unsinn kommen?

Bruce Bawer, der andere erfolgreiche Apokalyptiker, beginnt sein Buch mit dem Satz: „We in the West are living in the midst of a Jihad, and most of us don’t even realize it.“ (Wir leben mitten im Dschihad, merken es aber nicht einmal.) Bawer antwortet mit einem Parallelwahn auf die antiamerikanische Paranoia in der muslimischen Welt. Wie viele Rechtsorientierte in den USA kämpft er einen Zweifrontenkrieg gegen die zur Eroberung des Westens entschlossenen Muslime und gegen die Liberalen in den USA und Europa, die seine Lesart der Dinge nicht akzeptieren.

Als ein Sammler aller kleinen und großen Fälle jagt er von Internetseite zu Internetseite und spießt tausend Beispiele auf, die die beiden Seiten des Verhängnisses dokumentieren: muslimische Gemeinheit und liberale Feigheit.

Während sich Caldwell mit dem toten Pim Fortuyn verbündet, begibt sich Bawer in die Nähe von dessen politischen Nachfolger, Geert Wilders, mit dem er ein Interview führte, das dann unter anderem auf der antiislamischen Website wie „Die grüne Pest“ verbreitet wurde.

Dass Wilders’ Vergleich des Korans mit Hitlers „Mein Kampf“ zu einer Anklage wegen Volksverhetzung geführt hat, ist für Bawer Anlass zu klagen, die Redefreiheit in den Niederlanden und im Westen werde zu Tode gewürgt. Wilders gilt ihm als Opfer der islamfreundlichen Verblendung Europas. Wie Caldwell arbeitet Bawer Großereignisse durch, die er als Teilaktionen des Islamdschihad gegen den Westen betrachtet: die 1989 gegen Salman Rushdie ausgesprochene Fatwa des iranischen Präsidenten Khomeini, die Morde an Pim Fortuyn und Theo van Gogh, die Gewaltdrohungen aus der islamischen Welt wegen der islamkritischen Karikaturen und den Mordversuch am Zeichner einer der Karikaturen, Kurt Westergaard.

All dies sind Ereignisse, die schlimm, nicht zu beschönigen, durch nichts zu rechtfertigen und besorgniserregend sind. Nur bilden sie keinen erkennbaren Zusammenhang, aus dem sich eine globale Bedrohung der westlichen Grundrechte herleiten ließe.

Was diese amerikanischen Autoren und ihren deutschen Mitstreiter Thilo Sarrazin verbindet, ist die spürbare Herkunft ihrer Alarmrufe aus purem Ressentiment. Während Theo van Gogh die „Ziegenficker“ verhöhnte, Sarrazin über „Importbräute“ oder „Kopftuchmädchen“ lästert und den deutschen IQ-Durchschnitt wegen angeblicher türkischer Blödheit in den Keller sinken sieht, findet Bawer nichts verwerflicher als die Mahnung, im Umgang mit Muslimen mit Feingefühl zu sprechen. Mit all ihrer Sensibilität haben seiner Ansicht nach die Gutmenschen nur eines erreicht: „Free speech is in crisis.“

Aber wie möchte Bawer das kühn verteidigte Recht auf freie Rede nutzen? Er möchte vor allem eines: „call a fanatic a fanatic“. Das Ressentiment und die mit ihm verschwisterte Paranoia setzen sich das Krönchen auf, indem sie als Kämpfer für Freiheit oder Gerechtigkeit oder Retter der Welt auftreten. Das ist ein uraltes Muster. Aber Sarrazin ist kein Rassist. Die SPD sollte ihn nicht durch einen Hinauswurf adeln. Wollte man jedes Mitglied, das dummes Zeug redet, aus der Partei werfen, könnte man die meisten Ortsvereine schließen. Sarrazin ist ein Importeur amerikanischer Untergangsbilder. Aus dem sarrazynischen Ressentiment lässt sich lernen, dass die Intelligenz, über die er gewiss verfügt, zu groß ist, um die zeitgenössische Welt zu verstehen.

 

Manfred Schneider lehrt Germanistik in Bochum. Demnächst erscheint sein Buch „Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft“ (Matthes & Seitz)

mit freundlicher Genehmigung des Autors, © Prof. Manfred Schneider, Erstveröffentlichung in der Frankfurter Rundschau, 02.09.2010

 

 

© Puppen, Mährisches Landesmuseum Brno/Brünn

 



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