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Die mutigen Frauen von Pussy Riot

zusammengestellt von Katja Schickel

 

Jekaterina Samuzewitsch, 29, Maria Aljochina, 24 und Nadeshda Tolokonnikova, 22, drei Musikerinnen der russischen Punkband Pussy Riot sind am 17.08.2012 von einem Moskauer Gericht wegen "religiös motivierten Rowdytums" schuldig gesprochen und zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt worden. Es handelt sich dabei um zwei Jahre Arbeitslager in einer Strafkolonie. Richterin Marina Syrowa begründete das Strafmaß mit Rowdytum aus religiösem Hass. Syrova warf den drei Frauen zudem vor, sie hätten "keine Reue gezeigt", die "öffentliche Ordnung verletzt" und die "Gefühle der Gläubigen beleidigt". Die knapp sechsmonatige Untersuchungshaft wird angerechnet. Im Februar protestierte die Band in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche mit einem sogenannten Punk-Gebet gegen den damaligen Regierungschef und jetzigen Präsidenten Wladimir Putin.

Vor der Urteilsverkündung sagte Tolokonnikova: "Wir sind glücklich, dass wir unabsichtlich das Epizentrum eines großen politischen Geschehens geworden sind, das so viele verschiedene Gruppen einbezieht".

 

© Iliya Varlamov/Reuters 

  

Chronologie des Falles –

Anfang einer religiös-kirchlich-politischen Farce in Russland

Pussy Riot ist eine russische feministische Punk-Band, die im Oktober 2011 gegründet wurde. Mit einer Reihe friedlicher Auftritte an markanten Plätzen hat die Band den Grundrechten, die im heutigen Russland bedroht sind, eine Stimme verliehen, indem sie die Werte und Prinzipien von der Gleichstellung der Geschlechter, Demokratie und Meinungsfreiheit zum Ausdruck brachten, die in der Russischen Verfassung und Internationalen Übereinkommen einschließlich der Universellen Erklärung der Menschenrechte und der CEDAW Konvention festgeschrieben sind.

- 21. Februar 2012. Pussy Riot führt einen Punk-Bittgottesdienst mit dem Refrain „Mutter Gottes, Jungfrau, werde Feministin. Vertreibe Putin.“ vor dem Altar der Christi-Erlöser-Kirche in Moskau durch. Das ‚Gebet‘ dauerte weniger als eine Minute, danach werden die Bandmitglieder von dem Sicherheitsdienst der Kirche entfernt. - Am selben Tag wird ein geschnittenes Video des ‚Punk-Bittgottesdienstes bei Youtube hochgeladen, dass mit mehr als 600.000 Clicks Beachtung findet. //youtube.com/watch?v=GCasuaAczKY&feature=related - In den nächsten Tagen initiiert die Russisch-Orthodoxe Kirche einen Kriminalfall mit dem Vorwurf des „Rowdytums“ und einer Höchststrafe von sieben Jahren. Eine Sonderabteilung des FSB nimmt sich des Falles an, während orthodoxe Aktivisten die Namen der mutmaßlichen Bandmitglieder online stellen. Eine massive Hetzkampagne in den Medien und der Öffentlichkeit gegen die „blasphemischen Frauen“ beginnt.

- 03. März 2012. Am Vortag der kontroversen Präsidentenwahlen werden zwei mutmaßliche Bandmitglieder verhaftet: Marija Alechina (Umweltschutzaktivistin) und Nadeshda Tolokonnikova (Bürgerrechtsaktivistin) werden in Moskau festgenommen. Beide Frauen erklären aus Protest einen Hungerstreik und und nehmen ihr von Artikel 51 der Russischen Verfassung garantiertes Recht zu Schweigen in Anspruch. - Unter Verletzung des Gesetzes, das eine vorläufige Festnahme für maximal achtundvierzig Stunden zulässt, werden die beiden Frauen vor einer offiziellen Beschuldigung und ohne Beweise dafür, festgehalten. Der Fall Pussy Riot erhält die Einordnung „von besonderer Wichtigkeit“, es wird eine Gruppe aus fünf Ermittlern unter Leitung von Oberstleutnant A. Radchenkov eingerichtet.  

www.freepussyriot.org geht online. 

- 14. März 2012. Der Antrag der Verteidigung auf Haftverschonung wird abgelehnt. Beide Verdächtige bleiben bis zur Hauptverhandlung am 24. April 2012 in Haft (detaillierter Bericht über die Anhörung:http://freepussyriot.org/news/pussy-riot-case-detailed-report-rejection-...) Ein Handgemenge bricht im Gericht aus (siehe Reuters 
http://www.dailymotion.com/video/xpfztc_scuffles-break-out-at-pussy-riot...

- 15. März 2012: Ekaterina Samutsevic, vorher Zeugin in dem Fall, wird zur Verdächtigen und bis zum 24. April 2012 in Haft genommen. Die dritte Verhaftete nimmt ihr Recht zu schweigen in Anspruch. Nadeshda und Marija werden offiziell des „Rowdytums“ beschuldigt. 

- 19. März 2012. Die Verteidigung beantragt Haftverschonung für Ekaterina. Nach Berichten der Verteidigung stehen alle drei Frauen unter illegaler 24-stündiger Videoüberwachung. Währenddessen droht die Ermittlergruppe Marija und Nadeshda, beide Mütter, sie könnten das Sorgerecht verlieren. Die Russisch-Orthodoxe Kirche fordert die Behörden in einer offiziellen Stellungnahme dazu auf, die strengst möglichen Maßnahmen gegen die „blasphemischen Frauen“ zu treffen und ruft alle Orthodoxen, die mit den Frauen sympathisieren, auf, sich der ecclesia militans et triumphans anzuschliessen.

© dpa

Abschlusserklärung von Nadeshda Tolokonnikova

am 8. August 2012 vor dem Khamovnichesky Gericht in Moskau

Im Grunde sind es nicht bloß drei Sängerinnen von Pussy Riot, die hier vor Gericht stehen. Wäre dies der Fall, wäre, was gerade passiert, völlig unbedeutend. Vor Gericht steht das gesamte staatliche System der Russischen Föderation, das sich, unglücklicherweise für es selbst, in seiner Grausamkeit gegen Menschen gefällt, in seiner Gleichgültigkeit gegen ihre Ehre und Würde, das Schlimmste also, was in der russischen Geschichte bislang geschehen ist. Zu meinem tiefsten Bedauern ist dieser Schauprozess nahe an den Standards der stalinistischen Troikas. Wir haben folglich unseren Ermittlungsbeamten, Richter und Rechtsanwalt. Wichtiger ist, das alles, was die Drei tun, sagen und entscheiden, bestimmt ist durch die politische Forderung nach Repression. Wer ist am Auftritt in der Erlöser-Kirche und unserer Festnahme danach schuld? Das autoritäre politische System ist schuld! Was Pussy Riot macht, ist oppositionelle Kunst oder Politik, die sich auf etablierte Formen der Kunst stützt. In jedem Fall ist es eine Art ziviler Klage gegen Zustände, in denen grundlegenden Menschenrechte, bürgerliche und politische Freiheiten, vom Staat unterdrückt werden. 

© Iliya Varlamov/Reuters

Seit der Jahrtausendwende haben viele Menschen, die durch die systematische Zerstörung von Freiheiten schonungslos und systematisch fertig gemacht wurden, dagegen rebelliert.

Wir suchten nach Authentizität und Einfachheit, und wir fanden sie im heiligen Leichtsinn unserer Punk-Auftritte. Leidenschaft, Offenheit und Naivität sind der Heuchelei, der Durchtriebenheit und einer bloß behaupteten Ehrbarkeit, die Verbrechen verbirgt, weit überlegen. Die staatlichen Führer stehen mit frömmelnden Bekundungen in der Kirche, aber mit diesem Täuschungsmanöver sind ihre Sünden weit größer als unsere. Wir haben unsere politischen Punk-Konzerte inszeniert, weil der russische Staat dominiert wird von Rigidität, Geschlossenheit und Kastendenken, und die praktizierte Politik nur sehr engen unternehmerischen Interessen dient, so sehr, dass uns sogar die russische Luft krank macht. 

Wir sind absolut nicht glücklich mit - und sind gezwungen worden, politisch zu handeln und zu leben wegen – der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, um mit sozialen Prozessen umzugehen; eine Situation, in der die wichtigsten politischen Institutionen identisch sind mit den disziplinären Strukturen des Staates – den Sicherheitsbehörden, der Armee, der Polizei, den Spezialeinheiten und der mit ihnen einhergehenden Mitteln zur Gewährleistung politischer Stabilität: Gefängnisse, Sicherungsverwahrung und Mechanismen zur Steuerung des öffentlichen Verhaltens. Wir sind auch nicht glücklich über die erzwungene Passivität des Großteils der Bevölkerung oder die totale Herrschaft der Exekutive über Legislative und Judikative. Darüber hinaus sind wir wirklich aufgebracht wegen des angstbesetzten und skandalös niedrigen Niveaus politischer Kultur, das ständig und wissentlich durch den Staat und seine Komplizen klein gehalten wird. Schauen Sie, was Patriarch Kirill gesagt hat: „Orthodoxe gehen nicht zu Kundgebungen.“ Wir sind verärgert über die erschreckende Schwäche horizontaler Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Wir mögen die Art und Weise nicht, mit der der Staat die öffentliche Meinung manipulieren kann, vor allem durch seine straffe Kontrolle der überwältigenden Mehrheit aller Medien. Ein perfektes Beispiel ist die schamlose Kampagne gegen Pussy Riot, die auf der Verdrehung von Tatsachen und Worten basiert und von fast allen russischen Medien mitgetragen wurde, abgesehen von den wenigen unabhängigen Medien, die es in diesem politischen System noch gibt. 

Trotzdem kann ich heute konstatieren, dass trotz der Tatsache, dass derzeit eine autoritäre politische Situation herrscht, ich dieses politische System im Hinblick auf die drei Mitglieder von Pussy Riot zu einem gewissen Grad zusammenbrechen sehe, weil das, womit es gerechnet hat, für dieses System leider nicht in Erfüllung gegangen ist. Russland als Ganzes hat uns nicht verurteilt. Jeden Tag glauben uns mehr und mehr Menschen, glauben an uns und denken, wir sollten eher frei sein statt hinter Gittern. Ich sehe das bei den Menschen, die ich treffe. Ich treffe Leute, die das System repräsentieren, die für die zuständigen Stellen arbeiten. Ich sehe Menschen, die im Gefängnis sind. Und jeden Tag gibt es mehr Menschen, die uns unterstützen, die unseren Erfolg erhoffen und vor allem unsere Freilassung, die sagen, dass unsere politische Aktion gerechtfertigt war. Sie sagen uns: „Anfangs waren wir nicht sicher, ob ihr das gemacht habt“. Jeden Tag gibt es jedoch mehr Menschen, die sagen: „Die Zeit wird beweisen, dass eure politische Haltung richtig war. Ihr habt auf den Krebs in diesem politischen System gezeigt und denen einen Schlag versetzt, die wie Vipern – aufgescheucht aus ihrem Unterschlupf - auf euch losgegangen sind.“ Diese Menschen versuchen, uns das Leben in jeder erdenklichen Weise leichter zu machen machen, und wir sind ihnen sehr dankbar dafür. .. 

© Reuters 

Wir sind dankbar für all jene, die sich selbst befreien und ihre Stimme erheben, um uns zu unterstützen. Ich weiß, es sind eine Menge Leute. Ich weiß, dass eine große Zahl orthodoxer Menschen auf unserer Seite stehen. Sie beten für uns außerhalb des Gerichtssaals, für die Mitglieder von Pussy Riot, die inhaftiert sind. Wir haben die kleinen Hefte gesehen, die orthodoxe Menschen verteilen, mit Gebeten für die, die im Gefängnis sind. Dies zeigt schon, dass es keine einheitliche soziale Gruppe orthodoxer Gläubiger gibt, wie die Staatsanwaltschaft gerne behauptet. Die existiert einfach nicht. Mehr und mehr Gläubige beginnen, Pussy Riot zu verteidigen. Sie glauben, dass wir nicht einmal fünf Monate Haft verdient haben, geschweige denn drei Jahre Gefängnis, wie jetzt der Staatsanwalt fordert. Und jeden Tag erkennen immer mehr Menschen, dass, wenn dieses politische System sich in dieser Weise verschwört gegen drei Mädchen und deren 30-Sekunden-Auftritt in der Erlöser-Kirche, das System Angst hat vor der Wahrheit und Angst vor unserer Aufrichtigkeit und Direktheit. Wir haben nichts verborgen gehalten, nicht eine Sekunde lang, nicht eine Minute während des ganzen Prozesses, aber auf der anderen Seite herrscht viel Heuchelei, und die Leute können es spüren. Menschen spüren die Wahrheit. Wahrheit hat wirklich eine Art von ontologischer, existentieller Überlegenheit über Lügen - und in der Bibel, im Alten Testament, steht es geschrieben. Am Ende triumphiert Wahrheit über Bosheit, Hinterlist und Lüge. Und mit jedem Tag, der vergeht, spüren wir den Siegeszug der Wahrheit, obwohl wir immer noch hinter Gitter sind und vielleicht noch viel länger hier sein werden.

Madonna ist gestern (7. August) aufgetreten. Sie erschien mit dem Schriftzug Pussy Riot auf ihrem Rücken. Immer mehr Menschen sehen, dass wir hier rechtswidrig und auf Grundlage einer völlig falschen Anklage festgehalten werden – und ich bin überwältigt. Ich bin überwältigt, dass die Wahrheit wirklich triumphiert, obwohl wir physisch in einem Käfig gefangen sind. Wir sind freier als die Leute, die uns gegenüber auf der Seite der Staatsanwaltschaft sitzen, weil wir alles, was wir gerne sagen möchten, sagen, aber diese Leute dort nur sagen dürfen, was die politische Zensur ihnen zu sagen erlaubt. Sie können Worte wie Punk Prayer oder Virgin Mary, Banish Putin! nicht aussprechen. Sie können die Zeilen unseres Punk Gebets, die mit dem politischen System zu tun haben, nicht nachsprechen. Vielleicht denken sie, es wäre eine gute Sache, uns ins Gefängnis zu stecken, weil wir uns gegen Putin und sein System erheben, aber auch das können sie nicht sagen, weil es ebenfalls nicht erlaubt ist. Ihre Münder sind wie zugenäht. Sie sind leider nur Marionetten. Ich hoffe, sie erkennen dies und gehen auch den Weg der Freiheit, Wahrheit und Aufrichtigkeit, weil die dem Stillstand, der aufgesetzten Wohlanständigkeit und der Heuchelei überlegen sind. Stillstand und die Suche nach Wahrheit sind immer in Opposition zueinander. In diesem Prozess können wir Menschen sehen, die versuchen, die Wahrheit zu finden, und Menschen, die versuchen, diejenigen, die die Wahrheit finden wollen, unterzukriegen.

Menschen sind Lebewesen, die immer wieder Fehler machen. Sie sind nicht perfekt. Sie streben nach Weisheit, aber haben sie nie wirklich ganz. Das ist genau, weshalb Philosophie entstand, weil Philosophen Menschen sind, die Weisheit lieben und sich um sie bemühen, aber sie nie wirklich besitzen, und dieses Wissen lässt sie so handeln und denken und letztlich leben, wie sie es tun. Das war der Grund für uns, in die Erlöser-Kirche zu gehen. Ich denke, dass das Christentum, wie ich es aus dem Studium des Alten und Neuen Testaments verstanden habe, die Suche nach Wahrheit und die dauerhafte Überwindung des Selbst unterstützt, zu überwinden hilft, was man einmal war. Nicht von ungefähr hat Christus sich mit Prostituierten verbündet. Er sagte, wir sollten denjenigen helfen, die gestolpert sind, und sagen: „Ich vergebe euch“ - aber aus irgendeinem Grund kann ich in diesem Prozess, der doch unter dem Banner des Christentums stattfindet, nichts davon sehen. Ich denke, die Staatsanwaltschaft setzt sich über das Christentum hinweg. [...] 

Ich denke, einige höhere Mächte führen die Reden der Anwälte der anderen Seite, wenn sie von Zeit zu Zeit Fehler machen in dem, was sie sagen, und wenn sie uns immer wieder die „geschädigte Partei“ nennen. Fast alle Juristen tun es, einschließlich der Anwältin Pavlova, die uns gegenüber sehr negativ eingestellt ist. Dennoch veranlassen auch sie einige höhere Mächte, von „den Geschädigten“ zu sprechen, wenn sie über uns spricht. Ich verpasse Menschen keine Etiketten. Ich glaube nicht, dass es hier Gewinner und Verlierer gibt, Geschädigte oder Angeklagte. Wir brauchen nur Kontakt herzustellen, um einen Dialog und eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit zu organisieren, zusammen die Weisheit zu suchen, Philosophen zu sein, anstatt Leute zu stigmatisieren und zu etikettieren. Das gehört zu den schlimmsten Dingen, die Menschen tun können, und Christus verurteilte sie.Wir waren während des gesamten Prozesses einem Missbrauch unterworfen. Wer hätte gedacht, dass ein Mann und das staatliche System, das er kontrolliert, noch einmal in der Lage sein würde, bewusst das Böse heraufzubeschwören? Wer hätte gedacht, dass die Geschichte und insbesondere Stalins Großer Terror, uns überhaupt nichts lehren würde? Man möchte heulen, wenn man sieht, wie die Methoden der mittelalterlichen Inquisition wieder Anwendung finden bei den Strafverfolgungs- und Justizbehörden der Russischen Föderation, die auch unser Land ist. Seit unserer Verhaftung können wir nicht mehr weinen. Wir haben vergessen, wie man weint. In unseren Punk-Konzerten schrien wir unsere Verzweiflung über die Untaten der Behörden so gut wir eben konnten heraus, und jetzt sind wir unserer Stimme beraubt.

In diesem ganzen Prozess haben sie sich geweigert, uns anzuhören, uns zuzuhören, was Verständnis und darüber hinaus Denken beinhaltet. Ich denke, jeder einzelne sollte sich bemühen, Wissen zu erlangen, ein Philosoph zu werden, nicht nur Menschen, die Philosophie studiert haben. Das bedeutet nichts. Formale Bildung ist nichts aus sich selbst heraus, und Rechtsanwältin Pavlova beschuldigt uns ständig, nicht ausreichend gut erzogen zu sein. Ich denke aber, das Wichtigste ist der Wunsch zu begreifen und zu verstehen, und das ist etwas, was Menschen für sich selbst außerhalb von Bildungsinstitutionen lernen können. Die Erlangung akademischer Grade bedeuten in diesem Fall gar nichts. Jemand kann einen riesigen Fundus an Wissen haben und dennoch nicht human sein. Pythagoras sagte, dass „das Lernen von vielen Dingen nicht das Verstehen lehrt.“ Leider ist das etwas, was wir hier gezwungen sind zu beobachten. Wir sind nur ein Teil der Dekoration, ein bisschen Tier- und Pflanzenwelt, nur Körper, die in den Gerichtssaal gebracht werden. Wenn - nach vielen Tagen der Befragung, des Gesprächs und des Kampfes - unsere Petitionen geprüft werden, werden sie natürlich immer abgelehnt.

Das Gericht, auf der anderen Seite, hört - leider für uns und unser Land – dem Staatsanwalt zu, der ungestraft immer wieder unsere Kommentare und Aussagen entstellen darf, um sie zu neutralisieren. Es wird nicht einmal versucht, diese Rechtsverletzung zu verbergen. Sie scheinen sogar damit zu prahlen. Am 30. Juli, dem ersten Prozesstag, präsentierten wir unsere Antwort auf die Anschuldigungen gegen uns. Davor waren wir im Gefängnis, standen unter Arrest. Wir konnten dort nichts tun: keine Aussagen machen, nicht filmen, kein Internet benutzen. Wir konnten nicht einmal unserem Anwalt Papiere geben, weil das auch verboten ist. Unsere erste Chance zu sprechen kam am 30. Juli. Das Dokument, das wir geschrieben hatten, wurde von der Strafverteidigerin Volkova verlesen, weil das Gericht sich weigerte, die Angeklagten selbst sprechen zu lassen. Wir forderten Kontakt und Dialog statt Konflikt und Opposition. Wir streckten denen eine Hand entgegen, die aus irgendeinem Grund annahmen, wir seien ihre Feinde. Als Reaktion darauf lachten sie uns aus und spuckten in unsere ausgestreckten Hände. „Ihr seid unaufrichtig,“ sagten sie uns. Aber sie brauchen sich nicht weiter bemühen. Richtet nicht andere nach euren Maßgaben. Wir waren wie immer, ernst in dem, was wir sagten, und sagten genau das, was wir dachten, sicherlich von kindlicher Naivität geprägt, aber wir bereuen nichts, was wir an diesem Tag gesagt haben. Wir werden geschmäht, aber wir haben nicht die Absicht, im Gegenzug zu lästern. Wir sind in einer verzweifelten Lage, aber nicht verzweifelt. Wir sind verfolgt, aber nicht verlassen. Es ist einfach, Menschen, die offen sind, zu demütigen und zu brechen, aber wenn ich schwach bin, dann bin ich auch stark.

Hört uns zu statt Arkady Mamontov, wenn er über uns redet. Verdreht und verzerrt nicht alles, was wir sagen. Lassen Sie uns in Dialog und Kontakt mit dem Land treten, das auch unseres ist, nicht nur das Putins und des Patriarchen. Wie Solschenizyn glaube ich, dass am Ende Worte Beton aufbrechen können. Solschenizyn schrieb, „das Wort ist älter als Beton. Das Wort sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. In genau der gleichen Weise werden ehrenwerte Menschen plötzlich aufspringen und ihr Wort wird den Beton aufbrechen.“

Katja, Mascha und ich sind im Gefängnis, aber ich gehe nicht davon aus, dass wir besiegt sind. Auch die Dissidenten wurden nicht geschlagen. Als sie in psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen verschwanden, hinterließen sie dem Land Werte. Die Kunst, das Bild einer Ära zu erschaffen, kennt keine Gewinner oder Verlierer. Die OBERIU Dichter blieben Künstler bis zum Ende, unmöglich sie zu erklären oder ganz zu verstehen. Sie wurden im Jahre 1937 ausgelöscht. Vvedensky schrieb: „Wir mögen, was nicht verstanden werden kann. Alles, was nicht erklärt werden kann, ist unser Freund.“ Laut Totenschein starb Aleksandr Vvedensky am 20. Dezember 1941. Wir kennen nicht die Ursache, ob er im Zug einer Diarrhoe in Folge seiner Haft erlag oder der Kugel eines Wachpostens zum Opfer fiel. Es war jedenfalls irgendwo auf der Bahnstrecke zwischen Woronesch und Kazan. Pussy Riot sind Vvedenskys Jünger und seine Erbinnen. Sein Prinzip des „schlechten Reims“ ist unser eigenes. Er schrieb: „Es kann passieren, dass dir zwei Reime durch den Kopf gehen, ein guter und ein schlechter, dann wähle den schlechten. Es wird der richtige sein.“ Was nicht erklärt werden kann, ist unser Freund. Die elitäre, anspruchsvolle Beschäftigung der OBERIU Dichter, ihre Suche nach Sinn am Rande der Bedeutung haben sie letztlich auf Kosten ihres Lebens realisiert, sie wurden hinweg gefegt im sinnlosen Großen Terror, was unmöglich zu erklären ist. Auf Kosten ihrer eigenen Leben demonstrierten die OBERIU Dichter ungewollt, dass das Gefühl der Bedeutungslosigkeit und des Alogismus als wahre Essenz der Zeit richtig war, und zur gleichen Zeit die Kunst ins Reich der Geschichte führte. Der Preis für die Teilnahme an wichtigen geschichtlichen Prozessen ist für Menschen und ihr Leben erstaunlich hoch. Aber diese Teilhabe ist die besondere Würze des menschlichen Lebens. Arm sein, während der Reichtum auf viele verteilt wird; nichts haben, aber alles besitzen. Es wird angenommen, dass die OBERIU Dissidenten tot sind, aber sie leben. Sie werden verfolgt, aber sie sterben nicht.

© Reuters

Erinnerst du dich, warum der junge Dostojewski zum Tode verurteilt wurde? Alles, was er getan hatte, war sich von sozialistischen Theorien mitreißen zu lassen; und an den Freitagstreffen eines freundlichen Freidenker-Kreises bei Petraschewskij lernte er die Werke von Charles Fourier und George Sand kennen. An einem der letzten Treffen las er Bjelinskijs Brief an Gogol, der – dem Gericht zufolge - voll von, und beachten Sie bitte, „kindischen Äußerungen gegen die orthodoxe Kirche und die obersten Behörden“ war. Nach all seinen Vorbereitungen auf die Vollstreckung des Todesurteils und zehn schrecklichen, unglaublich beängstigenden Minuten, in denen er auf das Sterben wartete, wie Dostojewski selbst formulierte, kam die Ankündigung, dass seine Strafe zu vier Jahren Zwangsarbeit umgewandelt worden war, denen der Militärdienst folgen sollte. Sokrates wurde angeklagt, die Jugend mit seinen philosophischen Diskursen zu korrumpieren und die Götter von Athen nicht anzuerkennen. Sokrates hatte eine Verbindung zu einer göttlichen inneren Stimme und war keineswegs ein Gottesgegner, wie er oft selbst betonte. Aber was machte das schon, wenn er die einflussreichsten Männer der Stadt mit seinem kritischen, dialektischen und unvoreingenommenen Denken verärgerte? Sokrates wurde zum Tode verurteilt, schlug die Option davonzulaufen aus, trank ruhig den Schierlingsbecher und starb.

Haben Sie die Umstände vergessen, unter denen Stephan, Gefolgsmann der Apostel, sein irdisches Leben beendete? „Dann haben sie heimlich Männer veranlasst zu sagen: 'Wir haben gehört, wie er Lästerungen ausstieß gegen Moses und Gott'. Und sie brachten das Volk, die Ältesten und Schriftgelehrten gegen ihn auf, und sie überwältigten ihn, schleppten ihn weg und brachte ihn vor den Großen Rat. Und es gab falsche Zeugen, die sagten: 'Dieser Mann spricht unaufhörlich gegen diese heilige Stätte und gegen das Gesetz'.“ Er wurde für schuldig befunden und zu Tode gesteinigt. Und ich hoffe, dass jeder sich erinnert, was die Priester zu Christus sagten: „Wir steinigen dich nicht wegen deinem guten Werk, sondern wegen Gotteslästerung.“ Und schließlich wäre es gut, sich an diese Beschreibung von Christus zu erinnern: „Er ist von einem Dämon besessen und verrückt im Kopf.“

Ich glaube, wenn Führer, Zaren, Älteste, Präsidenten und Premierminister, die Menschen und die Richter wirklich verstünden, was „Ich will Barmherzigkeit, nicht Opfer“ meint, sie würden Unschuldige nicht verdammen. Unsere Führer haben es derzeit eilig, zu verurteilen und überhaupt keine Gnade zu zeigen. Übrigens danken wir Dmitry Medvedev Anatolievich für seinen letzten wunderbaren Aphorismus. Als Medwedew seine Präsidentschaft unter das Motto stellte: „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, hat Putins dritte Amtszeit, dank des gelungenen Spruchs von Medwedew, eine gute Chance durch einen neuen Aphorismus bekannt zu werden: „Gefängnis ist besser als Steinigung.“

 

© Putin und Patriarch Kirill, Sergej Karpukhin/Reuters 

Da wir in der Tat nie - und sind es auch jetzt nicht - durch religiösen Hass und Feindseligkeit motiviert waren, gibt es für unsere Ankläger nichts anderes zu tun, als sich auf die Hilfe von falschen Zeugen zu berufen. Einer von ihnen, Motilda Ivashchenko, schämte sich und zeigte sich nicht vor Gericht. Das linke falsche Zeugnis von [Vsevolod] Troitsky, [Igor] Ponkin und Frau [Vera] Abramenkova: Es gibt keine Hinweise auf Hass oder Feindschaft unsererseits, nur die aus dieser Experten-Einvernahme. Aus diesem Grund, wenn es ehrenhaft und gerecht ist, darf das Gericht unzulässiges Beweismaterial nicht verwenden, weil es nicht ein streng wissenschaftlicher oder objektiver Text ist, sondern schmutziges, verlogenes Papier aus den mittelalterlichen Tagen der Inquisition. Es gibt keine anderen Beweise, die auch nur im entferntesten ein Motiv andeuteten. Die Staatsanwaltschaft ist zurückhaltend, Abschriften der Texte von Pussy Riot Interviews vorzulegen, weil sie primär den Mangel an Motiven dokumentieren. Zum x-ten Mal zitiere ich aus einem Auszug. Ich denke, er ist wichtig. Er stammt aus einem Interview mit Russki Reporter, einen Tag nach dem Konzert in der Erlöser-Kirche: „Unsere Haltung gegenüber der Religion und der Orthodoxie im Besonderen ist eine des Respekts, und aus diesem Grund sind wir beunruhigt, dass die große und hell leuchtende christliche Philosophie so schäbig verwendet wird. Wir sind sehr wütend über diesen Missbrauch des Erhabenen.“ Es macht uns immer noch wütend, und es schmerzt uns sehr, dabei zuzuschauen.

Der Mangel an Hass oder Feindseligkeit in jeder unserer Shows wurde von allen ZeugInnen, die von der Verteidigung nach ihrer Überprüfung benannt wurden, bescheinigt. Zusätzlich zu all den anderen Aussagen würde ich Sie bitten, die Ergebnisse der Untersuchungen mittels der psychiatrischen und psychologischen Tests, denen ich mich während meiner Haft zu unterziehen hatte, zu berücksichtigen. Die Experten-Ergebnisse waren wie folgt: Die Werte, auf die ich mich in meinem Leben beziehe, sind Gerechtigkeit, gegenseitiger Respekt, Menschlichkeit, Gleichheit und Freiheit. Das ist, was der Experte sagte, jemand, der mich nicht kannte - und der leitende Ermittlungsbeamte Radchenko hätte es vermutlich lieber gehabt, er hätte etwas anderes geschrieben. Es scheint jedoch, dass es mehr Menschen gibt, die die Wahrheit lieben und schätzen - und der Bibel recht geben.

© lifo.gr 

 

Pussy Riot - Punk Prayer

veröffentlicht auf YouTube am 10.03.2012

 

(Chorus) St. Maria, Virgin, drive away Putin / Drive away! Drive away Putin! (end chorus) // Black robe, golden epaulettes / All parishioners are crawling and bowing / The ghost of freedom is in heaven / Gay pride sent to Siberia in chains //
The head of the KGB is their chief saint / Leads protesters to prison under escort / In order not to offend the Holy / Women have to give birth and to love //
Holy shit, shit, Lord's shit! / Holy shit, shit, Lord's shit!
(Chorus)
St. Maria, Virgin, become a feminist / Become a feminist, Become a feminist (end chorus)
Church praises the rotten dictators / The cross-bearer procession of black limousines / In school you are going to meet with a teacher-preacher / Go to class - bring him money!//
Patriarch Gundyaev believes in Putin / Bitch, you better believed in God / Belt of the Virgin is no substitute for mass-meetings / In protest of our Ever-Virgin Mary!//
(Chorus)
St. Maria, Virgin, Drive away Putin / Drive away! Drive away Putin! (end chorus)

 

 

©Peaches, Free Pussy riot


© Englische Fassung:  freepussyriot.org; Übersetzung des Textes von Nadeshda Tolokonnikova: Katja Schickel 

VIII-2012 

 

(s. auch Spots)



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