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Quo Vadis, Ukraine





Eine kritische Betrachtung aus slowakischer Sicht
von
Daniela Capcarová

 


Verfolgt man als Bürgerin der ehemaligen Tschechoslowakei das jetzige Geschehen in der Ukraine, hat man plötzlich ein Déjà-vu Erlebnis – und das erinnert an die Tage der Samtenen Revolution 1989, an ähnliche Zustände und Situationen, die Hoffnung auf ein besseres Leben und dann an das Erwachen jetzt, fünfundzwanzig Jahre nach der Wende. Es gibt nur einen einzigen Unterschied: Heute hat man mehr Informationen über die damaligen politischen Umstände. Darüber hinaus erhielt man im Laufe der Zeit von verschiedenen Personen aus dem In- und Ausland zusätzliche Einblicke, die nun ein anderes Licht auf diese Revolution werfen. Ein klareres Licht, von positiven wie negativen Emotionen befreit, vom damaligen Schauder, der einem über den Rücken lief, von der Aufregung, von den falschen Hoffnungen, Erwartungen und einer Art von Naivität. Ohne diese Naivität jedoch hätte vielleicht gar keine Revolution stattgefunden.

Jede Revolution braucht einen Funken, und den gab es auch in der Ukraine – ähnlich wie damals in der Tschechoslowakei. Die Samtene Revolution startete in Prag, sozusagen mit den Schlagstöcken der Polizei auf demonstrierende StudentInnen; die Probleme in der Ukraine eskalierten durch das brutale Vorgehen dortiger Sicherheitskräfte.
Verständlich ist auch der Ruf der ukrainischen Bevölkerung nach wirklicher Demokratie, nach einer von Korruption befreiten Republik sowie nach besseren ökonomischen Bedingungen für jeden einzelnen Menschen im Land. Verständlich ist auch der Zorn unserer östlichen Nachbarn auf Janukovič, der sich in ihren Augen von den Russen kaufen ließ.


Betrachtet man die Entwicklung allerdings mit den Augen eines Menschen, der in der Ostslowakei lebt und die Auswirkungen des Wegfalls der russischen Märkte hautnah an sich selbst und für andere Menschen erlebt hat, stellt man fest, dass das Wegbrechen dieses östlichen Marktes eine ganze Region, nämlich die der Ostslowakei, wirtschaftlich und menschlich kaputt gemacht hat. Schuh-und Textilbetriebe, die für den riesigen Sowjetmarkt produzierten, mussten schließen, hochqualifizierte ArbeiterInnen blieben ohne Erwerbsarbeit. Einen Kollaps erlebte die gesamte Rüstungsindustrie, also mindestens zwei Betriebe mit insgesamt viertausend Arbeitern in der Ostslowakei. Bis heute ist es nicht gelungen, für all diese Menschen Ersatzarbeitsplätze zu schaffen – die gut ausgebildeten Schusterinnen (wie eine meiner Mitschülerinnen aus der Grundschule) fahren jetzt nach Österreich, um dort als Pflegekräfte zu arbeiten. Allerdings um den Preis, dass sie ihre Familien in der Ostslowakei mindestens für jeweils zwei Wochen verlassen müssen. Welche Auswirkungen dieses Pendeln auf die Familien hat, kann sich eigentlich jeder Mensch ausmalen. (s. hier auch: Skype Mama!)


Warum ich das erwähne? Weil ich denke, dass es im jetzigen Konflikt neben dem Wunsch nach Demokratie auch um die Wirtschaft geht. Die Ukraine hat zwar einerseits siebenundzwanzig Milliarden Dollar Auslandsschulden, die ihr eine denkbar schlechte Verhandlungsposition bescheren, andererseits ist sie mit ihren fünfzig Millionen EinwohnerInnen ein sehr interessanter Markt für westliche Investoren. Und dies in allen Bereichen: Energie, Dienstleistungen, Bank- und Versicherungswesen – und gerade in einer Zeit der Krise, in der die Wirtschaft neue Impulse braucht. Die Ukraine bezieht von Russland fünfzig Prozent seines Gases, fünfundzwanzig Prozent des Benzins und fast den gesamten Plutonium-Brennstoff für ihre fünfzehn Atomkraftwerke – und an diese Stelle würden sehr gerne westliche Unternehmen treten, wie es auch bei uns nach der Wende der Fall war. Es gibt noch einen wichtigen Pluspunkt der Ukraine: ihre Rohstoffe – was der wahre Grund sein dürfte, warum sich im dortigen „Demokratisierungsprozess“ auch die USA engagieren. Die Ergebnisse solcher Demokratisierungsprozesse unter US-amerikanischer Obhut waren schon in Ägypten, Libyen und dem Irak zu besichtigen – dass es sich um Öl-Länder handelt, wundert heutzutage niemanden.

 

Ein weiterer Bonus der Ukraine ist das Schwarze Meer. Wenn wir auf die Länder rings um das Schwarze Meer blicken, sind sie mehrheitlich bereits Mitglieder der NATO: Rumänien, Bulgarien, die Türkei, auch Georgien ist inzwischen ein Verbündeter der USA. Wenn die Ukraine mit der NATO kokettiert, was zu erwarten ist, ist es kein Wunder, dass sich Russland in der Region bedroht fühlt. Russland nennt seine Flotte immer noch die Schwarzmeerflotte, und daher ist der Kampf Russlands um die Krim verständlich. Das ukrainische Parlament hob vor kurzem das Sprachgesetz auf, das den Russen erlaubte, ihre Muttersprache im Amtsverkehr zu benutzen (dieser Vorstoß wurde allerdings umgehend vom Parlament zurückgewiesen, s. Krims Märchen), in der neuen ukrainischen Regierung haben ukrainischen Russen zudem keine Vertretung, was den Russen wiederum als Vorwand diente, Truppen auf die Krim zu schicken. Die Anerkennung des Kosovo durch die USA und die EU nutzt Russland heute als Präzedenzfall. Sobald sich die Krim-Bevölkerung in dem Referendum für die Zugehörigkeit zu Russland ausspricht, wird die Krim von Russland annektiert, Völkerrecht hin oder her. Wenn das Abtrennen des Kosovo von Serbien von westlichen Mächten akzeptiert werden konnte, sollte dies auch im Fall der Krim funktionieren, so jedenfalls ist die Optik Russlands. Der Haken daran ist nur, dass die westliche Kontrolle der Gewässer um eine russische Krim herum schwieriger wird. Schwieriger wäre dann auch der Zugang zu den Rohstoffen in der Schwarzmeer-Region – für westliche wie US-Unternehmen.

Wenn man in der Nähe der ukrainischen Grenze lebt, bekommt man von den Nachbarn auch authentische Zeugenaussagen über das Geschehen im Nachbarland. Manche Bekannte aus der Ukraine sprachen davon, dass auf den Straßen von Kiew absolut fremde Menschen oder nicht slawisch sprechende Menschen in Uniformen zu beobachten gewesen seien. Das tschechische unabhängige Medium www.britskelisty.cz berichtet über den Einsatz von internationalen Spezialisten – Söldnern, die Banderas sotni unterstützten und auf dem Majdan mitgemischt haben. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit das westliche Ausland und die USA bereits in die Majdan-Revolution involviert waren.


Die USA und Russland sind seit Jahrzehnten Meister der Propaganda. Auf der Krim werden viele pro-russische Aktivisten durch russische Medien beeinflusst. Im Lokalfernsehen dominieren russische Sender wie der Erste Kanal; RTR und NTW Ukraine sperrten ihren MitbürgerInnen daraufhin den Zugang zu russischen Internetmedien, was nicht gerade ein Zeichen eines gesunden „Demokratisierungsprozesses“ ist. Amerikanische Medien wiederum haben die Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Sotschi dermaßen zusammengeschnitten, dass das amerikanische TV-Publikum die positiven Highlights gar nicht zu sehen bekam. Slowaken, die in den USA leben, waren über dieses Vorgehen regelrecht empört, nachdem ihnen ihre Landsleute die Originalübertragung aus Sotschi gemailt hatten. Viele sahen in diesem Vorgehen schon ein Zeichen der Vorbereitung der USA auf die danach folgende Majdan-Revolution. Jedenfalls erinnerte es an den Eröffnungstag der Olympischen Spiele in Peking. Gerade an diesem Tag attackierte die georgische Armee in der südossetischen Stadt Cchinvali die russischen Friedensbeauftragten mit OBSE-Mandat. Trotz der massiven Beschießung von Cchinvali durch georgische Artillerie und die Tötung von Osseten, ist es den Georgiern nicht gelungen, die Stadt zu erobern. Dies galt auch für den Tunnel, der Südossetien mit Russland verbindet. Russische Panzer waren schon fünfzehn Kilometer vor der georgischen Stadt Tbilisi. Nur der damalige französische Präsident Sarkozy flog damals eilig nach Moskau und flehte Putin an, die russische Armee aus Südossetien abzuziehen. Auch dieser Konflikt wurde von einer starken Medienpropaganda begleitet – die Georgier sollten glauben, die Russen hätten dort eine Rakete des Typs Točka abgeschossen, die aber einen rund fünfhundert Meter breiten Krater hätte hinterlassen müssen, was nicht der Fall war. Das georgische Verteidigungsministerium hat der Presse eine Fotomontage einer Rakete vorgelegt. In Wahrheit hatten die Georgier nur ein Modell der Rakete aus dem Militärmuseum fotografiert und künstlich fallen lassen – eben ohne den Krater, den eine wirklich abgeschossene russische Rakete verursacht hätte.


Bleiben wir aber in der Schwarzmeer-Region. Einerseits predigt die jetzige ukrainische Regierung die Wende hin zur Demokratie, und man sollte erwarten, dass sie im Sinne des ukrainischen Volkes handelt und die Korruption im Lande bekämpft, andererseits hat sie ausgerechnet die korrupten Oligarchen zu Gouverneuren der Ostukraine ernannt. Im Gebiet Wassiliew entstand die Volksmiliz Donbass, eine militante Bewegung, die den Anschluss der Ostukraine an Russland fordert. Die Ukraine kann sich allerdings nicht leisten, diese Region zu verlieren. Im Industriegebiet Donbass siedeln riesige Bergbau- und Stahlbetriebe, die in der Exportwirtschaft der Ukraine eine Schlüsselrolle spielen. Die dort ansässigen Großkonzerne treiben die ukrainische Volkswirtschaft an und erarbeiten einen Großteil der Staatseinnahmen.

 

EU und USA drohen Russland mit Sanktionen. Es ist aber schwierig zu drohen, wenn ein Land wie Deutschland fast die Hälfte des Gasaufkommens und eine große Menge Erdöl und Benzin von Russland bezieht. Auf der Basis der guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wurden günstige Preise für diese Rohstoffe ausgehandelt. Wären beispielsweise die Kaufverträge für Rohstoffe zwischen den beiden Ländern auf Rubel-Basis konzipiert gewesen, könnten die Russen schon heute die Rohstoffpreise anheben, einfach aus dem Grund, weil allein die eben stattfindende Inflation des Rubels die Rohstoffpreise um mindestens achtzehn Prozent steigern würde. Noch inflationärer als der Rubel ist allerdings die ukrainische Hrivna geworden, was der Wirtschaft der Ukraine nicht zu Gute kommt. Die ukrainischen Exportprodukte werden, dank des Verlusts des Pakts mit Russland, für den Westen billiger und Gas- und Benzinpreise teurer. Das könnte zum Kollaps der ukrainischen Wirtschaft führen.


Das Außenministerium der Slowakei hat schon eine salomonische Stellungnahme zur Entwicklung in der Ukraine und zum Verhalten Russlands in der Region der Ostukraine abgegeben. Es meinte, es handele sich vonseiten Russlands um die Verletzung des Völkerrechts, allerdings werde die Slowakei die ökonomischen Sanktionen gegen Russland nicht unterstützen, weil dies ungünstige wirtschaftliche Konsequenzen für die Slowakei haben könnte. Es ist also einer der wenigen Fälle, in denen sich die Slowakei und ihr Premier Róbert Fico nicht an die Seite von Angela Merkel, der Kanzlerin des wichtigsten Wirtschaftspartners der Slowakei, Deutschland, stellen wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich die direkte Grenze der Slowakei mit der Ukraine.

Wenn ich an die Menschen in der Ukraine denke, die sich jetzt Hoffnungen auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihrem Land machen, glaube ich, dass sie diese und mehr Demokratie verdient haben. Leider muss ich aber sagen, dass wir in der Ostslowakei – im Unterschied vielleicht zu der Region rund um die Hauptstadt Bratislava – von solchen Hoffnungen mittlerweile 'geheilt' sind. Die letzte 'Herausforderung' der EU, die Einführung des Euro, hat die Mehrheit der Menschen in der Region ärmer gemacht. Wir produzieren selber Lebensmittel, trotzdem kaufen wir, die Slowaken, in den slowakischen Filialen der deutschen Supermärkte, wie z. B. bei Lidl, mehr als achtzig Prozent deutsche Produkte – und dies zu deutlich höheren Preisen als in Deutschland selbst. (s. hier auch: Reise nach Kosice). Ich kenne umgekehrt wenige Deutsche, die in einem deutschen Supermarkt in Deutschland wenigstens zwanzig Prozent slowakische Waren kaufen würden. Die Liquidierung des Gros der slowakischen Landwirtschaft – mit qualitativ oft besseren Produkten als denen aus dem Westen – war ein wichtiger Teil des Prozesses nach der Samtenen Revolution von 1989 und wurde systematisch durchgeführt von slowakischen Politikern der Nachwendezeit. Es gibt natürlich auch viele Vorteile des EU-Beitritts der Slowakei, es ist viel für die Infrastruktur des Landes gemacht worden, das Land hat die Umweltstandards der EU übernommen, die Bürger genießen Reisemöglichkeiten, Freizügigkeit und offene Grenzen. Die Leute bedrückt aber die im Durchschnitt etwa fünfzehnprozentige Arbeitslosigkeit. Über das heutige Ausmaß an Korruption, den Niedergang der slowakischen Grund- und Hochschulausbildung und die massive Abwanderung junger Menschen aus der Ostslowakei will ich hier erst gar nicht schreiben. Der EU scheint es egal zu sein – zumal sich Premier Róbert Fico und Angela Merkel bei EU-Gipfeln und gemeinsamen Treffen weiterhin freundschaftlich die Hände schütteln werden. Zu hoffen wäre, dass all das nicht mit der Gesellschaft, der Landwirtschaft, Bildung und Wirtschaft der Ukraine geschieht. Allein mir fehlt der Glaube.

 

20III2014

© Text und Bild: Daniela Capcarová


 

s. hierzu auch: betr.: UkraineKrims Märchen


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Bearbeitung: Katja Schickel



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