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Vom Reden und Verlegen und Büchermachen

Maja Haderlap


Laudatio anlässlich der Verleihung des Kurt Wolff Preises
an den
Wallstein Verlag und binooki Verlag



In welcher Rolle wir uns heute zum Verlagswesen äußern, ob als Autorinnen, Verleger, Buchverkäufer oder Leserinnen, es ist uns klar, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten zu enormen Veränderungen und Konzentrationen, zu einem bislang noch nie dagewesenen Strukturwandel auf dem Buchmarkt gekommen ist. Die Entwicklung hat dazu geführt, dass es notwendig wurde, auf die Belange der kleinen und mittelständischen Verlage hinzuweisen, da sie auf dem zunehmend härter umkämpften Buchmarkt immer vehementer um ihre Existenz kämpfen müssen. Die Kurt Wolff Stiftung leistet in dieser Hinsicht einen wertvollen Beitrag zur Bewusstmachung und zur Wahrnehmung der Interessen und Leistungen jener Verlage, die sich unabhängig von großen Konzernen und oftmals gegen sie behaupten müssen. Für kleine Verlage ist es schon eine Hürde, um nur ein Beispiel herauszugreifen, ihre Buchproduktion in die Buchhandlungen der großen Buchhandelsketten zu bringen. Wobei diese Schwierigkeit, wie wir wissen, nichts mit der inhaltlichen und ästhetischen Qualität der Bücher zu tun hat, sondern mit den Mechanismen der Marktorganisation und - Konzentration. Gleichzeitig sind es gerade die autonomen Verlagshäuser, die jener, fast schon altmodischen Maxime folgen, Bücher zu verlegen, um Kurt Wolff zu zitieren, von denen man meint, die Leute sollten sie lesen und nicht nur, die Leute wollen sie lesen. Das ist eine Unterscheidungskategorie, die ich hervorheben möchte, wobei sie, wie wir wissen, auch für die literarische Buchproduktion größerer Verlage gilt. Trotzdem schreibe ich sie heute in erster Linie und aus gegebenem Anlass den beiden zu preisenden Verlagen, dem Wallstein Verlag und dem binooki Verlag zu.

Für beide gilt, dass sie dem Publikumsgeschmack nicht nachlaufen. Für eine, dem Publikum nachlaufende Verlagstätigkeit brauche man weder Enthusiasmus noch Geschmack. Man liefere die Ware, die gefragt wird, stellte Kurt Wolff einmal fest. Wir anderen Verleger sind, wenn auch gewiss in bescheidenstem Maße, schöpferisch bemüht, versuchen Leser zu enthusiasmieren für das, was uns originell, dichterisch wertvoll, zukunftsträchtig erscheint, gleichviel, ob´s leicht oder schwer zugänglich ist…. Selbstverständlich können wir uns irren und wir irren uns sehr oft.

Dem Wallstein Verlag wird heute der Kurt Wolff Preis verliehen, für seine sorgfältig gestalteten, anspruchsvollen Editionen zur deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, die er mit der Zeit-

und Wissenschaftsgeschichte verknüpft und zugleich dafür, dass er der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine herausgehobene Plattform bietet. Die Frage, wie ich als Autorin zur Laudatorin für meinen Verlag wurde, möchte ich in ein paar Überlegungen einbetten, wie Autoren und Verleger überhaupt zusammen kommen. Denn das Zusammenkommen von Autorinnen und Verlegern zählt zu den eigentlichen Angelpunkten, besser gesagt, Geheimnissen einer gelungenen Verlagstätigkeit. Es gilt ja zuallererst und zu Beginn, wie es das Wort schon sagt, einen Autorfisch an Land zu ziehen. Der Namensgeber des Preises hat vor fast hundert Jahren festgestellt, dass sich ein Autor lieber einem Menschen anvertraue, von dem er sich verstanden fühle, nicht dem Direktorium einer Gesellschaft, die im Französischen die sehr zutreffende Bezeichnung Sociéte Anonyme führe. Der Verleger sei nicht anonym, sondern synonym mit seiner Tätigkeit, so Kurt Wolff.

Am Beginn jeder Geschichte steht das Zusammentreffen von Menschen, die Zusammenführung von Interessen, stehen Begeisterung und Faszination. Man muss Gefallen aneinander finden. Es ist ja nicht so, dass der Wallstein Verlag in den 25 Jahren seines Bestands einen geheimen Sogmechanismus entwickelt hätte, der selbsttätig eine große Anzahl von Autorinnen und Autoren, noch dazu von den deutschen Sprachrändern, ansaugte. Dazu gehört viel mehr, vor allem ein prononciertes inhaltliches und ästhetisches Profil, beständige Arbeit, Begeisterung, Talent und Geschicklichkeit. Dazu gehören aber auch Menschen, die mit ihrer Hingabe an eine Sache, die sie als ihre begreifen, das lebendige und pulsierende Zentrum jeglicher Erfolgsgeschichte sind.

Ich habe mich beim Verlag schriftlich eingestellt und dem Lektor Thorsten Ahrend einen Brief geschrieben, in dem ich erwähnte, dass wir uns anlässlich der Ehrenpromotion von Peter Handke in Klagenfurt und eines Ausflugs in seine engere Südkärntner Heimat begegnet seien. Ob er sich an den schönen Tag noch erinnern könne, an dem wir übrigens, wie ich nicht erwähnte, kaum einen Satz miteinander gewechselt hatten. Ich sei auf der Suche nach einem Verlag, ob er sich vorstellen könne, einen Prosatext, der von der Geschichte dieser Gegend, die wir damals bereist hatten, vom Nachwirken der Vergangenheit und meinem Aufwachsen dort handelt, zu lesen. Thorsten Ahrend wollte den Text sehen und gab vor, sich noch an den wunderbaren Tag in Südkärnten zu erinnern. Er habe schon geglaubt, ich wollte ihm Gedichte schicken, aber ganz so schwierig wie mit der Herausgabe von Gedichten, sei es mit der Prosa nicht. Nach dem Lesen des Manuskripts antwortete er, er würde dieses Buch sehr gerne bei Wallstein herausbringen. Das war eine folgenreiche Wettergeschichte, die damit endete, dass sich vor dem Hintergrund des schönen Herbsttages und über das gegenseitige freundliche Anschweigen eine fruchtbare Zusammenarbeit, ja sogar eine Freundschaft entwickelte. Ich hätte natürlich auch persönlich, plötzlich und unerwartet lebendig, wie Kurt Wolff in Erinnerung an das Auftauchen von Gustav Meyrink in Leipzig erzählt, beim Verlag erscheinen können. Mit der Tür ins Haus fallen und schreien, ich bin da, Hände hoch! Auf diese unwahrscheinliche Möglichkeit komme ich noch kurz zu sprechen.

Vor der Begegnung mit Thorsten Ahrend habe ich Bücher des Wallstein Verlages kennengelernt, „weiter leben“ von Ruth Klüger, die gesammelten Gedichte von Nicolas Born, „Den siebenten Brunnen“ von Fred Wander und „Pontus“ von Daniela Danz etwa. Bei den Nachforschungen im Internet im Zuge meiner Verlagssuche war ich sehr beeindruckt davon, wie geschickt der Verlag seine wissenschaftlichen, historischen und zeitgeschichtlichen Publikationen in Zusammenarbeit mit namhaften Partnern und Institutionen realisiert, dass zu seinen Partnern auch die Gedenkstätten Flossenbürg, Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Yad Vashem zählen. Ich dachte insgeheim, dass in so einem Verlag die KZ- Geschichte meiner Großmutter und die der anderen Verwandten und Bekannten, die im Buch vorkommen, gut aufgehoben wäre. Ich fragte meine österreichischen Kolleginnen und Kollegen im Verlag, Gabriele Kögl, Clemens Berger, Johannes Gelich, ob der Verlag den österreichischen Autoren zuträglich sei. Sie sagten alle, selbstverständlich, sehr guter Verlag, nur zu! Und der Verleger, Thedel von Wallmoden, bohrte ich weiter. Ein feiner, vornehmer, sehr gebildeter Herr sagte man mir, dezent, gewandt und geschäftlich geschickt, überlege nicht lange, sag ja! Thedel von Wallmoden stellte sich bei mir wenig später als Kenner der feinen Unterschiede des Büchsen- und Flintengebrauchs beim Jagen vor. Er erklärte mir, der Tochter eines Jägers, dass die Mozgan-Bäuerin, im Buch eine begnadete Wildererin, die im KZ Ravensbrück ums Leben gekommen ist, nicht mit einer Flinte das Reh angesprochen haben konnte, sondern nur mit einer Büchse, denn Schalenwild werde mit der Büchse erlegt. Seine Ausführungen schmückte Thedel von Wallmoden mit ein paar landwirtschaftlichen Spitzfindigkeiten aus, die mich sehr beeindruckten und überraschten. Seitdem hat er mein vollstes Vertrauen. Dass ich einmal mit Vaters Bockbüchsflinte, die ich geerbt habe, im Verlag auftauchen könnte, um zu beweisen, dass ein Gewehr beides sein kann, Büchse und Flinte, ist, wie gesagt, sehr unwahrscheinlich, auch wenn mich mein zeitweiser theatralischer Übermut in Gedanken dazu verleiten könnte.

Was macht heute einen guten Verleger, einen guten Verlag aus, wie kann sich ein kleiner, bzw. mittelständischer Verlag unter den großen Verlagen behaupten?

Zeitgenössisch und interessant präsentiert sich das belletristische Programm, das sich in den letzten Jahren, berücksichtigt man die Preise, die die Autorinnen und Autoren des Verlages bekommen haben, zu einem zentralen Ort für die deutschsprachige Literatur entwickelt hat, der sowohl deutsche, österreichische und Schweizer Autorinnen und Autoren betreut und herausgibt, aber auch ganz bewusst die Autoren aus dem deutschen Osten nicht vergisst. Werkausgaben der Literatur des 20. Jahrhunderts wie die von Hugo Ball, Joseph Breitbach, Joseph Roth und Max Brod, um nur ein paar zu erwähnen, komplettieren das breite literarische Spektrum.

Ein weiterer Reichtum entfaltet sich bei der Durchsicht des Verlagskatalogs im Bereich der Wissenschaft und der Editionen. Es wird einem rasch klar, dass sich der Wallstein Verlag in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Verlage der deutschsprachigen Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft entwickelt hat. Viele der besten Historikerinnen und Historiker, Germanistinnen und Germanisten der jüngeren Generation publizieren ihre Dissertationen und Habilitationsschriften im Wallstein Verlag. Immer wieder gelingt es dem Verlag mit geschichtlichen Editionen, wie den gerade vor kurzem erschienen Tagebüchern von Ferdinand Beneke oder den Tagebüchern von Friedrich Kellner historische, politische und kulturelle Zusammenhänge aus der Sicht aufmerksamer Beobachter einer spezifischen Zeitepoche zu erhellen und nachvollziehbar zu machen. Das sind keine „Bücherleichtseller“, sondern „Schwergewichte“, die im Zusammenspiel mit anderen Publikationen helfen, in die Tiefenschichten des Wissens und Verstehens der Zeitläufe, der Politik und der Menschenschicksale vorzudringen. Man sucht den Wallstein Verlag auf, wenn es darum geht, die Jahrbücher der traditionsreichen wissenschaftlichen und literarischen Gesellschaften Deutschlands zu publizieren, sei es die Goethe Gesellschaft, die Schillergesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt und viele andere.

Auf die Frage, welche buchhändlerischen Leistungen Thedel von Wallmoden am meisten bewundere, sagte er einmal: Die Verbindung von Urteilsfähigkeit, Service und betriebswirtschaftlichem Kalkül. Indessen das wird nicht alles sein. Ein Teil der Ausstrahlung des Verlages gründet auch in der technischen Sorgfalt, mit der seine Bücher gemacht werden, in deren Ausstattung und inhaltlicher Betreuung, in der Kunst des kalkulierten Risikos, in der Finanzierungsfertigkeit, die jemand beherrschen muss, um jährlich 150 Bücher herauszubringen und 2000 Titel lieferbar zu halten. Ein Verleger und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen sich unter schwierigen Marktbedingungen immer neu aufstellen, das klingt zwar wie eine abgenutzte Marketingphrase, scheint aber ein Charakterzug von Thedel von Wallmoden zu sein. Er hat sich als Verleger seit seinen Anfängen in den achtziger Jahren immer wieder neu erfunden und er hat seinen Verlag ständig erweitert und ausgebaut. Der Wallstein Verlag ist ein Verlag, der in schwierigen Zeiten wächst.

Ich möchte noch einmal auf die eingangs erwähnte Zusammenführung von Menschen kommen, die den lebendigen Kern eines Verlages ausmachen. Im Wallstein Verlag habe ich gesehen, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine Publikation durch alle Produktionsabschnitte bis zu deren Drucklegung begleiten wie ein Wesen, für das sie sorgen. Wenig wird außer Haus delegiert, und so scheinen sich jeder und jede mit den Büchern und den Autorinnen und Autoren zu identifizieren. Es kann sogar vorkommen, dass sie sich aus mehreren Abteilungen zusammentun, um mir am Telefon ein Geburtstagsständchen zu singen oder mit einem angemieteten Kleinbus fast tausend Kilometer Richtung Süden zu fahren, um an der Verleihung einer Ehrenbürgerschaft in der südlichsten Kärntner Provinz teilzunehmen. Es hat aber auch einen besonderen Reiz, wenn man vom Bürgermeister meiner Herkunftsgemeinde zweisprachig als Ehrengast begrüßt und umarmt, um nicht zu sagen, umgarnt wird, während der Kirchenchor ein elegisches Partisanenlied anstimmt.

Heute bin ich an der Reihe, zu gratulieren, also gratuliere ich herzlichst zum Kurt Wolff Preis, vermeide es jedoch, ein Lied zu singen, weil es da noch einen weiteren, jüngeren Verlag gibt, den Berliner binooki Verlag, der heute den Kurt Wolff Förderpreis bekommt, für seine mit großer Lust und Entdeckungsfreude präsentierte zeitgenössische türkische Literatur in deutscher Übersetzung.

Als ich das erste Mal die Bücher des binooki Verlags in Händen hielt, bekam ich sofort gute Laune. Hier versucht jemand mit farbenfroh gestalteten Büchern die Heiterkeit und Farbenpracht eines Tages am Mittelmeer in den Norden zu transportieren, dachte ich. Auf der Titelseite des Verlagsprogramms

stand mit großen Lettern geschrieben: Achtung! Klischeefreie Zone und im Inneren stellten die Schwestern Inci Bürhaniye und Selma Wels klar, dass ihnen Klischees über die Döner Türken zu blöd seinen, was indirekt einer Ankündigung gleichkommt, dass sie nicht vorhaben, sich mit den Vorurteilen, die in der Öffentlichkeit über Türken kursieren, herumzuschlagen. Inci Bürhaniye und Selma Wels wollen türkische Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache verlegen, weil sie überzeugt sind, dass man im deutsch-sprachigen Raum die Buntheit und Vielfalt dieser Literatur nicht kennt. Die wohl durchdachte Unbekümmertheit ihres öffentlichen Auftritts umschiffte mit Leichtigkeit alle gängigen Klischees, die mit Sarrazinischem Blick nur die anatolischen Dörfer, die Döner Buden und Kopftuch tragende Frauen entdecken wollen. Die Schwestern begründeten nicht nur einen Verlag, sondern stellten den Leserinnen und Lesern ein Forum in Aussicht, in dem über die aktuelle türkische Literatur im Schatten von Orhan Pamuk nachgedacht werden kann, über das Vertraute, Alltägliche, das plötzlich im scheinbar Fremden oder Unbekannten neu erscheint und zu etwas Selbstverständlichem, Geläufigem und Naheliegendem wird. Ich habe selten ein so zärtliches und melancholisches Buch über Liebe und Freundschaft gelesen, wie das von Barış Bıçakçı „Unsere große Verzweiflung“. Der Ton, in dem der Ich-Erzähler über seinen Freund und ihre gemeinsame unbewältigte Liebe zu Nihal erzählt, scheint uns völlig fremd geworden zu sein, weil wir es als gegeben annehmen, nur mit Kühle und Nüchternheit, mit Distanz der Wahrheit näher kommen zu können und nicht mit Zärtlichkeit oder gar sanfter Wehmut. Ich erachte Verlage wie den binooki Verlag für ungemein wichtig, weil sie nicht nur den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein Angebot machen, sondern auch jenen Türkinnen und Türken der jüngeren Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind und die türkische Sprache nicht mehr gelernt haben. Mithilfe der ins Deutsche übersetzten Bücher können sie wieder in Kontakt zu den literarischen Traditionen der Herkunftsheimat ihrer Eltern oder Großeltern treten und sich nicht nur als in den Lüften Beheimatete, halbe Deutsche oder Entwurzelte zu empfinden. Sie können, was ebenso von zentraler Bedeutung ist, entdecken, wie stark die türkische Gegenwartsliteratur im urbanen, modernen, ja, auch mediterranen Leben verankert ist. Insoweit ist binooki eine Bereicherung für alle, die die eingeengte und beengende Politik der Identitäten aufbrechen möchten, um sich der kulturellen Vielfalt Europas zu öffnen. Vielfalt bedeutet mehr als Integration, man könnte auch kulturelle Anreicherung dazu sagen, die übrigens schon im Namen des Verlags anklingt, wenn man beim Lesen ein paar Sprachen übereinanderlegt.

Ich habe gehört, dass im Türkischen das Wort binoki, mit einem o geschrieben die Zwickelbrille meint. Mit ein wenig Phantasie kann man in der Silbe Bi und im doppelten oo schon eine Verdopplung wahrnehmen, mit doppeltem, mehrfachem Blick den Reichtum unserer Literaturen erkennen und im Anderen das Eigene sehen.

Dem binooki Verlag wünsche ich noch viele erfolgreiche Jahre, natürlich mit mindestens einer Null im Anhang. Ich bin überzeugt, dass sich bald jemand finden wird, der Inci Bürhaniye und Selma Wels ein Ständchen in Ehren und im Rahmen einer weiteren Preisverleihung singen wird.


Es gilt das gesprochene Wort.


© Maya Haderlap, www.boersenblatt.net, 16.03.2013




Maja Haderlap, Manuskript: Im Kessel

Ingeborg Bachmann-Preis 2011





Das Wäldchen hinter unserem Haus, das ich auf dem Weg zu Michi und seiner Familie durchqueren muss, wenn ich fernsehen will, wuchert aus. Ich glaubte es gut zu kennen. Ich bin schon unzählige Male durch dieses Wäldchen gegangen und könnte es mit geschlossenen Augen durchstreifen. Nun muss ich all meinen Mut zusammen nehmen, um es zu betreten. Früher glaubte ich, jeden Wegabschnitt, jede kleine Lichtung, den stellenweise niedrigen oder hohen Wuchs der Bäume riechen zu können, die Reihenfolge der Haselgewächse, der Himbeersträucher, der Weidenbüsche mit geschlossenen Augen ertasten zu können, spüren zu können, wann sich das Fichtendach über mir öffnete oder schloss. Nun hat das Wäldchen seine Vertrautheit verloren. Es hat sich dem großen Wald angeschlossen und sich in ein grünes Meer gewandelt, voll spitzer Nadeln und scharfkantiger Schuppen, mit einem wogenden, ausufernden Unterholz aus rauen Borken. Kaum schaue ich aus dem Schlafzimmerfenster, drängt sich der Wald in mein Auge oder lauert mit seiner geriffelten und gezackten Oberfläche hinter der Wiese. Eines Tages wird er über seine Ufer treten, fürchte ich, und die Waldraine verlassen, er wird unsere Gedanken überfluten, wie ich schon jetzt das Gefühl habe, dass der Wald die Gedanken der Männer besetzt, die mit meinem Vater arbeiten oder uns besuchen, um mit ihm auf die Jagd zu gehen.

In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Man habe im Wald geschlafen, gekocht und gegessen, nicht nur in Friedenszeiten, auch im Krieg seien Männer und Frauen in den Wald gegangen. Nicht in den eigenen Wald, nein, dafür sei er zu schütter, zu klein und zu überschaubar gewesen. In die großen Wälder seien sie aufgebrochen. Die Wälder seien der Zufluchtsort vieler Menschen gewesen, eine Hölle, in der Wild gejagt worden sei und in der sie gejagt wurden wie Wild. Die Erzählungen kreisen um den Wald, wie auch der Wald um unseren Hof kreist. In ihm verborgen die Jagdplätze, die Futterplätze, die Beerenplätze, die Pilzplätze, die man nicht preisgibt. Noch heimlicher sind die heimlichsten Orte, zu denen kein Weg und kein Steig führen, die über Jagdpfade und Bachbette aufgespürt werden müssen, die Versteck- und Überlebensplätze, die Bunker, in denen sich unsere Leute, wie man sagt, versteckt hielten. In diesem Jahr richtet ein Sturmwind auf den gräflichen Waldhängen große Schäden an. Der Orkan hinterlässt eine breite Zerstörungsschneise, in der die Bäume geknickt, abgebrochen und entwurzelt am Boden liegen. Aus allen Schlägen des Grafen werden die Holzarbeiter zusammengezogen, um den Windwurf wegzuräumen. Wochenlang hängt das Heulen der Sägen, das dumpfe Lärmen der Äxte, das Krachen der Stämme über dem Graben.

An den Wochenenden versammeln sich die Holzfäller auf unserem Hof, um ihr Werkzeug zu schärfen und auszubessern. Ihre Hosen sind mit Pechflecken übersät, die wie kleine Sümpfe glänzen. Von der Mitte der Sümpfe breiten sich kreisförmig Dreckknospen aus und versickern als Pechwolkenschatten im Hosenstoff. Die Hemden der Holzfäller sind durchgeschwitzt, die Pullover und Jacken, die sie um die Schultern gelegt haben, fasern an den Ärmeln und Rändern aus.

Vater repariert auf einer Bank sitzend eine Säge, die er Amerikanerin nennt. Er hämmert mit leichten Schlägen auf der Säge herum. Sie wippt im Takt und gibt Summtöne von sich. Du bringst die Säge zum Tanzen, sagt Michi. Sobald ich sie in deine Hände lege, hat sie gute Laune. Onkel Jozi erzählt seinen Kollegen, dass er Radiosendungen machen möchte, ja, er habe schon ein Aufnahmegerät bei der slowenischen Abteilung des Österreichischen Rundfunks beantragt, er werde mit den Leuten reden und die Gespräche aufzeichnen. Wenn seine Kollegen nichts dagegenhätten, würde er auch eine Geschichte über sie, die Holzfäller des Grafen Thurn, gestalten.

Ihr seid keine Holzfäller mehr, sagt Vater, ihr habt euch schon längst aus dem Wald verabschiedet.

Man müsse schauen, wo man bleibt, antwortet Michi, man könne nicht jeden Tag in den Wald gehen, als ob es nichts anderes gäbe, als ob man keine andere Möglichkeit hätte, sein Geld zu verdienen. Er sei den Sozialisten beigetreten. Man habe ihm versprochen, ihn anderswo unterzubringen.

Du willst in die Politik, fragt Vater, aber Bürgermeister wirst du nie, das werden sie nicht zulassen, dich, einen Slowenen, als Bürgermeister, nie!

Das verstehst du nicht, sagt Michi.

Ich versteh, was ich verstehe, meint Vater.

Er berichtet, dass er in dieser Woche vom Mozgan-Grat, wo er gerade Holz für die Bauern fällt, über die grüne Grenze auf die slowenische Seite zum Kumer auf ein Bier gegangen sei. Die Frauen hätten ganz schön gestaunt, dass er sich über die Grenze gewagt habe. Man habe ihn nach den Leuten aus Lepena gefragt und ihm aufgetragen, alle Bekannten zu grüßen. Danke, danke, sagen die Holzfäller und machen sich zu Fuß auf den Heimweg. Nur Jozi steigt auf ein Motorrad und fährt, mit einer Hand winkend, davon.

Wo ist eigentlich die Grenze, frage ich Vater.

Da oben, sagt er und zeigt auf den Grat, der im Halbrund das Tal abschließt.

Ich möchte einmal mit dir zur Arbeit gehen, sage ich.

Vater ist von meiner Bitte so überrascht, dass er mir verspricht, mich am nächsten Tag in den Schlag mitzunehmen, er müsse sowieso noch Werkzeug hinauftragen.

In der Früh steht sein Motorrad vor dem Stall, eine Puch-Maschine mit dunkel glänzendem Tank, der aussieht wie der Rumpf eines schwarzen Delphins. Vater bindet den prall gefüllten Rucksack mit Werkzeug und einen Kanister mit Benzin auf dem Gepäckträger fest. Ich setze mich auf den Hintersitz und lege vorsichtig die Arme um seine Körpermitte. Er sagt, ich solle mich fest an ihn drücken, damit ich während der Fahrt nicht vom Motorrad falle. In der ersten Kurve ruft er, du wackelst, halte dich fest, sonst kommen wir ins Schleudern. Nach anfänglicher Angst, die mich überkommt, wenn Vater abbremst und in eine Kurve fährt, lasse ich mich auf den Geraden von seinen Beschleunigungen mitreißen. Hinter dem Mozgan-Hof stellt er das Motorrad ab, schiebt ein paar Eisenklammern hinter seinen Hosengürtel und schultert den Rucksack. Wir beginnen langsam zu gehen. Das Benzin im Kanister blubbert. Im steilen Gelände muss man spazieren, sonst kommt man außer Atem, sagt Vater. Dann beschleunigt er seine Schritte. Ich bleibe zurück und nehme auf ebenen Wegabschnitten Anlauf, um ihn einzuholen. Bist du im Krieg hier gewesen, frage ich.

Ja, wir hatten höher oben einen Bunker, sagt er. Dein Großvater hat den Kurierposten geleitet.

Ich habe gekocht. Es war sehr gefährlich.

Hast du Angst gehabt, frage ich.

Wird schon so gewesen sein, ich war ja noch ein Kind, ein paar Jahre älter als du. Hinter unseren Rücken hört man ein aufgescheuchtes Wild flüchten. Es hat uns in die Nase bekommen, sagt Vater.

Unter dem Waldkamm, zwischen mächtigen Fichten, deren dichte Äste fast bis zum Boden reichen, kommt eine Hütte zum Vorschein. Sie ist zur Gänze mit Rinden bedeckt, die Schicht für Schicht auf ein darunterstehendes Holzgerüst genagelt wurden. Hier haben wir früher geschlafen, sagt Vater, wenn wir Holz geschlägert haben. Er schließt das Schloss auf und verstaut Werkzeug und Kanister neben den unbenutzten Pritschen.Ich muss noch zum Schlag, sagt er, dann können wir über die Grenze gehen. Sein Arbeitsplatz wirkt aufgeräumt und ist von Aststapeln markiert. Geschälte und ungeschälte Bloche liegen gegliedert am Boden, mit Aststummeln oder geputzt, wie Vater sagt, dazwischen duftende, durchwühlte Häuflein Sägespäne. Die Bloche haben abgeschrägte Randkanten, die Schnittstellen der Stämme leuchten wie frisch geschnitzte Holzteller. Vater steht mitten in der Lichtung und überblickt den Schlag, dann sammelt er die verstreuten Spaltkeile ein und deckt sie mit Ästen zu. Jetzt freue ich mich auf ein Bier, sagt er und zeigt Richtung Grenze.

Zu meiner Verwunderung verläuft die Staatsgrenze nahe am Holzschlag. Vom Waldkamm aus kann ich die jugoslawische Seite des Waldhangs überblicken, die zu meinem Erstaunen der österreichischen gleicht und sich als eine Fortführung der vertrauten Landschaft offenbart. Vater stützt sich beim Überspringen der Grenze auf einen Zaunpfahl. Mich lässt er unter dem Stacheldraht durchkriechen und zieht den untersten Draht hoch, damit ich nicht an den gezwirbelten Stacheln hängen bleibe. Plötzlich hat er es wieder eilig. Er hastet mit großen Schritten einen lichten Wald hinunter. Ich kann ihm kaum folgen. Waldfarne schlagen in mein Gesicht. Unter dem Wald wartet er auf mich. Er sitzt im Gras und blickt auf ein tiefer gelegenes Tal, das ganz in der Senke verschwunden scheint.

Dort hinter der Raduha, Vater zeigt auf einen Bergrücken, dort habe ich im Krieg die Schule besucht.

Nicht lange. Vierzehn Tage werden es gewesen sein. Da bin ich in die Schule gegangen, in Luče, sagt er. Sein Bruder und er seien beim Stab der Kuriere gewesen, auf einem Bauernhof. Nach ihrer Flucht von zu Hause durften sie nur zwei Wochen bei ihrem Vater im Bunker bleiben. Dann habe man sie ins Savinja-Tal gebracht, weil das Savinja-Tal befreites Gebiet gewesen ist. Im Januar habe man die Kommandozentrale auflassen müssen, weil das Tal von den Deutschen angegriffen wurde. Die Deutschen haben über das Feld geschossen, dass die Erde nur so gespritzt hat, sagt Vater. Er und die Kuriere haben Schreibmaschinen im Boden vergraben. Sie hoben ein Loch aus, warfen ein bisschen Stroh hinein und haben die Schreibmaschinen darauf geschichtet. Dann streuten sie wieder Stroh darüber und dann Erde und Gras und Schnee, bis nichts mehr zu sehen war. Am Nachmittag hätten sie sich auf den Weg gemacht und seien die ganze Nacht durch marschiert. Am nächsten Tag haben die Deutschen uns weiter gejagt, sagt Vater. Der Schnee ging mir bis zu den Hüften. Ein Kommandant hat gemeint, dass ich nicht durchkommen werde.

Er spuckt kräftig aus, als ob er sich nach der Erzählung erleichtern müsste. Beim Kumer werden wir von zwei Frauen begrüßt, die seinen Namen kennen. Zdravko, rufen sie, Zdravko, das ist schön, dass du wieder einmal kommst! Sie servieren Vater ein Bier und mir ein Brot mit Leberpastete bestrichen. Auf dem Rückweg blickt mich Vater abwesend lächelnd an. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn Vater mich ins Vertrauen zöge und mir die Geschichte, die er erzählt hat, noch einmal schilderte und dann fragte, was ich erlebt habe, und ich ihm dann anvertrauen könnte, dass ich auf dem Schulweg erpresst werde und dass ich davon träume, dass er die Mitschülerinnen stellte und von ihnen verlangte, sie sollten auf der Stelle aufhören, mich zu bedrohen. In der Hoffnung, auf Vater zählen zu können, gebe ich ihm ein stilles Versprechen, das ich selbst nicht begreife, ein Zugeständnis, ihn auf seinen Heimwegen und seinen Schulwegen zu begleiten, auf den Wegen in diese Landschaft vielleicht oder in seine Erinnerung. Ich überlege während des Aufstiegs durch den Wald, ob ich in meinem Kinderkörper bleiben sollte oder über mich hinauswachsen möchte, und bleibe an diesem Tag in meinem kurzen Rock, in den Baumwollstrumpfhosen und in den Gummistiefeln stecken. Als wir unter der Grenze den Finanzersteig betreten, suche ich nach Fußspuren im aufgeweichten Boden, in dem sich Pfützen gebildet haben. Vater sagt, dass die Finanzer heute am Sonntag vielleicht frei hätten, und muss über seinen Einfall lachen. Wir erreichen die österreichische Seite, ohne entdeckt worden zu sein, und Vater fragt, ob ich bei einer Treibjagd mitgehen möchte, weil er gesehen habe, dass ich ordentlich gehen könne. Ich sage ja und beschließe, meine Waldscheu zu überwinden. Auf dem Weg zum Mozgan gibt der Wald an einer Stelle den Blick auf verstreut liegende Höfe im Talgraben frei. Wir bleiben stehen und schauen aus dem grünen Dickicht heraus. Wie zwei Fische, fällt mir ein, die aus dem Tang hervorlugen. Ich habe die munteren Fische im Fernsehen gesehen und stelle mir vor, wie Vater und ich mit großen Augen aus dem Unterholzgekräusel blicken und dann darin verschwinden, eine kleine Sandwolke aufwirbelnd, die sich im trüben Wasser nur langsam senkt. Ein Meer voller Halme, denke ich, bald werden wir das Ufer erreichen. Als ich zu Vater aufs Motorrad steige, bin ich fröhlich. Ich lege die Hände eng um seine Taille und drücke mich an seinen Rücken. Es ist später Nachmittag, als wir die kurvenreiche Straße der Koprivna hinunterfahren. Die Sonne hält sich auf unserer Höhe. In einer ausladenden Kehre bleibt Vater stehen und raucht eine Zigarette. Früher ist da ein Zaun gestanden, sagt er und bläst den Rauch in die Luft.

Bevor wir die Talsenke erreichen, fährt er über eine Holzbrücke, zu einem zerfallenden Haus, das sich zwischen Zwetschken und Apfelbäumen verbirgt. Als wir vom Motorrad steigen, steht Jaki, Vaters Holzfällerkollege, auf eine Sense gestützt vor der Haustür. Rund um das Haus liegt das gemähte Gras wellenförmig am Boden. Ich bin in die Brennnesseln gegangen, sagt Jaki. Wart ihr im Schlag? Vater bejaht. Wenn man nicht regelmäßig mäht, wächst alles zu, sagt Jaki. Er sei heute schon oben beim Blajs gewesen, da wuchere auch das Gras. Vater blickt zu einem einsamen Anwesen hinauf, das noch in der Sonne liegt.

Schade, dass niemand den Hof bewirtschaftet, sagt er. Wer hätte gedacht, dass es so kommen würde.

Wie viele Brüder sind eigentlich im Lager gestorben, fragt Jaki.

Die älteren drei, der Jakob, der Johi, der Lipi, sagt Vater. Die Asche von Lipi ist aus Natzweiler gekommen, die anderen sind in Dachau gestorben.

Ich höre den klingenden Namen Dachau, den ich schon kenne, Natzweiler aber ist neu und sogleich vergessen.

Sein Onkel sei auch da oben gefallen, fällt Jaki ein. Er sei gerade desertiert, sagt er zu mir, weil er meinen Blick spürt, und sei im ersten Kampf mit den Deutschen verwundet worden. Er habe sich über die Wiese zum Jekl geschleppt und sei blutend unterhalb der Straße, hinter einem Gebüsch, liegen geblieben. Die deutsche Patrouille sei an ihm vorbei gegangen, ohne ihn zu bemerken. Aber dann habe der letzte Mann hingeschaut und ihn erschossen. Die JeklLeute mussten ihn neben der Straße begraben.

Ich weiß, sagt mein Vater, ich kenne die Stelle.

Die Toten hinterlassen ihre Kühle an diesem Fleck, von dem sich die Sonne zurückgezogen hat. Ich überlege, ob die Kälte, die mich frösteln lässt, auch mit dem Abend zu tun habe und mit dem Wald, der an die Häuser heranrückt. Das Licht beeilt sich, in die Höhe zu kommen. Vater versinkt in Bewegungslosigkeit. Ich bitte ihn, doch nach Hause zu fahren. Ja, ja, sagt er, ich solle nicht tschentschen wie meine Mutter. Er entschließt sich erst, auf das Motorrad zu steigen, als Jaki seine Maschine um die Hausecke schiebt. Zu dritt fahren wir die Schotterstraße hinunter, aber an der Weggabelung, an der wir nach links abbiegen müssten, biegt Vater nach rechts und bleibt am Straßenrand stehen.

Du kannst ja nach Hause gehen, wenn du willst, sagt er, er gehe noch auf ein Bier.Ich nehme die Abkürzung über die Gasthofweide, auf der träge, satte Kühe mit ihren Schwänzen um sich schlagen. Auf zwei Baumstämmen, die über den Lepena-Bach gelegt sind, balanciere ich auf die andere Seite des Baches und eile eine Böschung hinauf, hinter der das Quietschen der Schweine aus unserem Stall hörbar wird. Die Art, wie jemand in den Wald gegangen oder aus dem Wald gekommen ist, habe alles über ihn verraten, heißt es. Trug er ein Gewehr, einen roten Stern auf der Mütze, trug er zwei Hosen übereinander und zwei Mäntel, um nicht zu frieren, kam er im offenen Hemd, mit pechverschmierten und zerrissenen Hosen, trug er ein totes Reh im Rucksack, oder trug er den Speck für die Grünen Kader hinauf zu den höchsten Wettertannen? Trug er einen Korb mit Pilzen, eine Kanne mit Beeren oder Kurierpost in den Taschen? Hatte er ein sauberes Hemd an, roch er nach Pech und nach Rinde, oder stank er ranzig und ungewaschen nach Erde und Angstschweiß, nach Blut und nach Schorf?

Die Jägerfreunde meines Vaters tragen gebügelte Hosen und Jacken in den Farben der Bäume, sie tragen den Moosgeruch in den Haaren und den Beutebruch auf den Hüten. Von ihren Rucksäcken baumeln die Häupter des Schalenwilds, das angesprochen worden ist mit der Waffe, das gefallen hat und deshalb gefallen ist. Aus dem Windfang tropfen noch Blut und Schweiß, der Tau des letzten Atems, den die Tiere eingesogen haben. Ihre dunklen Lichter brechen noch lange am zarten Haupt, ihre Schädelknochen, von Decke und Haar befreit, köcheln noch lange im Wasserstoffwasser, bis sie gebleicht, als Trophäen, aus dem Kochtopf genommen werden.

Das Jagen gehört zum Familienmythos, jeder Jagdtag ein Festtag, so sei es von jeher gewesen, sagt Vater. Noch pflegt er in der Morgendämmerung und am Abend auf die Pirsch zu gehen, seine Büchsen und Flinten zu ölen, das Fernrohr zu putzen, die Patronen zu zählen. Noch wird in der Küche Wildfleisch gekocht und geschmort, wecken die Dünste der Gamssuppen unseren Appetit. Noch gehen im Haus seine Jagdfreunde aus und ein und erzählen Geschichten. Noch freut er sich auf die jährliche Treibjagd, auf die Brackade, zu der er mich mitnehmen will, weil ich gut gehe.

Als es so weit ist, wird die Treibjagd am frühen Morgen besprochen, werden die Jäger mit heißem Tee und Krapfen bewirtet. Das Gelände wird eingeteilt, Waldabschnitte werden zugeordnet, die Stände bestimmt. Ich soll mit dem alten Pop gehen, den ich gut kenne. Er ist der Älteste in der Runde und, wie man sagt, der mit den schlechtesten Augen. Einmal habe man ihn und sein Augenlicht auf die Probe gestellt, wird erzählt, und habe eine Hauskatze in ein Hasenfell gesteckt, der Katze das Hasenfell übergezogen und es mit Schnüren an ihren Körper befestigt. Die Katze habe sich wütend und kratzend auf den nächstbesten Baum gerettet und Pop habe seinen Augen nicht trauen wollen, weil er, und das könne er jederzeit beschwören, den ersten Hasen gesehen habe, der auf einen Baum geklettert ist. Großmutter zieht mich zur Seite. Sie habe gehört, dass die Jagd beim Gregorič beendet werden solle. Ich müsse die alte Gregorička von ihr grüßen. Sie hat mich aus dem Lager getragen, als das Lager geräumt wurde und ich zu schwach war, um zu gehen, sagt Großmutter. Drei Tage lang hat mich die Gregorička getragen, gestützt und mit einem Schubkarren gefahren, bis die SS verschwunden war. Die Gregorička sei in Auschwitz verrückt geworden, noch bevor sie nach Ravensbrück überstellt worden war, und habe von da an geflucht, der Teufel, der sie ins Lager gebracht habe, solle sie auch wieder hinausführen. In ihrer Jugend sei sie eine kräftige Frau gewesen, die es mit jedem Mann habe aufnehmen können, erzählt Großmutter. Ich nicke und sage, ich richte die Grüße aus.

Pop hält mich an der Hand, während wir zu unserem Waldabschnitt gehen und mit den Stöcken gegen Bäume und Büsche schlagen. Die Jäger haben ihre Flinten über die Schultern gelegt und sind uns vorausgeeilt. Die Hunde treiben Hasen und Füchse in ihre Richtung, man hört nur vereinzelte Schüsse, wir sehen nur wenige Tiere an uns vorbeiflüchten. Die Strecke, die am Nachmittag vor dem Gregorič-Hof gelegt wird, ist kurz wie die Totenwache und der Schnaps bald vertrunken. Wir werden in die Bauernstube gebeten, man habe Gulasch gekocht, für den Schüsseltrieb, wie es heißt. Die alte Gregorička sitzt auf der Bank neben dem Tisch. Ich trete zu ihr, um ihr die Grüße von Großmutter auszurichten, und gebe ihr die Hand. Ihre ist kalt und feucht. Sie riecht nach Urin. Die Gregorička versteht nicht, wer sie grüßen lässt, und blickt mich mit leeren Augen an. Sveršina versucht zu vermitteln. Die alte, mächtige Frau nickt und schaukelt ihren kräftigen Körper hin und her, während wir essen. Ich beobachte sie von der Seite und muss an Großmutter denken und daran, wie diese Gregorička imstande gewesen war, Männer durch die Luft zu werfen und meine geschwächte Großmutter aus dem Lager zu tragen.

Ein Jäger erzählt, dass sein Nachbar, der gerade gestorben ist und der während des Krieges bei den Partisanen gewesen war, ihm einmal erzählt habe, dass er auf der Wache, nicht auf dem Ansitz, einen weißen Hirsch erspäht und die Eingebung gehabt habe, dass sein Partisanenbunker verraten werde. Er habe die Kämpfer gewarnt, aber sie hätten nicht auf ihn hören wollen. Am nächsten Tag sei der Bunker tatsächlich von der Polizei angegriffen worden. Das sei ein Zeichen gewesen, man müsse die Zeichen beachten, sagt der Jäger. Sveršina hält das für Unsinn, Eingebung, was für eine Eingebung, poltert er. Die Angst, dass man der Gestapo in die Hände fallen könnte, sei doch nichts Übersinnliches gewesen. Nachdem er Kori zu den Partisanen gebracht habe, habe es nicht lange gedauert und die Polizei sei auf dem Brečk-Hof gestanden. Irgendjemand dürfte davon Wind bekommen haben und schon habe es für ihn geheißen, ab nach Mauthausen!

Vater fragt, ob die Jäger noch wissen, wer damals der beste Schütze in Lepena gewesen sei, na, sagt er, na, fällt euch nichts ein, die alte Mozgan-Bäuerin ist es gewesen, sagt er nach einer kurzen Pause, als ob er die Königinkarte ausgespielt hätte. Sie habe eine legendäre Wildererhand gehabt und manch starkes Reh erlegt. Was sagt ihr dazu, will Vater wissen, was sagt ihr jetzt, ihr mit euren kümmerlichen Hasen, die ihr erlegt habt, ihr könnt nur davon träumen, so gut zu zielen wie die Mozgan-Bäuerin. Sie habe auf dem Ansitz gestrickt, und wenn ein Tier begonnen habe zu äsen, habe sie ohne mit der Wimper zu zucken, die Büchse gehoben und Peng und aus! Aber Ravensbrück hat sie nicht überlebt, wirft Sveršina den Joker in die Runde, da sei sie zugrunde gegangen, ja, da sei sie zugrunde gegangen. Es dunkelt, als die Jäger aufbrechen, und ich bemerke, dass Vater zu viel getrunken hat. Er steht auf wackeligen Beinen und klagt, wie weit der Weg nach Hause sei, den er noch vor sich habe. Ich bekomme eine Taschenlampe in die Hand gedrückt und man verabschiedet mich mit den Worten, du wirst auf Vater schon aufpassen. Ich gehe voran und versuche den Weg für Vater und mich auszuleuchten. Er erzählt, wie oft er diesen Weg schon alleine gegangen sei und wie gut er ihn kenne.

Der Wald beginnt die Dunkelheit an sich zu ziehen. Von allen Seiten überfällt uns eine hellhörige Stille, die auf unsere Schritte zu lauern scheint. Ich überlege, wie ich Vater am Reden halten könnte, damit die Geräuschlosigkeit nicht überhand nimmt. Als wir aus dem Wald treten und auf der Wiese hinter dem Auprich-Hof stehen bleiben, frage ich, wie der Hof heiße, den man höher droben, unter der Kuppe des bewaldeten Hügels in Umrissen erkennen könne. Das sei der Hojnik-Hof, sagt Vater, da habe die Nazipolizei auch gewütet. Die Familie sollte abgeführt werden, aber der alte Hojnik habe sich geweigert, den Hof zu verlassen.

Daraufhin sei er an Ort und Stelle erschlagen worden. Sein Sohn und seine Schwiegertochter sind erschossen worden, die Toten habe man in die Hojnik-Keusche geworfen und angezündet. Vater bricht plötzlich die Stimme. Er spricht in einem dünnen Ton. Ich finde das ärgerlich. Ein leichter Wind kommt auf. Die Bäume beginnen zu ächzen, sobald wir wieder den Wald betreten haben. Das Rascheln des Laubs ist kaum hörbar durchmischt mit Stimmen und Schreien. Ich bitte Vater, mir die Hand zu reichen. Er lacht und macht einen großen Schritt nach vorn, um mich bei der Hand zu fassen. In diesem Moment verliert er das Gleichgewicht und rutscht der Länge nach einen steilen Abhang hinunter, bis er hinter einem Gebüsch zum Liegen kommt. Die Taschenlampe, die er beim Griff nach meiner Hand mitgerissen hat, hört auf zu leuchten. Im Dunkeln kann ich ihn kaum sehen und höre ihn tief unten fluchen. Teufel, Teufel, wie soll ich da wieder hinaufkommen, jammert er. Ich glaube, dass ihm etwas zugestoßen ist, und mache Anstalten, zu ihm in die Tiefe zu rutschen. Bleib oben, schreit er, bleib oben, ich komme schon allein zurecht. Er beginnt auf allen vieren den Hang herauf zukriechen. Das Licht ist hin, wie soll man bei dieser Dunkelheit etwas erkennen, schimpft Vater und tritt mit den Bergschuhen in den Boden, um Halt zu finden. Inzwischen ist er in meine Nähe gekommen und sagt, du kannst mich jetzt hochziehen, und ich ziehe mit aller Kraft. Vater steht wieder neben mir. Ich will mich kurz ausruhen, sagt er, dann gehen wir weiter. Er setzt sich auf den Waldboden und schläft, wie mir scheint, in der nächsten Sekunde ein. Ich kauere mich neben ihn und spüre meine Tränen aufkommen. Der Wald und die Dunkelheit lassen alle Gespenster auf mich los, die wie verrückt an mir reißen. Ich hebe meinen Kopf und versuche den Mond auszumachen, der sich in dieser Nacht bedeckt hält. Eine dunkle Kugel scheint sich aus dem Himmel auf mich herabzusenken. Ich fürchte, sie mit meinem Weinen heruntergeholt zu haben, und schließe die Augen. Die Dunkelheit erfasst mich und strömt berauschend in meiner Brust.

Vater liegt wie betäubt neben mir. Nach einer Ewigkeit öffnet er die Augen und sagt, weißt du, wenn man im Wald Angst hat, muss man Partisanenlieder singen. Er habe das oft gemacht und es habe immer geholfen, ob ich welche kenne. Ich verneine. Gut, dann singe ich, sagt er. Und Vater singt, was seine Stimme hergibt, kämpferische Partisanenlieder, wobei er sich nur an einzelne Strophen erinnert und diese so lange wiederholt, bis wir zu Hause ankommen. Mutter erwartet uns aufgebracht und besorgt in der Küche. Ich will sie nicht beunruhigen, also erzähle ich ihr nichts von den Verhängnissen, die uns begegnet sind. Ich fürchte, dass sich der Tod in mir eingenistet hat, wie ein kleiner schwarzer Knopf, wie eine dunkle Spitzenflechte, die sich unsichtbar über meine Haut zieht.


© Maya Haderlap, Wallstein Verlag Göttingen, 2011


Maja Haderlap, *1961 in Bad Eisenkappel/Železna Kapla, Kärnten, Kärntner Slowenin. Studium der

Theaterwissenschaften und der Deutschen Philologie an der Universität Wien. Dramaturgie- und Produktionsassistentin in Triest und in Ljubljana, österreichische Schriftstellerin. 2011: Ingeborg-Bachmann-Preis für: Im Kessel (Romanauszug). Die Autorin lebt in Klagenfurt.

Neben den in Slowenisch (und Deutsch) erschienenen Gedicht-Bänden Žalik pesmi,1983; Bajalice, 1987 und Gedichte – Pesmi Poems,1989 veröffentlichte sie Theaterstücke, Essays und Erzählungen. Im Wallstein Verlag erschien 2011 ihr Roman Engel des Vergessens, ISBN 978-3-8353-0953-1, für den sie viele Ehrungen und Preise erhielt.


© Fotos: kurt-wolff-stiftung.de; Wallstein Verlag; Dirk Gieselmann, fotocommunity.de; Stadttheater Klagenfurt  /  Verlagsinfos: www.wallstein-verlag.dewww.binooki.de


s. hier auch: Spots (binooki Verlag), Ahoi und gute Reise (Die Horen 245, Neue Literatur aus Tschechien: Geschweige denn Ostrava, Wallstein 2012)

17.03.2012 




 



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