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Lenka Reinerová

Gedenkstunde im Deutschen Bundestag
an die Opfer des Nationalsozialismus, 27.01.2008



Angela Winkler vertritt Lenka Reinerová



Meine sehr geehrten Herren Präsidenten,

verehrte Frau Bundeskanzlerin,

verehrte Frau Köhler,

sehr geehrte Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates,

Exzellenzen,

verehrte Gäste

und – schließlich – liebe Freunde!


Dass ich heute und hier zu Ihnen sprechen kann, ist für mich, wie Sie mir gewiss glauben werden, ein ganz besonderes Erlebnis. Eine Jüdin aus Prag, der Hauptstadt der kleinen demokratischen Republik der zwanziger und dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser kleine demokratische Staat, mit der langen Grenze zu Deutschland, war in den dreißiger Jahren für alle Nazigegner ein ersehntes und sogar erreichbares Asylland. Das wurde auch im großen Maße ausgenützt.


In Prag lebte damals zum Beispiel der Philosoph Ernst Bloch, dessen einziger Sohn hier auf die Welt gekommen ist. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann haben sogar die Staatsbürgerschaft zugesprochen bekommen. Aus Berlin verlegte der Prager deutschsprachige Schriftsteller Franz Carl Weiskopf die Redaktion der AIZ – der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung – nach Prag. Wieland Herzfelde eröffnete hier von neuem seinen Malik-Verlag, sein Bruder John Heartfield schuf in der tschechischen Hauptstadt eine Reihe großartiger Fotomontagen. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff emigrierte nach seiner Freilassung aus dem KZ Börgermoor zu uns und brachte eines der ersten Bücher über den Naziterror, "Die Moorsoldaten" aus dem KZ mit.


Bertolt Brecht und Helene Weigel lebten eine kurze Zeit in Prag ebenso wie noch viele andere auch. In jener Zeit wurde in der böhmischen Hauptstadt eine große Manifestation gegen den Nationalsozialismus organisiert, sie fand in dem vielleicht größten Saal von Prag, in der Lucerna statt. Auf dem Programm stand unter anderem auch das Auftreten eines kurz zuvor aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassenen Häftlings. Es war ein Hamburger Arbeiter, der später der Schriftsteller Willy Bredel wurde und ein Buch über das KZ schrieb unter dem Titel "Dein unbekannter Bruder". Er wurde von den Menschen stürmisch begrüßt, sprach sehr sachlich über seine Erlebnisse und stockte mit einem Mal. Er sagte "Jetzt weiß ich nicht, war das vor meiner ersten oder meiner zweiten Auspeitschung." Ich war damals ungefähr siebzehn Jahre alt und in mir stockte das Blut. Da steht ein Mann vor mir, keine Heldenfigur, ein untersetzter bescheidener Mensch. Und er wurde ausgepeitscht? Ich konnte es nicht fassen.


Bald darauf erhielt ich meine erste journalistische Anstellung. Eben in der Weiskopfschen AIZ. Ich war dort, um es kurz zu sagen, das Mädchen für alles. Unter anderem oblag mir auch die Verwaltung des Fotoarchivs. Da gab es unter vielen die Aufnahme einer hübschen jungen Frau mit einem kleinen Kindchen. Das Foto war hell, und der große und der kleine Mensch sahen fröhlich aus. Nur - sie hatte dieses Kind im Gefängnis auf die Welt gebracht, das Kind wurde ihr genommen, und sie selbst wurde hingerichtet. Die Frau hieß Lilo Hermann. Wann immer ich dieses Foto aus dem Archiv hervorholte, zitterten meine Hände. Da war etwas, das ich auf keinen Fall verstehen konnte. Aber es wurde noch schlimmer.


1939 besetzte die Wehrmacht meine Heimat und machte sie zum Protektorat Böhmen und Mähren. Von diesem Tag an durften die jüdischen Bürger nicht mehr auf Gehsteigen gehen, sie durften sich in Parkanlagen auf keine Bank setzen. Sie durften keine Transportmittel benützen, keine öffentlichen Telefonautomaten, sie durften weder auf die Hauptpost, geschweige denn in ein Kino gehen. Sie durften am besten nicht sein. Meine gesamte Familie, elf Personen, wurde von den Nazis umgebracht, beginnend mit meiner Großmama, bis hin zu meiner älteren Schwerster, die mit ihrem damals ungefähr sieben - neun Jahre alten kleinen Sohn ins Gas gestoßen wurde.


Ich überlebte, weil ich am Tage der Besetzung nicht im Lande weilte. Und so begann für mich das Exil. Unter anderem saß ich in Paris ein halbes Jahr in Einzelhaft, im berüchtigten Frauengefängnis La Petite Roqette, das es zum Glück nicht mehr gibt, danach ungefähr zwei Jahre im Internierungslager für lästige Ausländerinnen RIEUCROS. Dank der Bemühungen guter Freunde, vor allem der Schriftsteller Egon Erwin Kisch und des schon erwähnten Franz Carl Weiskopf, bekam ich ein Visum und eine Schiffskarte nach Mexiko. Unterwegs blieb ich für ein halbes Jahr in Marokko stecken. Erst war ich im Lager OUED ZEM am Rande der Sahara und, nach sechs Monaten in Casablanca, kam ich dann glücklich in Mexiko an. Dort hatte ich die große Chance, dass eigentlich gleich nach meiner Ankunft die diplomatischen Beziehungen zwischen Mexiko und der tschechoslowakischen Exilregierung in London geknüpft wurden. Und ich habe vom ersten Tag an in dieser diplomatischen Mission gearbeitet. Glücklich, dass ich wenigstens von Weitem ein kleines bisschen zum großen Kampf gegen den Faschismus beitragen konnte.


Wir erhielten aus London die verschiedensten Nachrichten und eines Tages eine ganz merkwürdige. Im Schlösschen Wannsee im Westen Berlins fand eine Arbeitskonferenz statt, an der durchwegs gebildete und studierte Leute teilnahmen unter der Leitung eines Reinhard Heydrich, des späteren Vizeprotektors von Böhmen und Mähren (s.a. Henker von Prag). Dieser wurde als solcher vom tschechischen Widerstand umgebracht. Unter den Teilnehmern waren aber auch Adolf Eichmann und lauter hochgestellte Beamte. Verhandelt wurde, wie man schnell und tunlichst billig die sechs Millionen Juden Europas ein für alle Mal loswerden könnte. Dort entstand die Idee des Holocausts. Die Juden sollten also restlos liquidiert werden, was aber sollte mit den sogenannten minderwertigen Völkern geschehen, als da waren die Tschechen, Slowaken, Polen usw. Ein Vorschlag war, man sollte sie alle in irgendwelche völlig entlegenen Regionen aussiedeln, oder wenn das zu teuer käme, sie vor allem in die Kriegsmaschinerie Deutschlands einbauen und sie dabei bis zur absoluten Erschöpfung für das Dritte Reich schuften lassen.


Wenn man heute über diese Dinge spricht und vor allem nachdenkt, will man sie eigentlich gar nicht glauben. Aber es sind leider Tatsachen. Damit etwas Ähnliches nie wieder auf uns zukommen kann, glaube ich, müssen wir viel mehr Verständnis für die Andersartigkeit riesiger Massen der Bevölkerung unseres Planeten aufbringen, um einem solchen Unglück, wie es in letzter Zeit der Terrorismus darstellt, rechzeitig und gründlich beikommen zu können. Denn dass wir friedlich miteinander leben wollen und können, ist vielleicht eine Selbstverständlichkeit, die allerdings unterstützt und behütet werden muss. Es scheint mir, dass wir immer noch zu wenig Verständnis für die Lebensart, die Tradition und den Glauben eines sehr großen Teils unserer Mitmenschen auf diesem Planeten aufbringen. Das geschriebene Wort sollte dabei so wirksam wie nur möglich mithelfen.


Ich bin, und das ist keine Neuigkeit, der letzte deutschsprachige Autor in der Tschechischen Republik. Im Hinblick darauf, dass meine ganze Familie dem deutschen Nationalsozialismus zum Opfer gefallen ist, wurde mir diese Tatsache eine gewisse Zeitlang beinahe vorgeworfen, zumindest ungern gebilligt. Das hat sich mit der Zeit schließlich geändert, und heute finde ich viel Verständnis dafür, dass ich eine gewisse Kontinuität aufrechterhalte und zu dem, glaube ich, dass wirklich jeder von uns nach seinen Möglichkeiten zum gegenseitigen Verständnis beitragen sollte. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass meine Bücher im Laufe der letzten Jahre einen tschechischen Verleger gefunden haben und von den Lesern sehr gut und warmherzig aufgenommen werden. Ich hoffe sehr, dass ich eine bescheidene kleine 'Klammer' für das gegenseitige Einandernäherkommen geworden bin. Falls dem so ist, bin ich zufrieden.


Ich bin allerdings überzeugt davon, dass wir noch mehr tun müssen, um einander möglichst gut zu verstehen. Das hat mich u.a. dazu veranlasst, in Prag ein Literaturhaus unserer deutschsprachigen Autoren zu gründen, denn wir haben nicht nur Franz Kafka, Werfel, Rilke und Egon Erwin Kisch, sondern den ganzen Prager Kreis mit einer Reihe sehr interessanter, nur leider in Vergessenheit geratener Autoren. Zudem wollen wir tschechischen Schriftstellern Stipendien nach Deutschland und deutschen zu uns gewähren, um ein besseres Näherkommen zu ermöglichen. Denn ich glaube, die Schrecken des Faschismus mit dem unvorstellbaren Massenmord des Holocaust haben wir zum größten Teil hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum, das neue Unheil, den Terrorismus, zu bekämpfen. Das müssen und können wir nur gemeinsam tun, jeder mit seinen Mitteln und Möglichkeiten. Es muss und wird uns gelingen, auch diesem Verbrechen den Boden zu entziehen und das Leben für uns alle besser, nutzvoll und freudig zu gestalten.

Das ist es, was ich Ihnen hier und heute sagen wollte, und ich danke Ihnen, dass Sie mich angehört haben.

Lenka Reinerová, Prag

 

s.a. Leningrad-Blockade; Inge Deutschkron; Zoni Weisz-27.01.11; Marcel Reich-Ranicki


 

 

 

 

       


 


 


 


 


Aus der Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert anlässlich der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus


Wir gedenken in dieser Stunde im Deutschen Bundestag aller Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden sowie Männern und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Kriegsgefangenen und Deserteuren, Greisen und Kindern an der Front, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und der Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern damit an unvorstellbares Menschheitsverbrechen, an Völkermord und systematisch betriebenen Massenmord. Und wir bekennen zugleich unsere besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz.

Der Holocaust ist und bleibt die fortwährende Quelle für ein "Gefühl der Fassungslosigkeit", wie es der Historiker Saul Friedländer einmal ausgedrückt hat. Diese Fassungslosigkeit entbindet uns aber weder von der Verantwortung, alles zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt, noch bewahrt sie uns vor der Auseinandersetzung mit der Frage, wie es in Deutschland dazu kommen konnte. Der Deutsche Bundestag wird sich in Kürze in einer besonderen Veranstaltung dieser Frage stellen und der besonderen Verpflichtung, die sich aus ihrer Beantwortung ergibt.

Der 30. Januar 1933 war weder ein "Betriebsunfall der deutschen Geschichte" noch war er unausweichlich - und schon gar nicht war dies die "Machtergreifung", wie es in der falschen Revolutionsmetaphorik der Nationalsozialisten hieß. Dass der Weg in die Diktatur keine Zwangsläufigkeit war, ist eine beständige Mahnung an alle demokratischen Kräfte: Jeder Bestrebung, unsere heute gefestigte Demokratie und ihre Ansprüche zu ignorieren, zu verhöhnen, zu unterlaufen oder offen angreifen zu wollen, werden wir gemeinsam und entschieden entgegentreten. Nach den bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts dulden wir keine Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus - nirgendwo in der Welt und in Deutschland schon gar nicht.

Meine Damen und Herren, ein absoluter Machtanspruch, der sich unter welchen Vorzeichen auch immer anmaßt, Untaten zu rechtfertigen, darf nicht toleriert werden: So lautet im Rückblick auf ihr eigenes Leben in einem Jahrhundert der Extreme die ganz persönliche Konsequenz der tschechischen Schriftstellerin und Journalistin Lenka Reinerová, die wir nach dem großen ungarischen Autor und Zeitzeugen Imre Kertész im vergangenen Jahr als Rednerin für die heutige Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag eingeladen hatten. Ihre gesamte Familie wurde in deutschen KZs ermordet. In bewegenden Erzählungen hat sie darüber immer wieder geschrieben. Nur durch Zufall war es ihr als publizistisch aktiver Kommunistin gelungen, sich selbst dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen, als deutsche Truppen in Prag einmarschierten. Sie floh zunächst nach Frankreich, wo sie als Ausländerin zwischenzeitlich interniert wurde und Einzelhaft erlitt. Und auch der abenteuerliche Weg in die Emigration nach Mexiko führte zunächst nur zur neuerlichen Internierung in einem berüchtigten Wüstenlager der Sahara. Der Flucht vor den Nationalsozialisten und dem Verlust ihrer Familie in der Schoah folgten nach Krieg und Exil Schreibverbote und Verbannung unter der kommunistischen Diktatur in ihrer alten Heimat.

Lenka Reinerová ist als deutschsprachige Autorin die wohl letzte bedeutende Vertreterin einer ehemals stolzen Tradition deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur in Prag. Ich bedauere es sehr, dass sie, trotz aller Bemühungen bis zuletzt, heute hier nicht anwesend sein kann, um zu uns zu sprechen. Denn damit entgeht uns nicht nur eine beeindruckende persönliche Begegnung mit dieser Jahrhundertzeugin und großen Erzählerin. Wir müssen leider auch auf ihr viel gerühmtes gesprochenes Prager Deutsch verzichten. Wir wissen aber, verehrte, liebe Frau Reinerová, dass Sie in der deutschen Botschaft in Prag über den Bildschirm diese Gedenkveranstaltung mitverfolgen. Auf diesem Weg möchte ich Sie im Namen des Deutschen Bundestages und aller hier Anwesenden herzlich grüßen. Wir wünschen Ihnen von Herzen alles Gute, vor allem eine schnelle Genesung!

[…]

Meine Damen und Herren, "Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei", so heißt es in dem eben vorgetragenen Kinderlied von Ilse Weber. Die Antwort auf die Schlussfrage ihres Liedes, "wann wohl das Leid ein Ende hat, wann sind wir wieder frei?", hat sie nicht mehr erlebt. Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt folgte sie den von ihr betreuten Kindern nach Auschwitz und wurde dort in der Gaskammer umgebracht. "Bleischwer", so wiegt auch im Empfinden von Lenka Reinerová der Verlust ihrer nach Theresienstadt deportierten Verwandten. Doch Hass nütze nichts, sagt sie ohne Verbitterung. Trauer aber bleibe. Diese Trauer fülle für immer einen Winkel der Seele. Angesichts solch schmerzhafter Erinnerungen von Überlebenden und Nachkommen der Ermordeten sollten wir Deutsche uns beständig die Versöhnungsbereitschaft bewusst machen, die wir nach dem Krieg erlebt haben. Sie war ganz sicher nicht selbstverständlich.

Vor gut einem Monat wurde in Bochum der jüngste Synagogenneubau in Deutschland eingeweiht. Das alte Gotteshaus war wie viele andere vor 70 Jahren in der Nacht vom 9. November 1938 angezündet und zerstört worden. Heute hat die jüdische Gemeinde in Bochum wie andernorts wieder so viele Mitglieder wie vor der Zeit des Nationalsozialismus. Ihr Leitspruch lautet: "Wo ein Haus ist, ist Heimat." Es erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit, dass sich heute Menschen jüdischen Glaubens hier wieder zu Hause fühlen. Vielerorts haben sich religiös und kulturell lebendige jüdische Gemeinden entwickelt, deren Zahl beständig wächst. Diese Entwicklung könnte in unserer Gedenkstunde kaum schöner repräsentiert sein als durch den Gesang Avitall Gerstetters, die als erste jüdische Kantorin Europas regelmäßig in Berliner Synagogen amtiert.

Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir aber nicht nur im eigenen Land erlebt, sondern auch mit unseren Nachbarn: Frankreich und Polen, Niederlande und Ungarn, Belgien und Slowakei. Lenka Reinerová gehört zu den wichtigen Botschafterinnen der deutsch-tschechischen Aussöhnung. "Traumcafé einer Pragerin" heißt eine ihrer Erzählungen. Darin lässt sie literarisch die Blütezeit deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur im polyglotten Vorkriegs-Prag wieder aufleben. Mit bewundernswert langem Atem ist es Frau Reinerová aber auch gelungen, in ihrer Heimatstadt ein Literaturhaus deutschsprachiger Autoren zu gründen, das kein Traumcafé ist, sondern ein wirklicher Treffpunkt für den literarischen Austausch zwischen Deutschen und Tschechen. Man könne doch der Sprache nichts übel nehmen, begründet die Ehrenbürgerin Prags dieses jahrzehntelange Engagement für die deutsche Sprache. Hier erfüllt sich mit Leben, was die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 und der vor zehn Jahren gegründete Zukunftsfonds gewollt hatten: die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen, ermöglicht durch möglichst viele beidseitige Begegnungen.

"Im Herzen Europas", so lautete der Titel einer deutschsprachigen Prager Zeitschrift, für die Lenka Reinerová zur Zeit des Prager Frühlings 1968 arbeitete - ein Ereignis von wiederum historischem Rang, dem wir in diesem Jahr ebenfalls gedenken. Nach der Niederschlagung dieses mit vielen Hoffnungen nicht nur in Mittel- und Osteuropa verbundenen Versuchs eines "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" durch sowjetische Panzer und Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 flog Lenka Reinerová wegen angeblicher "politischer Unzuverlässigkeit" zunächst aus der Partei, dann aus ihrem Verlag und damit aus ihrer Arbeit. Erst von 1985 an durfte sie wieder unter ihrem eigenen Namen publizieren. Sie war fest entschlossen, nie wieder irgendwo Mitglied zu werden. Aber als sie 80 wurde, hat sie sich - "aus einem Gefühl der Zugehörigkeit", wie sie das formuliert hat - von der jüdischen Gemeinde in Prag registrieren lassen. An ihrem 85. Geburtstag ist sie bei Amnesty International eingetreten.

[…]

40 Jahre nach dem Prager Frühling und über 60 Jahre nach Kriegsende liegt Prag nicht mehr nur kulturell im Herzen Europas. Tschechien und Deutschland befinden sich heute in der Mitte eines freiheitlichen und demokratischen Europas. Sie gehören beide zur europäischen Staatenfamilie, die mit der Erweiterung des Schengen-Raums gerade erst einen weiteren wichtigen Schritt getan hat, um dauerhaft eine gemeinsame friedliche Zukunft zu sichern.

Aus der furchtbaren Erfahrung des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges begründet sich ganz wesentlich die Idee der europäischen Einigung, deren Anfänge wir im vergangenen Jahr feierten. Wir Deutsche konnten in diesem Prozess Vertrauen zurückgewinnen und übernehmen heute Verantwortung in Europa und in der Welt. Es wäre aber leichtfertig, zu sagen, dass wir aufgrund unserer historischen Erfahrung gegen Verirrungen gefeit seien. Das sind wir nicht. Es ist beschämend, dass in unserem Land beständig Polizeipräsenz notwendig ist, um jüdische Einrichtungen vor Angriffen zu schützen. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind noch immer ein ernstes Problem, das auch in neuen Formen und anderer Gestalt auftritt. Wir Deutsche wollen unserer besonderen Verantwortung gerecht werden, auch und gerade in der EU. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die während der deutschen Ratspräsidentschaft erzielten Fortschritte in der strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit überall in Europa. Und es soll auch ein Signal sein, dass im Rahmen der OSZE heute ein internationales Expertenforum im Bundestag tagt, um über Herausforderungen und erfolgreiche Methoden in der Bekämpfung des Antisemitismus zu diskutieren.

[…]

Die Weitergabe authentischer Erfahrungen ist unverzichtbar für eine Erinnerungskultur, die lebendig bleiben muss. Denn sonst bliebe das Wissen um den Völkermord in der Anonymität des millionenfachen Todes abstrakt. "Sie waren zu vielstellig, zu nichtssagend in ihrer Unvorstellbarkeit", schreibt Lenka Reinerová über ihr eigenes Empfinden, als sie die Zahl von 92 000 ermordeten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück las. An anderer Stelle heißt es: "Wenn Bücher schreien könnten!" Denn auch der literarischen Verarbeitung sind Grenzen gesetzt. Mehr als alle Literatur berühren uns die unmittelbaren Zeugnisse. Saul Friedländer, als Kind deutschsprachiger Juden wie Lenka Reinerová in Prag geboren, sagte in seiner bewegenden Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im letzten Jahr:

Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun.

Diese individuellen Stimmen würden uns erschüttern wegen der Arglosigkeit der Opfer, ... ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationalen Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.

Es sind Menschen wie Lenka Reinerová, die von sich behaupten und behaupten dürfen, dennoch an das Leben und an die Menschen zu glauben. "Mein Schicksal ist das Schicksal meiner Generation", sagt sie und verbindet damit den Auftrag an sich und die noch Lebenden, über das Erlebte zu berichten. Sie empfindet das nicht als Pflicht, sondern als bloße Selbstverständlichkeit. Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft wird sich aber die Vergangenheit der ganz unmittelbaren persönlichen Erfahrung endgültig entzogen haben. Dann stellt sich gewiss noch drängender als bisher die Frage: Welches Geschichtsbild festigt sich, wenn nur kulturell überlieferte Erinnerungen Gegenstand unseres Gedenkens sind? In dieser Grundfrage unserer Gedenkdiskurse liegt eine beständige Herausforderung. Im Spannungsfeld von historischem Wissen und dem Verlust an authentischer Erinnerung der Überlebenden müssen wir geeignete Formen des Gedenkens finden. Dafür gibt es kein Rezept. Diese Spannung müssen wir aushalten, damit müssen wir umgehen - und das stets aufs Neue. Das - und nicht nur das - sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schuldig.

http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2008/001/246978

https://dbtg.tv/cvid/232205

 

Buchtipps https://www.bundestag.de/blob/190152/54dcab7d42ef9756be4ba0841f2d004a/littippreinerova-data.pdf

 


Lucerna, 1. Todestag, 2009

 

 

s.a. Lenka Reinerova; Reinerova Erzählung

 

 

 

 



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