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Prof. Dr. Karl Schlögel

Reise nach Brünn - Stadt der Weißen Moderne

Mies van der Rohes zwischen 1928 und 1930 gebautes Meisterwerk Villa Tugendhat hat eine Adresse: Brno/Brünn, Cernopolní ulice 45. Wenn man von der Straßenseite her kommt, kann man sich gar nicht recht vorstellen, dass es sich hier um eine Villa, geschweige denn "einen Meilenstein in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts" handeln könnte, neben dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1928 um die bedeutendste Arbeit in der europäischen Schaffensperiode des Architekten. Das liegt daran, dass die Straße auf dem Grat des Abhangs verläuft, in den die Villa hinein gebaut ist. Man kommt von oben, von der Straßenseite, und sieht dort nur die Ummauerung, das flache oberste Geschoss, den Durchgang auf die Terrasse und den Anbau mit Hausmeisterwohnung und Garage. Allein die weite Streckung und Flachheit deutet darauf hin, dass es sich um kein gewöhnliches Haus handelt. Man wird nur nach Voranmeldung eingelassen. Maximal fünfzehn Personen haben gleichzeitig Zutritt, um das Gebäude und die Interieurs nicht allzu sehr zu belasten. Das kommt auch den Besuchern zugute: nur verteilt über die Räume, nehmen sie die Geräumigkeit des Hauses wahr, den größten Luxus, den Mies zu bieten hat. Unsere Gruppe wurde sonderbarerweise nicht durch den Flur eingelassen, sondern über die Schlafzimmer, von der Terrasse her, von der man einen atemberaubenden Blick über das große Hanggrundstück auf die im Tal liegende Stadt hat. Im obersten Stockwerk, wo sich der Eingang befindet, liegen die zwei Schlafzimmer, die beide auf die Terrasse und auf die Stadt hinausgehen. Dort ist auch das Badezimmer der Eltern mit Oberlicht, das automatisch geöffnet werden kann. Das Bad ist überaus geräumig, Armaturen und Becken sind zwar neueren Datums, aber man hat sich beim Ersatz für die Originalausstattung bei den Heizkörpern, Bodenbelägen und Kacheln bemüht, die Nuance, den Ton zu treffen. Die Türen, die vom Flur in die Räume führen, sind aus Palisander und reichen vom Fußboden bis zur Decke. Der Fußboden ist durchgängig eben, es gibt keine Türschwellen. Auch das bestärkt die Idee von einem durchgehenden Raum, in dem die Türen nicht wirklich trennen. Die Griffe an Türen und Fenstern sind individuell und speziell für das Haus angefertigt. Die Milchglaswand des Flurs zur Straßenseite hin ist nicht aus Glas, sondern aus Plastik, ersatzweise – bis zur Generalrenovierung, die demnächst beginnen und zur Schließung des Hauses für mindestens zwei Jahre führen wird.Aus dem Eingangsbereich führt eine geschwungene Treppe hinab ins Mittelgeschoss, welches die Hauptebene des dreigeschossigen Baues ist. Die Führerin lenkt uns nicht direkt auf den Höhepunkt, sondern verzögert. Sie leitet uns am Speiseaufzug vorbei in die Küche, die mit den cremeweiß bis zur Decke gekachelten Wänden wie ein Schlachter-Geschäft aussieht, so groß, so geräumig und mit großen Fenstern, die aber keine Schaufenster sind, sondern Fenster, durch die man das Panorama von Brünn erblickt. Eigentlich ein zu großer Anblick für eine Küche. Über einen Zwischenraum erreicht man Garderoben, Bediensteten-Eingang, Magazine. Man kann von dort auch auf die Essterrasse hinaustreten. 

Aber endlich werden wir in den eigentlichen Mies´schen Raum gelassen. Es ist ein großer fließender Raum, mit drei, vier Modulen, die ineinander übergehen – zuerst etwas, was Esszimmerfunktion hat, abgetrennt nicht durch eine Tür, sondern durch einen Halbkreis aus marmoriertem Makasar-Ebenholz in Gelb und Schwarz, in der Mitte steht ein Mahagoni-Tisch, den man ausziehen kann. Von dort aus hat man bereits einen Blick hinunter ins Tal, aus dem die Türme von Brünn aufragen, zu jeder Jahreszeit vermutlich in anderer Beleuchtung und Stimmung, ein ständig sich veränderndes großes Panorama-Bild.

Das nächste Modul, der Wohn- und Gesellschaftsraum, wirkt schier unbegrenzt. Man blickt einerseits auf die Stadt hinab, auf der anderen Seite auf den Wintergarten und durch diesen hindurch auf den Hang. Man hat einen Blick wie von einem Balkon, von einer in den Hang hinein gebauten Höhle. Es gibt keine Fensterrahmung, sondern nur Glas vom Fußboden bis zur Decke. Die Scheiben können automatisch im Fußboden versenkt werden (die Technik dafür lieferte die Firma Weimann in Teplitz). Es gibt keine Heizkörper, die irgendwie als störende Begrenzung auffallen könnten, Heizung und Kühlung erfolgt mittels Ventilation durch Öffnungen im Fußboden. Die Heizungs- und Klimamaschinen sind im Keller, im Erdgeschoss des Hauses untergebracht. Die Abtrennung dieses 'Raums' erfolgt durch eine Onyxwand, marmoriert und wiederum vom Fußboden bis zur Decke, sie leuchtet bei jedem Lichteinfall anders. Davor ein Glastisch und nachgebautes Mobiliar: Schwingsessel und eine knallrote Liege. Wenn man um die Onyxwand herumgeht, ist man in dem eher dunklen, der Welt abgekehrten Teil des Raumes, im Arbeitszimmer, das eine Bibliothek und eine Musikecke umfasst. In die Ecke mit der Bücherwand mag man sich zurückziehen, wenn man genug hat von den Bildern von draußen, von der Welt. Der Arbeitstisch ist groß. Dort kann man sich ausbreiten. Man sieht von dort aus nichts als die Pflanzen im Wintergarten und den steil abfallenden Hang. Selbstkonzentration. Hier kann man nur mit Beleuchtung sitzen und arbeiten. Die Aufteilung des großen Raumes geschieht allein durch die Onyxwand und eine Vitrine aus weiß und schwarz furniertem Holz sowie einen großen Flügel. Von dort geht noch eine Tür in eine 'Projektionskabine', in dem der Sohn des Hauses seine Filme entwickelt und vorgeführt hat, sowie Waschräume und WC. Man sieht jetzt, wenn man herumgegangen ist, dass die Treppe aus dem Obergeschoss direkt in den wunderbaren Raum hineinführt und dass unser Weg über die Küche eine unnötige Erfindung und Ablenkung der Museumswärterin ist. Man ist überwältigt von der Großartigkeit des offenen, fließenden Raumkontinuums. Der Himmel über Brünn, die Weite des Tals, die Kraft des Abhangs mit den prachtvollen Bäumen reicht in den Wohnraum hinein. Es ist die Kostbarkeit und die Einfachheit des Materials. Die unifarbenen Böden – Linoleum? Die Chromsäulen teilen den Raum nicht, sondern machen ihn weit. Die Abtrennungen aus Palisander oder honigfarbenem Onyx aus dem Atlasgebirge bestehen aus exotischen und doch wieder sehr noblen Materialien. Der Raum, in dem es keine Fensteröffnungen, sondern Wände aus Glas gibt, ist wie eine Höhle, in die man sich zurückziehen kann, das Schönste, was eine Behausung zu bieten hat.

Die unterste Etage sehen wir nicht. Es ist wie auf einem Schiff, wo man auch nicht in den Schiffsbauch hinabsteigt. Dort ist der Maschinenraum mit Heizung, Ventilationsmaschine, Magazinen, Kellerräumen, Waschküche, Mehrzweckräumen. Wir spüren nichts vom Vibrieren der Heizung. Es ist ganz trockene und warme Luft, draußen liegt Schnee und es ist sehr kalt. Wir blicken auf die Stadt, die sich unten hügelig erstreckt. Woher die Transparenz, die Schwerelosigkeit? Wie kann man sich an den alltäglichen Anblick solcher Vollkommenheit und Schönheit gewöhnen? Welches Selbstbewusstseins bedarf es, um sich wie selbstverständlich dieses unüberbietbaren Komforts zu erfreuen, ohne dass Skrupel, Stress angesichts weitergehender Verantwortung aufkommen? Nur ganz freie und von Anfang an in Wohlstand lebende Menschen können sich so etwas erlauben.

Die Eheleute Grete Tugendhat, Tochter des Brünner Fabrikanten Alfred Löw-Beer, und Fritz Tugendhat, Mitbesitzer einer Wollfabrik, beschlossen 1927, noch vor ihrer Heirat, ein Haus zu bauen. Tugendhat fürchtete sich geradezu vor mit Figürchen und Deckchen vollgestopften Interieurs: "Wenn ich diese Räume und alles, was sich darin befindet, auf mich als Ganzes wirken lasse, dann sehe ich deutlich: dies ist Schönheit – dies ist Wahrheit. Die Wahrheit – wir können verschiedener Meinung über sie sein, doch jeder, der diese Räume sieht, erkennt früher oder später, dass das hier die wahre Kunst ist." Grete Tugendhat hatte einige Jahre mit ihrem ersten Ehemann in Berlin gelebt, kannte Häuser der neuen Architektur in Zehlendorf. Die Tugendhats kannten auch das Haus von Erich Wolf in Guben. Die Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt muss ideal gewesen sein. Die Eheleute arbeiteten an der Gestaltung der Inneneinrichtung mit – Klavierhocker, Liegen, Chromschwinger, Vorhänge, Markisen, die Leuchten, die von der Kopenhagener Firma Luis Poulsen geliefert wurden. Die Tugendhats bezogen das Haus im November 1930, mussten es aber schon 1938 verlassen, als sie nach Sankt Gallen emigrierten und später nach Caracas in Venezuela. Es wohnten dort erst der Verwalter und Hausmeister und Chauffeur Gustav Lössl. Seit 1939 wurde die Villa wegen der hohen Betriebskosten nicht mehr vermietet. 1940 wurde sie arisiert, von der Gestapo beschlagnahmt und stundenweise immer wieder von Louis Schobert, einem Soldaten und ehemaligen Architekturstudenten, aufgesucht. Später wohnte dort ein Walter Messerschmidt, Direktor der Klöcknerwerke in Brünn, später noch weitere Personen: ein Haus als Transitstation. Jeder hat daran etwas geändert, Zwischenwände eingezogen, die großen Räume verkleinert, die Glaswände zum Teil zugemauert. Die Villa bekam in den letzten Kriegstagen auch einen Granattreffer ab. Da sich die ursprünglichen Hausbesitzer nach der Befreiung von den Deutschen nicht gemeldet hatten, wurde das Haus vom tschechoslowakischen Staat übernommen. Die Schäden waren schwer. Heizkörper waren geplatzt, Mobiliar verschwunden, die Bibliothek aus der Wand gerissen und das Badezimmer zerstört, die Motoren zum Öffnen der Fenster waren entwendet, "überall Glas, Mist und Pferdeäpfel, denn in der ganzen Villa wurden auch Pferde beherbergt". Für eine kurze Zeit war auch eine Rhythmikschule untergebracht. Die Restitutionsklage der Familie Löw-Beer wurde nach Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 abgelehnt, der Nationalausschuss wies das Gebäude dem Staatlichen Institut für Heilgymnastik zu, wo es bis 1969 auch blieb. Es waren Einzelpersonen wie der Brünner Architekt Frantisek Kalivoda, die immer wieder auf den Rang des Gebäudes aufmerksam machten und für seine Rettung kämpften. Während des Prager Frühlings 1968 organisierte er eine Ausstellung und eine internationale Konferenz zum Werk von Mies van der Rohes. Es kam zu einer vorsichtigen Rekonstruktion, der Einbau einer Sauna und eines Swimmingpools wurden verhindert. Bis 1993 wurde die Villa als Gästehaus der tschechoslowakischen Regierung genutzt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass 1992 ausgerechnet in der Villa Tugendhat die Verhandlungen zur Teilung der Tschechoslowakei stattfanden. Seit 1994 ist die Villa Museum und der Öffentlichkeit wieder zugänglich. Sie steht unter dem Schutz der UNESCO.

  

Die Villa Tugendhat wirkt wie der Einschlag eines Meteoriten: man glaubt, alle nur denkbaren Räume schon einmal gesehen zu haben – und dann dies! Aber die Villa ist in Brünn kein Solitär, und Mies van der Rohe ist in Brünn kein exotischer Import, sondern ein Zeitgenosse. Dies wird schon klar im ersten Augenblick, wenn man aus Wien kommend am Bahnhof aussteigt. Gleich am Bahnhof stößt man auf das Bahnhofspostamt, äußerlich eher unscheinbar, innen aber mit einem komplett erhaltenen Interieur: Türen mit Messing- und Chrombeschlägen, lichten Schalterhallen aus Glas, alles nach draußen, auf den Gleisanschluss ausgerichtet, die Verbindung zur weiten Welt symbolisierend, eine Architektur der Kommunikation und des Tempos. In einer der oberen Schalterhallen stehen sogar noch Bänke aus geschwungenem Chrom, nur die beigen Kunstlederbezüge sind erneuert. Es stellt sich heraus, dass es eines der Hauptwerke von Bohuslav Fuchs aus der Mitte der 1920er Jahre ist. Der Post gegenüber sieht man einen langgezogenen, am Ende in eine Rundung auslaufenden Kiosk mit Fensterbändern und einem über drei Etagen führenden verglasten Treppenhaus, elegant wie Mendelsohns Ufa-Kino am Kurfürstendamm en miniature. Es ist der städtische Zimmernachweis, nach einem Entwurf von Oskar Poriska 1927-1928 errichtet und bis heute dem nämlichen Zweck dienend. Der elegante Bau ist in dunklem Grau gehalten, der anderen Farbe der weißen Moderne. Das ist erst der Eingang in die Stadt.
Wenn man dann im Kern der Stadt herumgeht und über die Parks und Ringanlagen hinaus in die zentrumsnahen Vororte, dann kommen einem auf Schritt und Tritt die Linien, die Kanten, die gerundeten Eckhäuser, die Fensterbänder, das Glas und die Materialien der Brünner Glanzzeit entgegen: Travertin aus der Gegend oder aus Italien, Chrom, Glas, weitgespannte glatte Oberflächen, sparsame Ornamentierungen, Opalix in weiß und schwarz, hergestellt in einer einst weltberühmten Fabrik in Teplitz (heute muss der Ersatz der Platten in Frankreich geordert werden). Auf kürzester Strecke – den Stadtkern innerhalb des Rings durchquerend – treten einem alle Elemente dieser Hauptstadt der weißen Moderne entgegen. Hotels, Bürohäuser, Banken, Cafés, Kinotheater, Passagen. Alles in einer fast unversehrt scheinenden Formensprache des Neuen Bauens, alles in den Materialien der Brünner Moderne: Glas, Chrom, schwarze und weiße Kacheln.
Hotel Avion. Von außen eine mehr als schmale Fassade, eingezwängt zwischen die Nachbarhäuser, die Glasfassade heute zugekleistert mit Reklame für ein Internetcafé, Pizzeria usw. Was einmal durchsichtig, transparent, als Ausstellungsvitrine und Schaufenster im buchstäblichen Sinne gedacht war, ist zugeklebt. Die Interieurs heute: Kitschbilder von Neapel mit Vesuv und Golf, rustikales Holzmobiliar, grelle Farben. Dazwischen führt aber eine Treppe hinauf, aus rotem Granit, mit Geländern aus Chrom. Altes Material, Spur, die in ein Wunder führt: einen Raum, der über drei Etagen geht, mit geschwungenen Treppen, von unten wie eine Rolltreppe anzusehen. Es muss Oberlicht gegeben haben, das man mit weißer Farbe zugetüncht hat. Bohuslav Fuchs, der geniale Brünner Architekt, hat auf einem denkbar winzigen Grundstück 1926/1927 einen ganzen Kosmos gebaut, der heute, wo er verstellt ist von Kneipentresen und Monitoren kaum zu erkennen ist.
Etwas weiter, am Freiheitsplatz, ist ein anderer exemplarischer Bau zu sehen: die Mährische Landesbank mit ihren hohen Fensterbändern, von Bohuslav Fuchs zusammen mit Arnost Wiesner 1929 gebaut. Am Bau des Brünner Theaters, in einem Park gelegen, hängen Transparente mit dem Programm des Janáček-Festivals. Fast alles Opern von Janáček, dem großen mährischen Komponisten, der den größten Teil seines Lebens in Brünn verbrachte, stehen auf dem Programm: Katja Kabanowa, die Sache Makropoulos, das Schlaue Füchslein. Das Theater ist ein Bau von großer Wucht, fast ein Kongresszentrum, stammt zwar erst aus der Nachkriegszeit (gebaut von Jan Vísek), man sieht ihm aber an, wie sich hier die Brünner Schule fortgesetzt hat. Nicht weit davon, noch in den Parkanlagen, die an Stelle des alten Festungsrings angelegt worden waren, das Café Josef Zeman, eine Arbeit von Bohuslav Fuchs aus dem Jahre 1925. Von außen gleicht es wiederum einer weißen Jacht. Wer das Café betritt, wird in seinen Bewegungen gleichsam sanft geleitet: man tritt ein, gelangt wie von selbst an die Garderobe im Keller, kehrt zurück und betritt einen großen, langgestreckten Saal, der zu beiden Seiten mit deckenhohen Fenster geschlossen, nein: nach draußen geöffnet ist. Die Scheiben lassen sich auch hier herunter drehen und im Fußboden versenken. Man tritt dann auf die Terrasse und in den Park hinaus. Man sitzt an den Tischen wie in einem Pavillon oder auf einem Boot. Alles ist solide und edel: die Leuchten, die Fensterrahmen, die Türbeschläge und Griffe, die Treppengeländer, die Photogalerie an der Wand. Später erfahren wir, dass wir nicht in Bohuslav Fuchs' Cafés Zeman, sondern in dessen Replik gesessen und gegessen haben. Wir hatten uns schon über die Dauerhaftigkeit der Materialien, die Solidität der handwerklichen Ausführung gewundert. Nun, es ist eine Kopie, während das Original, da es dem Theaterneubau im Wege gestanden hatte, abgerissen worden war. Erst 1994, nach dem Ende des Sozialismus, hatte die Stadt beschlossen, Bohuslav Fuchs' berühmtes Café wieder aufzubauen.
Wir gehen über den Ring, der um 1860 an Stelle der alten Wehranlagen angelegt worden ist, und gelangen in ein Viertel, das großstädtischer nicht gedacht werden kann. Der dominierende Bautypus sind imposante Mietshäuser mit großen Wohnungen, wohl für Beamte und die gehobene Mittelschicht, aber auch schon eine Reihe von ins Monumentale gehenden Gebäuden, wie der Büro- und Wohnkomplex der Bezirkskrankenkasse in der Nerudová-Straße, die Jindrich Kumpost 1932-1934 errichtet hatte, dessen Haupteingang von Atlanten bekrönt ist. Dort finden sich auch andere bedeutende öffentliche Gebäude: die Militärakademie, Hospitäler, zahlreiche Sportanlagen, die städtische Badeanstalt, das Studentenwohnheim der Masaryk-Universität und nicht weit davon, in einem Viertel mit aufgelockerter, einer Gartenstadt ähnlichen Bebauung, die weißen Kuben der Einfamilienhäuser und Villen – nicht zuletzt die Villen, die die Brünner Avantgarde für sich selbst gebaut hat. Eine Siedlung, die es leicht mit der Stuttgarter Weißenhofsiedlung aufnehmen kann.
Ein drittes Zentrum der Brünner Zwischenkriegsmoderne ist das Ausstellungsgelände, das man mit der Straßenbahn leicht und schnell erreicht und das einen unvergleichlich eleganten und kraftvollen Komplex von Ausstellungshallen, gläsernen Pavillons, Kino, Theater birgt. Ein Weltentwurf aus Beton und Glas. Das ist die neue Tschechoslowakei, ihre Kraft und Eleganz. Das Areal der Brünner Messen und Ausstellungen, ursprünglich das Ständige Landesmessegelände, wurde im Jahre 1928 fertiggestellt. Aus dem Wettbewerb war der Prager Architekt Josef Kalous als Sieger hervorgegangen. Von Josef Kalous und Jaroslav Valenta stammt auch der an das Mittelschiff einer gotischen Kathedrale erinnernde Handels- und Industrie-Palast, der die Ausstellung der Zeitgenössischen Kultur 1928 – das zehnjährige Jubiläum der Republik – beherbergt hatte. An den mehr als sechzig Ausstellungspavillons beteiligten sich fast alle führenden tschechischen und mährischen Architekten, und die Ausstellung wurde so zu einem Triumph der modernen funktionalistischen und konstruktivistischen Architektur nicht nur in der Tschechoslowakei. Der Pavillon der Stadt Brünn war von Bohuslav Fuchs entworfen, der daneben stehende Pavillon des Landes Mähren von Vlastislav Chroust. In der Nachbarschaft stehen Kinos und Cafés von Emil Králík und der von Josef Godár entworfene Pavillon.
Zum Messegelände gehört auch die Novy dum/Neue Haus- Ausstellung mit fünfzehn Muster-Einfamilienhäusern. Auch hier eine nur selten anzutreffende Konzentration anspruchsvollster moderner Architektur – wiederum vor allem von Jan Vísek, Arnost Wiesner, Bohuslav Fuchs. Kein Zufall, dass zwei der Konferenzen des Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) in Zlin und Brünn (1938) stattgefunden haben. Kein Zufall auch, dass unter den tschechischen Architekten, die enge Beziehungen zur internationalen Szene hatten – Lubomir Slapeta war bei Adolf Rading und Hans Scharoun, Jaromir Krejcar bei Moissei Ginsburg in Moskau – auch Brünner wie Jirí Kroha waren, der bei Nikolai Kolli in Moskau gearbeitet hatte.


Warum Brünn?

Es musste viel zusammenkommen, um Brünn zum Zentrum der Weißen Moderne zu machen: eine Akkumulation von Schule und Talent, eine Schicht von Industriellen und Unternehmern mit der Potenz und dem Willen zum Bauen, eine Verwaltung, die das Wohl der Stadt mit den Eigeninteressen der Auftraggeber verband, eine spezifische politische Konstellation, in der die kreativen Köpfe zueinander finden konnten. Dies war der Fall im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahre 1918 – das in vielem anders verlief als in den von Krisen und Instabilität erschütterten Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas. Brünn war die zweitgrößte Stadt der Republik, Sitz von Zentral-, Landes- und Stadtbehörden, mit fünf Hochschulen, zahlreichen Fachschulen, Gymnasien, einer hochentwickelten Industrie, ein herausragender Handelsplatz und Zentrum der Kultur mit Ausstrahlung über Mähren hinaus.

Brünn war schon in der Donaumonarchie eine bedeutende und dynamische Stadt. Ob man durch das Stadtmuseum auf der Festung Spielberg geht, ob man sich die Postkartenserien vom Alten Brünn ansieht oder die neue und üppige Brünn-Literatur in den gut sortierten Buchhandlungen durchblättert: alle Facetten der Geschichte einer mitteleuropäischen Metropole scheinen auf. Brünn im Schnittpunkt magyarischer, polnischer, tschechischer, deutscher Interessen; Brünn als Siedlungspunkt von Deutschen, Flamen, Wallonen, Juden; Brünn als Ansammlung aller denkbaren Orden, Kongregationen, Konfessionen; Brünn, heimgesucht von Kriegen und Feldzügen, umkämpft von Reformation und Gegenreformation, schwer geschlagen im Dreißigjährigen Krieg, aber immer wieder zu Kräften gekommen. Die Festung, hoch über der Stadt und heute Museum, war später berüchtigtes Gefängnis, in dessen Kasematten die ungarischen Jakobiner, die italienischen Carbonari, die Rebellen des Krakauer Aufstandes von 1846 und während der deutschen Besatzung die Angehörigen des Widerstandes eingesperrt waren. Von der Festung Spielberg aus ist auch der Grundriss der Stadt gut zu übersehen. Die Klöster und Seminare der Benediktiner, Prämonstratenser, Dominikaner, Minoriten; das alte Rathaus mit dem gotischen Portal; der Krautmarkt mit den Bürgerhäusern, dem Barockspringbrunnen von Fischer von Erlach, dem monumetalen Bau der Kyrill-und-Methodius-Darlehenskasse von 1913; das Dittrichstein-Palais und der Peter-Pauls-Dom, der wie eine auf einem Felsen aufgelaufene Arche aussieht. Man kann das Dreieck des Freiheitsplatzes erkennen, des ältesten Brünner Platzes, umstellt von Palais der Jahrhundertwende, an dem einst die Fernstraßen zusammengelaufen waren. Aus der Höhe des Spielberg kann man die großen Blöcke der alten Macht ausmachen: den Justizpalast von 1909, die Handels- und Gewerbekammer, die Technische Hochschule, die Militärkommandantur und die zahlreichen Kasernen, das Mährische Kunstgewerbemuseum von 1882, die Turnhalle des Deutschen Turnbundes, den Großen Saal des Vereinshauses (entworfen von Theofil E. Hansen und eröffnet 1873). Erkennbar ist auch das Masarykviertel mit seinen komfortablen Villen für die nach Brünn beorderten Beamten. In der Ferne sieht man die in den 1970er und 1980er Jahren errichteten Neubausiedlungen.

Wer so vertraut mit Brünn wäre wie der aus Olmütz stammende Peter Demetz, der würde die übereinander gelagerten Schichten des multiethnischen und multikonfessionellen Brünn erkennen. Peter Demetz: "Die Sache ist die: Brünn war damals, vor 'München', eine national und religiös geprägte Stadt verschiedener Gruppen und Gesellschaften. Sie hatte nicht bloß eine, sondern zwei oder drei Topographien, deren Konturen wie in einer verwackelten Photographie auf den einen Grundriss kopiert waren. Es kam darauf an, ob man Tscheche, Deutscher oder Jude war, oder gar einer wie ich, der überall und nirgends hingehörte, und sich von den Ereignissen gedrängt fand, Partei zu ergreifen." Peter Demetz lernte in den Dreißigerjahren, "wie sich die Brünner Topographie mit einem Male veränderte". "Eine der frühen Erfahrungen, deren Ergebnisse ich viel später begriff, waren meine Samstagnachmittage in der Zweigstelle der Brünner tschechischen Gemeindebibliothek, die sich fast gegenüber dem Masaryk-Gymnasium befand. Ich lernte dort, dass es nicht eine Geschichte gab, wie meine Professoren zu glauben schienen, sondern verschiedene, aus verschiedenen Perspektiven. Die tschechischen Bücher, nach den deutschen gelesen, zeigten mit einer unvermuteten Plötzlichkeit, dass ich, je nach der Sprache meiner Lektüre, in zwei historischen Welten lebte, die kaum Zeiten und Orte gemeinsam hatten, und selbst die Auswahl der Fakten war immer eine andere." Brünn trug alle Züge einer mitteleuropäischen Stadt. "Im Rathaus und in den Salons wurde deutsch gesprochen, auf den Märkten, in den Werkstätten der Handwerker und in den Stallungen tschechisch. Die Erfahrungen, Gebräuche, Sprachen und Mundarten, die die neuen Bewohner Brünns aus ihren ländlichen Heimatorten mitbrachten, das alles verwandelte sich in Wirtshäusern und Pawlatschen zum toleranten, in nationaler Hinsicht laxen Brünner und in das malerisch-hässliche Brünnerisch, mit dem sich Tschechen und Deutsche untereinander verständigten" (Jan Trefulka). Kein Jahrzehnt später wird diese schwierige, aber irgendwie funktionierende Kohabitation in "Janádeks Brünn" gesprengt sein.

Brünn war eine der dynamischsten und modernsten Städte der Donaumonarchie, ein Zentrum der Textil- und Maschinenbauindustrie und der Lederverarbeitung. Seit dem Bau der Eisenbahnstrecke Wien-Brünn 1839 hatte sich die Stadt zu einem Verkehrsknotenpunkt entwickelt. Brünn war fast so etwas wie eine Vorstadt von Wien geworden. Alles, was für den Umbau in eine moderne Großstadt notwendig war, kam hinzu: Niederlegung der Festungsanlage und großzügige Neubebauung, Bau von Wasserleitung und Kanalisation, Einrichtung von Omnibussen und Straßenbahnen, Stadtbeleuchtung, Errichtung eines Gaswerks. 1882 gab es im neuen Gebäude des deutschen Stadttheaters die ersten Glühbirnen und 1897 das erste städtische Elektrizitätswerk. 1914 gab es an die dreihundertzwanzig Fabriken, davon siebzig Textilbetriebe, die meisten in deutscher und jüdischer Hand. Es sind jene wohlhabenden bürgerlichen Familien, die die Brünner Moderne möglich gemacht haben.

Mit der Ausrufung der Republik 1918 werden zahlreiche Nachbarorte eingemeindet. Groß-Brünn ist nun eine Großstadt von 210 000 Einwohnern.Von nun an ist die Stadt, die um 1910 noch mehrheitlich deutschsprachig gewesen war, mehrheitlich tschechisch: von den 265 000 Einwohnern bekannten sich 200 000, also etwa 77 Prozent, als Tschechen und 52 000, also etwa 20 Prozent als deutsch. Für Brünn bedeutete die Unabhängigkeit zunächst einen wirtschaftlichen Rückschritt, da der Brünner Textilindustrie der große Markt der Donaumonarchie verloren gegangen war. Aber Brünn war die zweitgrößte Stadt der Republik geworden und zog neue Funktionen auf sich, etwa die Einrichtung der Masaryk-Universität im Januar 1919. In Brünn entfaltete sich eine starke Bautätigkeit: allein 1927 wurden tausend Häuser mit 2500 Wohnungen gebaut. Die Weltwirtschaftskrise 1929 löste eine starke staatliche Bautätigkeit aus, den Bau von Mietshaus-Siedlungen für unterschiedliche Ansprüche – eine ideale Situation für Architekten.

Brünn war in dieser Hinsicht gut gerüstet. Adolf Loos, der große Architekt der Wiener Moderne, war 1870 in Brünn zur Welt gekommen. In Brünn hatten Leopold Bauer und Hubert Gessner, führende Vertreter des Wiener Jugendstils, aber auch Josef Godár aus Prag gearbeitet. Die Standards waren hoch und garantierten ein ununterschreitbares Niveau. Die Brünner Moderne war auch eine stilistische Kampfansage gegen den Stil der Monarchie, gegen den Prunk der neobarocken Fassaden. Bauformen hatten im Kampf um die nationale Unabhängigkeit auch eine ethnische Konnotation bekommen. Die Weiße Moderne war soviel wie die selbstbewusste Form der Republik.

Es war ein Glücksfall für die Stadt, dass sich eine einzigartig eindrucksvolle Gruppe von jungen begabten Architekten fand, die in den zwei Jahrzehnten zwischen den Kriegen das Gesicht der Stadt umgestalten sollten. An erster Stelle ist dies vielleicht das Verdienst von Architekten wie Jindrich Kumpost, dem es gelungen war, die jungen Brünner Architekten zusammenzubringen. Im Jahre 1919 wurde an der Tschechischen Technischen Hochschule in Brünn der Lehrstuhl für Architektur und Hochbau gegründet, wo zwei ebenfalls bedeutende Architekten – Emil Králík und Jiří Kroha – arbeiteten. Arnost Wiesner, ebenfalls hoch begabt, gründete das erste Büro für Architektur in Brünn. Die meisten Architekten hingen einem soliden und feinen Funktionalismus an, was sich schlagend beim Bau des Messegeländes im Jahre 1928 zeigte. Deutsche und jüdische Architekten spielten eine große Rolle: Arnost Wiesner, Otto Eisler, Heinrich Blum, Rudolf Baumfeld, Norbert Schlesinger. Andere Brünner Funktionalisten allerhöchsten Rangs sind: Josef Kranz, Mojmír Kyselka, Josef Polásek, Oskar Poriska, Bedrich Rosehnal, Jan Vísek. Die führende Rolle aber fiel Bohuslav Fuchs (1895-1972) zu. Gemeinsam mit Karel Teige und dem Architekten Jaromír Krejcař trug er die tschechoslowakische Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Er war aus der 'Mährischen Wallachei' gekommen, hatte Architektur bei Jan Kotera – auch er ein gebürtiger Brünner – an der Akademie der bildenden Künste in Prag studiert. Im Frühjahr 1923 ließ er sich für immer in Brünn nieder und begann seine Karriere als Mitarbeiter der Abteilung Regulation und Architektur der Baubehörde der Stadt Brünn, wo er 1925 von Jindrich Kumpost abgelöst wurde. 1929-1945 betrieb er sein eigenes Projektbüro mit später berühmten Kollegen. Im Jahre 1945 leitete er das Institut für Städtebau an der Edvard-Beneš-Technischen Hochschule in Brünn. Er hinterließ nahezu hundert städtebauliche Entwürfe und rund fünfhundert architektonische Projekte, von denen mehr als hundertfünfzig realisiert wurden. Die wichtigste Phase ist die des heroischen Funktionalismus, die mit dem Café Zeman eingeleitet worden war. Es folgten der Pavillon der Stadt Brünn auf dem Messegelände, das Dreier-Haus in der Neues Haus-Wohnsiedlung, das Hotel Avion, die Mährische Bank, sein eigenes Wohnhaus, das Masaryk-Studentenheim, die Fachschule für weibliche Berufe Vesna und das Eliska Machova-Heim, die deutsche Volksschule, die städtische Badeanstalt in Zábrdovice. Ende der Dreißigerjahre realisierte er die schon ins Monumentale gehende Landesmilitärkommandantur. Es gibt vermutlich nur wenige Architekten, die mit ihrem so vielseitigen und kompakten Œuvre so sehr einen Ort geprägt haben.

 

Brünn, diese Stadt der Weißen Moderne, ist nur ein, wenn auch ein besonders leuchtender Punkt auf der Karte Europas zwischen den Kriegen. Sie finden sich, vielleicht nicht in dieser Dichte und Prägnanz, fast überall in Mitteleuropa. Die Fensterbänder, die gerundeten Kanten, der Verzicht auf Ornamente, die gediegene Ausführung der Details sind so etwas wie die Formensprache, in der sich das mittlere und östliche Europa zwischen den Kriegen zu erkennen gab und sich über die Grenzen hinweg verständigte. Die Weiße Moderne war tatsächlich ein internationaler Stil, daher auch von Anfang an der Widerpart einer dezidiert nationalen oder volkhaften Formensprache. Die auffällige Synchronizität ist keine Mode, sondern hat zu tun mit den Schubkräften, die wirksam waren, mit den Aufgaben, mit denen die aus dem Zerfall der Imperien hervorgegangenen neuen Nationalstaaten konfrontiert waren, und letztlich mit der Meisterschaft der Architekten und dem gemeinsamen, noch aus der Vorkriegszeit stammenden ästhetischen Erbe. Wie viele von ihnen, die nun in ihren unabhängig gewordenen Staaten an führender Stelle tätig waren, hatten an den Kunsthochschulen von Wien, Sankt Petersburg, Berlin, Paris oder Rom studiert! Wie ähnlich waren sich die Aufgaben und wie verwandt die Antworten! Die Zeichensprache der Weißen Moderne, der wir allenthalben begegnen und die bis heute sich hartnäckig gegen den grauen Hintergrund der sozialistischen Stadt abhob, war ein Idiom, das man überall verstand. Heute, nach Jahrzehnten der Teilung, sind wir in die Lage versetzt, den offenbaren, aber vergessenen oder verblichenen Zusammenhang wieder zur Kenntnis zu bringen. Das Ergebnis wird eine Neukartierung der europäischen Architekturlandschaft des 20. Jahrhunderts sein.

Am deutlichsten kann man dies in den Hauptstädten ablesen. Die Symbole und Zeichen der alten Mächte und Dynastien wurden gestürzt, die öffentlichen Plätze, Gebäude und Straßen umbenannt, vor allem aber mussten funktionsfähige und für die neuen Nationalstaaten repräsentative Hauptstädte hergerichtet oder ganz neu errichtet werden. Es bestand ein enormer Bedarf an allen Gebäuden staatlicher Verwaltung, die durch Umbau- oder Neubau errichtet werden mussten. Helsinki und Belgrad, Warschau und Bukarest werden Großbaustellen der Nation. Städte hingegen, denen durch die Pariser Friedensverträge Territorien und Menschen abhanden gekommen waren – etwa Budapest und Wien –, stagnierten oder schrumpften gar. Der Stil der neuen Hauptstädte setzt sich polemisch ab gegen den Stil der Anciens régimes: man will keine neorussischen, neoromanischen oder neogotischen Gebäude in Polen mehr haben, die für die Macht der Romanows oder der Hohenzollern standen. Im schlimmsten Fall wurden die Symbole der Macht gesprengt (etwa die Alexander-Newski-Kathedrale im Zentrum von Warschau). In noch drastischeren Fällen werden Hauptstädte einfach verlegt: so hört Sankt Petersburg/Petrograd auf, Hauptstadt zu sein, aber auch Istanbul, die Regierung nimmt ihren Sitz an einem anderen, manchmal sogar neuen, erst noch zu erbauenden Ort (wie in Ankara oder im Falle Litauens, das wegen der Besetzung von Vilnius durch Polen die Regierung nach Kaunas verlegt). Die Mythen der Nation werden zitiert: bei der Herrichtung der Prager Burg für die Republik schließt man eher an den Traditionen von Karl IV. an als am Barock, der angeblich habsburgischen Stilform schlechthin.

Große Infrastrukturmaßnahmen und Bauprojekte kamen auf die neuen Staaten zu. Die Territorien der neu entstandenen Staaten mussten zum Teil erst zu homogenen Wirtschafts- und Verwaltungsräumen zusammengefügt werden, wie im Falle der Zweiten Polnischen Republik, die aus den russischen, deutschen und österreichischen Teilungsgebieten hervorgegangen war. In all diesen Fällen ging es um große Projekte zur Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes, den Bau von Eisenbahnen, Straßen, Kanälen, Seehäfen und Flughäfen. Die 1920er Jahre waren – jedenfalls in den 'Siegerstaaten' – eine Hochkonjunktur für Architekten, Ingenieure, Designer, Planer.

Es ist nun klar, weshalb die Bauten der Zwanzigerjahre sich an manchen Orten so massiv ins Stadtbild eingeprägt haben. Wohin auch immer wir heute kommen, die Spur des Aufbruchs, der Neueinrichtung der staatlichen Ordnung, der Modernisierung ist immer noch deutlich ablesbar. Wer sich mit der Europa-Karte der Weißen Moderne vertraut macht, bewegt sich bald in einem vertrauten Kosmos. Er erstreckt sich zwischen Erich Mendelsohns expressionistischem Einstein-Turm in Potsdam und den Wasserwerken von Temesvár, zwischen den Villen von Evzen Linhart auf dem Baba Hügel in Prag und Le Corbusiers Villa in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, zwischen den Einfamilienhäusern im Warschauer Vorort Zolibórz und den Musterhäusern in der Pasareti Straße in Budapest. Der Bedarf an öffentlichen Gebäuden war enorm: so entstanden überall neue Bibliotheken, Archiv- und Museumsgebäude, nationale Akademien und Wissenschaftsinstitute, vor allem aber Hospitäler, Schulen und Studentenwohnheime. Überall finden sich die Gebäude, in denen sich eine neue Öffentlichkeit jenseits des alten aristokratischen oder bürgerlichen Salons etablierte: in den transparenten, mit Glas und Chrom gestalteten Cafés und Passagen von Brünn, Bukarest, Warschau und in den neuen Lichtspielhäusern von Budapest, Prag und Berlin. Der Slogan der Zeit – Licht, Luft, gesundes Leben – hat Wirkung gezeigt: in den Ministerien für Körperkultur in Warschau, den Vereinshäusern der nationalen Sportvereinigungen, in den Stadien, Sporthallen und Schwimmbädern. Erholung ist nicht mehr nur die Sache einer kleinen Minderheit, sondern neuer Schichten der Bevölkerung, oft als "Massen" vorgestellt. So entstehen Sanatorien für Werktätige, Beamte und Angestellte in den Beskiden, in der Hohen Tatra, an den Stränden von Pärnu und Zoppot, lange vor der kommunistischen Zeit. Für die neue Staatsklasse, für Beamte oder verdiente Legionäre werden Wohnungen gebraucht; überall entstehen Siedlungen im Stile von Gartenstädten in den Vororten von Warschau, Krakau, Tallinn, Prag, Belgrad. Neue Bautypen tauchen auf: Kaufhäuser aus Glas, Stahl und Beton, die ganze Gebäudefronten als Schaufenster und Reklametafel einsetzen.

Und als non plus ultra des Neuen Bauens: das Hochhaus, der Wolkenkratzer. Als Hochhauslandschaft ist die ganze Nord-Süd-Achse des neuen Bukarest gestaltet; als Solitär, der die bisherige Silhouette sprengte, wurde das siebzehnstöckige Gebäude der Prudential Insurance Company in Warschau oder der zwölfstöckige Wolkenkratzer in Kattowitz, dem "polnischen Amerika", errichtet. Die nachholende Industrialisierung schlägt sich nieder in Industriebauten neuen Typs, weiß, funktional, mit großen Fensterflächen, hell und transparent wie die Werke und Niederlassungen des Bata-Schuhkonzers in Zlín und anderen Städten (auch in Brünn). In den unabhängig gewordenen Staaten kommen die religiösen Bekenntnisse zum Zug, die vorher unterdrückt waren, also ist die Zeit nach 1918 auch Boomzeit für den Bau von neuen Kirchen und Synagogen. Die Volkswirtschaften der neuen Staaten brauchten Plätze für die Demonstration ihrer Leistungskraft, also wird das Ausstellungs- und Messegelände – wie in Brünn oder Posen – zu einem Prototyp architektonischer Selbstdarstellung und Erprobung der neuen Formen.


Die Topographie der Moderne in Zentraleuropa ist fast unkenntlich geworden. Sie gibt sich nur zu erkennen, wenn man sie durchstreift, von einem Ende zum anderen: von Helsinki über Tallinn und Riga und Kaunas nach Bukarest, Novi Sad, Belgrad und Ljubljana, von Gdingen über Brünn nach Triest und von Rotterdam über Berlin nach Warschau. Die Landschaft der Moderne ist über weite Strecken verwahrlost, verwittert, ruiniert, stellenweise sogar gänzlich gelöscht. Krieg und Nachkrieg haben das auf je spezifische Weise besorgt. So fiel der neue Warschauer Zentralbahnhof, eine Konstruktion aus Glas und Beton, den ersten Luftangriffen der Deutschen zum Opfer, so wurde das Prudential Insurance Gebäude in Warschau während des Warschauer Aufstands in Brand geschossen: Wolkenkratzer-Europa in Flammen!Die Weiße Moderne wurde weitgehend mit der Republik und mit der Demokratie identifiziert. Viele ihrer herausragenden Baumeister – Gropius, Taut, Meyer, May, van Doesburg, Norwerth, Lachert, Syrkus, Kroha, Forbat, Hilbersheimer – standen auf der republikanischen, wenn nicht gar radikalen Linken. Das konservative Bürgertum verdächtigte sie der Bilderstürmerei, für die autoritären Regime der Zwischenkriegszeit war ihr Stil zu wenig repräsentativ und zu wenig monumental; mit ihnen ließ sich kein autoritärer Staat machen. Für die Nationalsozialisten war die Weiße Moderne identisch mit Kulturbolschewismus, Wurzellosigkeit, Judentum (auch hier gibt es wieder eine bemerkenswerte Differenz zum italienischen Faschismus, der in vieler Hinsicht die Weiße Moderne zu seinem Stil gemacht hatte). Das Netz der internationalen Beziehungen war dicht geknüpft: El Lissitzky war unterwegs zwischen Moskau und Berlin, Konstantin Melnikow war lange in Paris, Le Corbusier und Walter Gropius nahmen an sowjetischen Wettbewerben teil, Mendelsohn baute in Leningrad, Alfred Forbat in Berlin. In Sowjetrussland, wo der Konstruktivismus im nachrevolutionären Jahrzehnt sein kraftvollstes Zentrum hatte und von dort überall hin ausstrahlte, kam er unter die Räder eines neoklassizistischen und bald eklektizistischen Monumentalismus, der in den 1940er Jahren, in der Endzeit des Stalinismus, in den sogenannten Zuckerbäckerstil überging. Europa zwischen den totalitären Mächten war der Architektur der Weißen Moderne sowenig günstig wie den Formen des zivilen und republikanischen Lebens. Als "Bauhäusler" hatte man in den 30er Jahren keine großen Chancen, überdurchschnittlich viele von ihnen mussten ins Exil. Das wohlhabende jüdische Bürgertum, das für die Entwicklung der Moderne soviel getan hatte, verlor mit den 'Arisierungen' sein Eigentum, musste ins Exil oder wurde umgebracht. Die sozialistischen Regime, die im östlichen Europa auf die deutsche Herrschaft gefolgt waren, hatten mit den Eigentümern von einst nichts im Sinn. Viele Gebäude hatten ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt: wofür brauchte es im Staat sozialistischer Planung und Umverteilung noch Banken, Hotels oder gar Einfamilienhäuser! Sie wurden enteignet, umfunktioniert oder waren, wo es keine Verwendung für sie gab, der Verwahrlosung preisgegeben. Es war ein Glück, wenn sich eine (intelligente) Nach- oder Neunutzung fand für Bank- und Hotelgebäude, für Villen, die in Kindergärten, Kulturhäuser oder auch Hochzeitspaläste umgewandelt wurden. So litt das an vielen Stellen so kompakte Massiv der Weißen Moderne, zerfiel in seine Einzelteile. In einigen glücklichen Fällen wurde nach dem Krieg die konstruktivistische Linie wieder aufgenommen – in Brünn selbst kann man dies am Opernhaus von Jan Višek sehen. Doch das Bürgertum, das die Moderne getragen, sie gleichsam als den ihr eigenen Stil betrachtet hatte, war untergegangen.

Was Brünn zwischen 1938 und 1948 erlebte, war die Auflösung einer über Generationen hin gewachsenen komplexen und gemischten Stadtgesellschaft. In einer sich steigernden Sequenz von Ausgrenzung, Verfolgung, Säuberung wird aus der gemischten Gesellschaft von Brünn/Brno die entmischte, sozial und ethnisch mehr oder minder homogene Stadt. Brünn, das in den 30er Jahren zum Zufluchtsort von verfolgten Hitlergegnern aus Deutschland und Österreich geworden war, ein Fluchtpunkt für verfolgte Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden, wird nach dem Anschluss des Sudetengebietes und nach der Besetzung durch die Wehrmacht zum Ort der Säuberung, aus dem Tschechen und Juden entfernt werden. Am Ende trifft es die Brünner Deutschen selbst: in einem berüchtigten Brünner Todesmarsch werden die verbliebenen etwa 20.000 Deutschen unter entsetzlichen Bedingungen über die Grenze nach Österreich geschafft. Und was an Bürgerlichem noch in der Stadt war, wird nach der kommunistischen Machtübernahme an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Neuentdeckung und -bewertung der Weißen Moderne sind im Grunde erst im Zusammenhang der zivilgesellschaftlichen Umwälzung, die in das Jahr 1989 einmündete, in Gang gekommen. Nicht zufällig, denn die städtische Gesellschaft, die einst die Weiße Moderne getragen oder wenigstens favorisiert hatte, war auf die Bühne zurückgekehrt. Eine Archäologie der europäischen Moderne würde das Relief freilegen, auf dem schon einmal der Aufbruch in ein ziviles Europa geruht hatte. In Brünn, wo das Feld am dichtesten bestellt war, lässt sich bis heute etwas von der Kraft und dem Glanz der Moderne erkennen.

 

© Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Karl Schlögel, aus: ders.: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, Carl Hanser Verlag München, 2006; Foto: dpa

 


Karl Schlögel, *1948, hat an der FU Berlin, in Moskau und St. Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Autor und Herausgeber u.a. der Bücher:
Terror und Traum: Moskau 1937, München 2008
Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a.M. 2007 (Hrsg.)
Das Russische Berlin: Ostbahnhof Europas (Ergänzte und aktualisierte Neuausgabe von Berlin, Ostbahnhof Europas), München 2007
Planet der Nomaden, Berlin 2006
Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München 2005
Kartenlesen oder: Die Wiederkehr des Raumes, Zürich 2003
m Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003
Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München 2001
Die Mitte liegt ostwärts: Europa im Übergang, München 2002
Petersburg: Das Laboratorium der Moderne 1909-1921, München 2002
Berlin, Ostbahnhof Europas: Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998
Go East oder die zweite Entdeckung des Ostens, Berlin 1995
Moskau lesen, 1984, geänderte Neuauflage 2011: Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole, Carl Hanser Verlag, München 2011.
Für seine historiografischen und essayistischen Werke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Sigmund Freud-Preis, dem Georg Dehio-Buchpreis, dem Lessing-Preis, dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung (2009) und zuletzt mit dem Hoffmann-von-Fallersleben-Preis für zeitkritische Literatur und dem Franz Werfel-Menschenrechtspreis(2012). Schlögel lebt in Berlin.


 

 



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