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„Kaschau war eine europäische Stadt“ – Sándor Márai


Fotos und Bildbeschreibung: Daniela Capcarová
Text und Zitat-Auswahl:
Katja Schickel



Und ich will davon bis zum letzten Augenblick, solange man mich den Buchstaben niederschreiben läßt, zeugen: daß es eine Zeit gab und einige Generationen, die den Sieg des Verstandes über die Triebe verkündeten und an die Widerstandskraft des Geistes glaubten, der die Todessehnsucht zu zügeln vermag.

Sándor Márai, Bekenntnisse eines Bürgers



Sándor Márais Geburtshaus – Bočná 2









Sándor Márai wird am 8. April 1900 um 20.00 Uhr im Haus in der ehemaligen Klinček Straße 6 (heute Bočná 2, Südflügel, neben dem Parkplatz) geboren.



Bei Wind bin ich geboren, abends um acht. Habe Kaschau geliebt und Gedichte, Frauen, Wein und die Ehre und wohl auch die Vernunft, wenn sie zum Herzen spricht.

Košice ist zu jener Zeit eine Vielvölkerstadt und ist es immer noch, aber auf andere Weise: Slowaken, Tschechen, Ungarn, Roma leben hier, kaum noch Juden und wenige Deutschstämmige. Die jüngere Geschichte Košices spiegelt, wie in vielen anderen (ost-) europäischen Städten, die entsetzliche europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts wider – und wirkt bis heute nach. Bis 1918 gehört Kaschau zur Donaumonarchie, danach zur Ersten Tschechischen Republik, nach dem deutschen Einmarsch 1938 wieder zu Ungarn. Deutsche Wehrmacht und SS, die 1944 in die Stadt kommen, verfolgen und registrieren die rund 11.500 Juden der Stadt, pferchen sie auf ein Fabrikgelände, das als Ghetto dient, bis sie nach Auschwitz abtransportiert werden. Mit Eichmanns Transportabkommen von Kassa wird der Bahnhof der alten Handelsstadt zum 'zentralen Umschlagplatz' für rund 380.000 slowakische und ungarische Juden, die in die Vernichtungslager deportiert werden. 1945 wird die Stadt mehrmals bombardiert und schließlich von der Roten Armee erobert. Obwohl Márai seine Heimat bereits 1919 verlassen hat, bleibt sie stets ein Sehnsuchtsort. Nach dem Zweiten Weltkrieg liegt alles in Trümmern.


Von meiner Wohnung fand ich nur einige Tragwände der Brandschutzmauern. Während der Belagerung wurde sie dreimal von Bomben und mehr als dreißig Mal von Granaten getroffen. Sándor Márai, Kaschauer Bomben


Haus und Gedenkzimmer in der Mäsiarska 35/Fleischhauergasse










1915 zog die Familie Grosschmid ins Haus in der Mäsiarska. Die Gedenktafel wurde am 22. März 1991 festlich enthüllt.



Die Familie Grosschmid ist angesehen und wohlhabend, die Mutter Lehrerin in einer Höheren Mädchenschule, der als liberal-konservativ geltende Vater Rechtsanwalt und Notar und in dieser Funktion Aufsichtsrat über die Banken von Košice, für das er auch als Vertreter der Katholische Kirche im Prager Senat sitzt. Den Söhnen verbietet er unter seinem Namen künstlerisch tätig zu werden. Das Adelsprädikat de Mára des Großvaters wird zum Pseudonym für Sándor Márai, der andere Sohn wird als Filmregisseur unter dem Künstlernamen Géza von Radványi bekannt. Die Familie wohnt im Obergeschoss des Hauses, nachdem sie lange in einer kleineren Mietwohnung gelebt haben. Der Schriftsteller erzählt, wie beglückt die Eltern ihre Kinder immer auf dem Balkon sitzen sehen, bis sie feststellen müssen, dass im Nachbarhaus ein Bordell ist und ihre Söhne die Frauen beobachten. Ein zwiespältiges Bild zeichnet Márai: „Aus dem Garten bot sich Aussicht auf den Hof und das laute Obergeschoss des benachbarten 'Proletenhauses'; diese 'gewöhnliche' Nachbarschaft bereitete der Familie viel Ärger. Im Obergeschoss hauste ein kunterbuntes Völkchen, Einwanderer aus Galizien, den ganzen Tag liefen zerzauste und mangelhaft bekleidete Mädchen den Gang entlang, sie lärmten, sie flöhten sich bei geöffneten Fenstern, sie zeigten beim An- und Ausziehen ihre Reize und empfingen ungezwungen ihre flatterhaften und häufig wechselnden Liebhaber. Vater erwog ernsthaft dieses 'öffentliche Haus' zu kaufen und die stille und brave Straße von dieser 'Schande' zu befreien; aber das Haus war zu teuer, wir mussten diese Heimsuchung dulden.“ Sándor Márai, Bekenntnisse eines Bürgers (Schilderung von Kindheit und Jugend in Kosice)















Gebäude des Prämonstratenser-Gymnasium - Kováčska 25. Seit 1909 war Márai Schüler am Gymnasium, das dem Prämonstratenser-Orden aus Jasov (Jossau) gehὅrte. Nach zwei Unterbrechungen verließ er 1916 die Schule. Danach wurde er in Prešov (Preschau) unterrichte.


Košice liegt heute in einem Länderdreieck, Richtung Süden siebzehn Kilometer von der ungarischen Grenze, nördlich etwa hundertzwanzig Kilometer von der polnischen und weiter östlich etwa hundert Kilometer von der ukrainischen entfernt, und ist die zweitgrößte Stadt der Slowakei. Die größte Stadt, Bratislava, liegt nur neunundsiebzig Kilometer von Wien entfernt, also ganz im Westen des Landes, Kosice ganz im Osten; die gesamte Region bildet den östlichen Rand der EU. Die Stadt lag einmal an einer wichtigen Handelsstraße und soll nun wieder Ausgangs- und Kreuzungspunkt für Straßen- und Schienenverkehr zwischen Russland, den Nachbarländern, aber auch China und den westlichen Ländern werden. 
Košice umfasst einen historischen Kern, die beeindruckend restaurierte Altstadt, und Neubausiedlungen (meist Plattenbauten) noch aus sozialistischer Zeit, als mit der Ansiedlung von Schwerindustrie die Bevölkerung sprunghaft ansteigt. Innerhalb eines Jahrhunderts wächst sie von rund 44.000 und 60.000 vor dem 2.Weltkrieg auf über 240.000. Im Stadtzentrum steht etwas schräg der Elisabeth-Dom, die größte Kirche in der Slowakei, mitten auf der Hauptstraße.


Die sechshundertjährige Kirche erhob sich hoch über der Stadt. Zentrum allen Lebens und Denkens, das sie durch Jahrhunderte durchströmte, als hielte sie durch Zeiten und Zeitalter das Gleichgewicht der Stadt. Form gewordene Idee, die weithin sichtbar aus dem schmatzenden, sterblichen Alltagswirrwarr, aus dem vertrauten Radau der Stadt herausragt ... Mit seinen drei großen Schiffen, deren genaues Ebenbild ich an der Kathedrale von Tours fand, und seiner leuchtenden, farbigen Schieferbedachung lagerte der Dom behäbig und mit der schwerfälligen Ebenmäßigkeit eines Riesen in einer kleinen Stadt


Nach dem 2. Weltkrieg ist Košice kurzzeitig Hauptstadt der Tschechoslowakei, die tschechische Exilregierung stellt ihr Kaschauer Programm vor, das Basis für die Beneš-Dekrete ist, mit denen die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei besiegelt wird. In der Nachkriegszeit entwickelt sich Košice zur aufstrebenden Industriestadt an der Grenze zur Sowjetunion. Seit der Samtenen Revolution 1989 muss die Stadt neue Wege gehen, eine eigenständige Entwicklung vorantreiben, jenseits von Kaltem Krieg, Dünkel und Nationalismus. Vor allem wird es darum gehen, die Probleme der Armut nicht als ethnische Gegensätze und Konflikte zu sehen (vor allem Roma – Nicht-Roma, aber auch andere Minderheiten), sondern für Angleichung der Lebensverhältnisse zu sorgen, ein Thema allerdings, dass ganz Europa angeht.


Mit den Jahren wird unsere Beziehung zum Geburtsort immer komplizierter. Mit der Zeit kommt der Mensch nicht mehr in seine Geburtsstadt, um nach Erinnerungen zu suchen, sondern mit dem Ziel, für eine Weile das unbeständige Gefühl der Geborgenheit in einer sich ständig wandelnden Welt zurückzubekommen. Die Welt ist für den Menschen genauso groß wie seine Erinnerungen sind. Alles andere ist unbekannt. 



Ehemalige Megay-Konditorei, heute Carpano Restaurant – Hlavná 42 (Hauptstraße)













In dieser Konditorei, die dank ihrer Kuchen berühmt wurde, lernte Sándor Márai seine spätere Frau Lola kennen.




Maleter-Haus – Mlynská 25 - Im 1. Stock des Hauses wohnte die (jüdische) Familie Matzner, aus der Lola, die künftige Ehefrau des Schriftstellers, stammt. Von hier aus soll der junge Márai sie vor der Hochzeit auch entführt haben.


Es kommt vor, dass man liebt, sehr liebt.[...] Und dann ist ein Mensch stark. Vielleicht kann man sogar Leben retten, wenn man jemand liebt. Es gibt einen Seelenzustand oder einen Nervenzustand, den die Menschen Liebe nennen und der dauerhaft sein kann, das stimmt. Ein solcher Seelenzustand bewegt große Kräfte in einem Menschen. Wenn jemand liebt, wird er mehr, mächtiger, auch das ist wahr. Aber dieser Zustand ist vergänglich. Er vergeht und es bleibt der bloße Mensch. Nein...auch die Liebe gibt keine Befreiung. Es gibt nur eine Art von Befreiung. […] Wenn jemand stark genug ist, die Wirklichkeit in ihrer wahren Natur zu erkennen […] Ein derart starker Mensch ist der Befreiung schon ganz nah. Und er erträgt sie, ohne Kränkung, weil es die Wirklichkeit ist. Sándor Márai, Befreiung


Ehemaliges Hotel Europa  - heute Sberbank, die Nachfolgerin der Volksbank 






1941 war der Schriftsteller – während eines Besuchs in Košice – für einen Tag im Hotel untergebracht, was auch in seiner Erzählung Kassai ὅrjárat /Patrouille nach Kaschau erwähnt wird. Zwei Jahre später begann er hier das Theaterstück Magie zu schreiben. 




„Ich habe mich[...] an die Klänge von Geigen und Trompeten (gewöhnt), die morgens aus der Musikschule zu meiner gegenüberliegenden Dachwohnung des ungarischen Theaters, das Sándor Márai Studio, drängen, an die hohen Bordsteine, die löchrigen, mit Asphaltblasen versehenen Straßen, über die ich mit meiner scheppernden Rostlaube rumpele. An heißen Tagen genieße ich den böigen warmen Wind ganz besonders, der immerzu durch den Kaschauer Kessel, das Tal der Westkarpaten, zieht.“ Kristina Forbat, Stadtschreiberin 2013 *







Márai-Studio des Theaters Thália – Timonova 3

Im Oktober 2002 begann das Thália-Theater seine Arbeit unter dem Namen Márai-Studio. Die Stirnseite des Gebäudes schmückt das Fresko Bürger von Kaschau von Imre Schrammel.



[…] Glück, dass mir das Schicksal die Gabe schenkte, mich auszudrücken, dank der ich berichten kann, was ich in der Welt gesehen, und manchmal, in Augenblicken der Gnade, auch das Unaussprechliche sagen kann. Ich muss für etwas dankbar sein und kann nicht anders. Dankbar, dass mir die menschlichen Wörter vertraut sind, dass ich sie hören, schmecken, verstehen und erahnen kann; ich kenne ihren Sinn, ihren Duft und kann alles, was ich will, mit diesen Wörtern sagen, mich mit ihrer Hilfe den Menschen, den Kindern mitteilen, vielleicht sogar Landschaften und Toten. Und alles das gehört mir, jedes Wort. Ich bin sehr reich und zugleich doch auch arm und elend. [...] Und dennoch schulde ich Dank: öffentlichen Dank, denn auch meine Schande, mein Elend sind öffentlich, zugleich ist das traurige Glück öffentlich, welches mich ganz durchdringt. Sándor Márai. Tagebücher



Sándor Márais Statue – Zbrojničná und Mäsiarska Strasse 














Am 11. Dezember 2004 wurde die Márai-Statue enthüllt. Sie stammt aus der Werkstatt des Bildhauers Peter Gáspár und ist seit dieser Zeit ein vielbesuchter Ort in Košice. Darüber hinaus wurde auf Anregung seines Neffen János Jáky in der Mäsiarska Straße eine Gedenkstätte eingerichtet worden. Dort kann man auch die Originalhandschriften des Dichters sehen.




Sándor Márai gilt als kritischer Zeuge nicht nur des Verfalls des alten Kakaniens, des Umbruchs, sondern vor allem dieses Jahrhunderts der Extreme (Hobsbawm), der literarisch und persönlich durch kompromisslose Individualität auffällt, und als Autor um sein Leben “einen wahren ‚Irrgarten‘ anlegt, in dem sich Fakten und Erinnerung, Biographie und Fiktion mischen” (Ernö Zeltner). In seinem Werk erzählt er von seiner Kindheit und Jugend in der ungarisch-slowakischen Kleinstadt, die den Wechsel von Machthabern, -bereichen und den dazugehörigen Ideologien immer gleich im Namen trägt: Kaschau, Kassa, Kasha, Košice, und berichtet über das Nachkriegsleben in Leipzig, Berlin und Paris der 1920er Jahre. Für die Frankfurter Zeitung schreibt er – wie schon Joseph Roth – Artikel aus Berlin, Paris, Italien und dem Nahen Osten. Es folgt sein literarischer Durchbruch und seine Karriere im Budapest der dreißiger Jahre, die durch die autoritären Maßnahmen des ungarischen Horthý-Regimes, die deutsche Okkupation und ihre Unterstützung durch die faschistischen Pfeilkreuzler ein jähes Ende findet.



Nach Flucht vor stalinistischer Gleichschaltung und Jahrzehnten des Exils in Italien und in den Vereinigten Staaten, erschießt sich Márai, fast neunzigjährig und nach dem Tod seiner Frau Lola depressiv und völlig vereinsamt, am 22.02.1989 im kalifornischen San Diego. Der Berliner Oberbaum-Verlag druckt bereits 1995 die Bekenntnisse eines Bürgers in zwei Bänden - einen autobiografischen Roman über seine Kindheit und Jugend (s.o.); als Entdeckung gefeiert wird sein Werk in Deutschland allerdings erst ab 1998 mit Erscheinen seines Romans Die Glut. Sein enormes Erzähltalent, sein brillanter Stil wird in den deutschen Feuilletons seither in einem Atemzug mit Stefan Zweig, Robert Musil, Joseph Roth und Thomas Mann genannt.



Die wichtigsten Fragen beantwortet man letztlich immer

mit seinem ganzen Leben.
Sándor Márai, Die Glut, dt.: 1998




Der uralte Baron P. sitzt vorm Fernseher, den er nur noch schlecht erkennt. Es läuft ein Fußballspiel.
“Johann, wer spielt denn da?” – “Österreich, Ungarn, mein Herr.” – “Eh klar, aber gegen wen?”




Zu Leben und Werk von Sándor Márai

http://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A1ndor_M%C3%A1rai



* Das Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa soll das gemeinsam kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben bzw. heute noch leben, in der breiten Öffentlichkeit bekannt machen. 2009 wurde es in Kooperation mit der Stadt Danzig vergeben, seitdem in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Europäischen Kulturhauptstädten Pécs (2010), Tallinn (2011) und Maribor (2012). Die diesjährige Stadtschreiberin Kristina Forbat studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie Journalismus in Münster und Lille. Sie lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Hamburg. Am Donnerstag, 26. September, 20 Uhr liest sie in der Ján-Bocatius-Bibliothek (Hviezdoslavova 5, Košice) aus ihren Blog-Texten und präsentiert ihr aktuelles Zeitzeugenprojekt mit Filmausschnitten. Link zum Online-Tagebuch: www.stadtschreiber-kaschau.blogspot.de



© Fotos: Stadt Košice

01.09.2013

 



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