LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

  

to the ships that are no more 
Herbert Pföstls ›Schriftlandschaften‹


von Reiner Niehoff

 

 

Die Lebenden sind wenige, die Toten sind viele.

Hinduistisch.

Hans Henny Jahnn, Fluss ohne Ufer.

 

 

Die Schrift steht immer auf Weiß, ein heller Resonanzraum, der den Wörtern ihre Leere gibt: autonome Einheiten, die sich sauber zu Sätzen gruppieren, zu Absätzen, zu Kapiteln, zu Büchern. Gelingt die Verknüpfung der Wörter, dann entstehen Texte. Gelingt ihre diskursive Abfolge, wiederholen sie sich nicht, sondern führen fort; gelingt ihr Druck, erstrahlt der folgerichtige Text in der Anonymität der Type. Der folgerichtige Text sticht scharf heraus auf der weißen Leere seiner anonymen Gesetztheit.

 

Dass die Schriftlandschaften von Herbert Pföstl dieses Spiel der anonymen, folgerichtigen Lettern auf weißem Grund nicht spielen, ist so evident wie nichts. Ich versuche zu beschreiben.

 

Das, worauf hier Gedrucktes und Geschriebenes erscheint, das sind keine Seiten, die mit anderen Seiten verstrickt, vernäht, verklebt wären. Neun einzelne, feste Kartons liegen einem festeren Umschlag ein; sie könnten an Tafeln erinnern, eher aber noch an Drucke. Sie sind also, als Bild, ganz zugleich und doch, als Schrift, Abfolge. Sie hängen sich aneinander, verbleiben aber im Rahmen; sie laufen eine Weile fort, aber überschreiten die Blattgrenze nicht. Sie sind rekursiv. Sie brechen nicht ab, noch ziehen sie fort; sie laufen in sich zurück. Keine Schrift-Ströme, sondern Schrift-Wellen, Ebbe und Flut. An der Küste der Sprache. Wir sehen auf See-Stücke, glücklicher Gleichlaut.

  



Der Untergrund, was ist es mit ihm? Weiß ist er nicht, er macht sich bemerkbar. Nicht durch Abwesenheit, auch nicht durch Anwesenheit, sondern durch Zeit. Sein Modus ist die Vergangenheit. Das Papier – das abgebildete, nicht das wirkliche – ist oder war einmal Leinen, leichte Riffelungen erinnern an Ablagerungen da, wo das Meer auf die Küste trifft; die Sonne hat es nicht gebleicht, sondern gebräunt. Es kommt von weit her (vom Weiß her) und hat sich verfärbt – denn die Zeit ist weit und sehr dünn und wird schlechter mit der Ewigkeit. (Jahnn) Ein Blatt wird sichtbar erst, wenn es fällt. Es war da etwas in der Vorzeit.

  

Was da in der Vorzeit war auf dem Leinenpapier, das befindet sich in einem aufgedruckten inneren Rahmen, eine Art Kartusche, wie aus ägyptischen Handschriften bekannt, und dort – vergessen wir nicht, das hat ihre Entschlüsselung überhaupt erst erlaubt – Heiliges gerahmt. Hier aber finden wir keine Götternamen, sondern Zahlenkolonnen in vier Spalten, die in einer rechten Seitenleiste durchgezählt sind als Zeilen. Jede Spalte ist unterteilt und verzeichnet vertikal zwei Werte; überschrieben sind sie mit Lat. und Dep. Die Zahlen wachsen nach untenhin in der Horizontalen. Offensichtlich wurde hier etwas gemessen, wurden Differenzen verzeichnet, Zustände verglichen. Etwas wuchs sich aus, etwas schritt voran. War es die Zeit? War es der Raum? War es Masse, Dichte, Geschwindigkeit?

 

Unklar, die Zahlenkolonnen marschieren ohne Grund, das ist unheimlich, aber offensichtlich bedeutsam. Am jedem rechten unteren Blattrand wiederholt sich ein Stempel, ein Siegel vielleicht, eine Tätowierung des Blattes, die es wertvoll macht; bisweilen tritt eine signierende Linie hinzu; die Messung ist abgezeichnet und verbürgt. Jemand hatte gemessen. Das Gemessene ist unterschrieben. Ein altes Blatt, alte gedruckte Ziffern, steigende Werte, die signiert werden. So, ohne Grund und Anlass und Ziel, fast ein ironischer Kommentar; Geschichte als Abzeichnung der Quantitäten, Autorität der gedruckten Ziffer. Nicht romantische Hieroglyphe, sondern grundlose Klarheit.

 

Auf diese Abzeichnungen ist Handschrift aufgetragen, gleichmäßige Bewegungen, weiche Herztöne der Feder, die den Rahmen intakt / im Takt lassen, aber einen anderen Rhythmus aufschreiben, andere Abstände definieren. Ein leichtes Delirium der Hand, gehalten und nicht gehalten von den Spalten, Kolonnen; gegenläufig wie der Wind auf See. Wellenkämme der Unbedeutung. Bei näherem Hinsehen werden einzelne Terme sichtbar, kleine Buchstabeneinheiten, noch nicht präzise konturiert, noch aufgetuscht mit dickem Strich, nicht ins Blatt geschlagen wie die Ziffern, die sie überschreiben. Bedeutungsgerinnsel, Schmerzspitzen.

 

Was da so schwer zu lesen ist über den anbrandenden Kolonnen, das steht unterhalb des Bildrandes mit spitzer Feder notiert, wie zu drahtiger Deutlichkeit abgelagert, fast nicht mehr Handschrift, noch nicht Druck, mit Lineal unterstrichen, nahezu durchsichtig, wie aus Scham leicht, doch als Resümee markiert. So hell, dass es wirkt wie ein Erstes, ein am weitesten Verblichenes: nicht Ende, sondern Beginn, aber im Beginn schon ein Verlust. Diese Unterschrift korrespondiert einer Kopfzeile, die wie in Spiegelschrift erscheint, zudem radiert und mit abgeplatzten weißen Flecken unlesbar geworden, wie von Rost zerfressen. Die Seitentitelei, die Über-Schrift ist auf- und abgeplatzt, die Unter-Schrift zeigt sich wie eine Geheimschrift, Kindertinte der Vergangenheit. Ein-Satz der Zeit aus der Zeit und gegen die Zeit; die Zeit in der Zeit.

 

Und so von Blatt zu Blatt. Auf jedem Blatt ein Satz, ein Ein-Satz der Zeit, der über die Zeilen hin immer wiederholt wird, bis der Rahmen keinen Raum mehr lässt für eine weitere Wiederholung. Einige Sätze schreiben sich dabei in der Wiederholung über die Zeilengrenze fort in die nächste Zeile (Blatt 1: we can tell wether we are happy by the sound of the wind; Blatt 5: to do everything possible for that which does not exist), eine Art Enjambement, andere Sätze füllen eine Zeile aus und ergeben selber eine Kolonne über der Kolonne der Zahlen (Blatt 2: a consolation even to plants and animals; Blatt 4: all we wish for is to be forgotten); die Augen brechen mit um oder halten an und beginnen von vorne, je nachdem, je nach dem. Das Gesetz liegt in der Anzahl der Wörter und im Syntagma. Aber auf keinem Blatt lässt Pföstl die letzte Zeile als Fragment ausklingen; die romantische Schrift-Fiktion von der abgebrochenen Lebenslinie ist ausgespart.

 

Was aber dann? Wiederholung ist eine Technik des Rituals. In der Wiederholung betont der Satz seine Herkunft aus dem Rhythmus; Wiederholung ist Schlagzeug, perkussiv. Das macht den Satz hypnotisch und die Hypnose zur Anrufung. Aber in Pföstls Blättern wird die Wiederholung auf die Schrift übertragen; dadurch – besonders durch die variierenden Umbrüche – verändert sie ihre Schlagzahlen; aus dem Metrum wird ein freier Rhythmus. Die schöne erste Zeile über den Klang des Windes, der uns über unser Glück zu unterrichten vermag, schwingt sich von Zeile zu Zeile fort immer anders, bis er vom Blatt beendet und wie in ein Glas eingeschlossen wird; Flaschenpost. Wo aber Zeilenende und Satzende zusammenfallen, wird die Gegenstimme stark. Die Wiederholung hält immer wieder ein. Nur die Aggregatzustände der Wörter können sich ändern, ihre spezifische Dichte; Schreien und Flüstern. Dadurch rufen sie Kraft auf: the invisible things will give me strength, oder verstärken die große Macht des Außen, Anrufungen dessen, was über uns hingeht, gleich ob leicht und schwebend: birds and bells and stars and snowflakes; oder schwer und im Versinken: and the skies passed on as over nature. Dann wird die Anrufung zur Klage. Zur Klage, dass die großen Behälter nichts behalten, dass die Blätter nichts bewahren, dass die Sätze nichts begreifen. Dass wir in diesen Verlust eingefasst sind, der, in diesen Blattgefäßen, kein Verlust mehr ist und keine Rettung. Leere Gefäße, untergegangen vor der Zeit, die ihre Ladung mitgenommen haben wie der Wind sich mitnimmt, wenn er über uns hinweg ist. Und deshalb heißt das letzte Blatt: to the ships that are no more. Endet das Blatt also auf no more oder auf more? Steht ein mehr oder ein Meer noch aus? Weder noch. Denn erst hier, ganz am Ende der neun Blätter, tut sich hinter dem letzten Wort der letzten Zeile ein kleiner Leeraum auf. Die erneute Anrufung, die lauten müsste: to the ships beginnt nicht mehr. Ein leeres, schmutziges, abgetakeltes Rechteck also, das ist der Raum, der der letzten Schrift gegeben ist. Erst hier läuft eine Schriftwelle aus. Deshalb, vielleicht, heißen diese Blätter ›Schriftlandschaften‹: Nicht, weil wir sie als Landschaftsbilder vor uns haben, sondern weil sie über uns hinweg sind, wenn wir sie ausgelesen haben. Denn alles Lesen heißt: dem Treiben der Wörter nachsehen, als wären sie Wellen und löschten, sanft und wiederholend, die Zeichen der Zeit in der Zeit. Und so auch wir: all we wish is to be forgotten.

 

 

Herbert Pföstl. Schriftlandschaften. Epidote Press 2016. http://www.epidotepress.com/

Von Reiner Niehoff 

Johannes Bobrowski, Reiner Niehoff-Kafka
s.a. http://blauwerke-berlin.de/

 

 

 

25XII16

 

 

 

 



Tweet