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Skype Mama

Elf Geschichten über Wanderarbeit und ihre Folgen



Herausgegeben von Kati Brunner, Marjana Sawka und Sofia Onufriv

148 Seiten, brosch., Preis: 12,80 € (D) | 13,10 € (A) | 15,40 SFR (CH)

ISBN 978-3-940524-23-2

In elf Geschichten, die irgendwo zwischen der Ukraine und dem Westen Europas spielen, erzählt dieses Buch vom Schicksal moderner Wanderarbeiterinnen. Meist ist es schlichte Not und nicht Abenteuerlust, die sie in die Büros, Küchen und Wohnzimmer des Westens treiben. In der Ukraine soll die Zahl der Familien, von denen mindestens einer der Eltern im Ausland arbeitet, in die Million gehen. Das heißt, vielleicht eine Million Kinder, die zurückbleiben. Hilft moderne Technik da mehr als die alte Postkarte? Was passiert, wenn Mama und ihr Kind skypen? Wenn die Entfernung aber so groß bleibt wie sie ist, wenn Mama nicht da ist? Warum ist sie nicht da? Und wo ist sie? Und wann kommt sie? Und dann, wenn sie kommt? Elf ErzählerInnen geben ihre Antworten. - Ein Projekt des Vereins translit e.V. – gefördert von der Robert Bosch Stiftung.



Leseprobe


HO PAURA (italienisch: Ich habe Angst)

„Letztens hat Petro Titschyn gesagt, du kommst nie mehr zurück“, bemerkte Iwasyk scheinbar beiläufig. Die Verbindung war schlecht, das Satzende leierte wie eine kaputte Kassette.

„Das stimmt nicht, Iwasyk“, rief Nelja schnell dazwischen, woher will dieser Petro das denn wissen, aber die Übertragung war verzögert, Skype zeigte an, dass die Lautsprecher nicht richtig funktionierten.
„... wie ihre Wasylyna. Die hat da noch mal geheiratet und sich neue Kinder angeschafft, und um die anderen kümmert sie sich nicht mehr“, flüsterte derweil Iwas am anderen Ende.

„Du musst in kurzen Sätzen sprechen, sonst höre ich dich nicht!“, rief sie noch, aber da war es plötzlich still. Vielleicht stand die Leitung noch, vielleicht aber auch nicht. Dabei musste sie unbedingt mit ihrem Sohn sprechen, sie hatte schon mehrere Tage darauf gewartet, aber auf dem Bildschirm blinkte die Nachricht auf:

Der Anruf ist beendet. Dauer: 3:27. Mist.

Er schickte ihr einen der vielen Smileys, den, der sich krümmt und vor Wut explodiert, die fielen ihm leichter als Text, denn er hatte den Computer neu und tippte nur mit einem Finger, es dauerte lange, bis er den richtigen Buchstaben fand.

Die Verbindung war nicht stabil

Nelja klickte wieder den grünen Hörer an und fragte ein ums andere Mal: „Hörst du mich, Iwasyk? Ist es so besser?“ Das Netz in ihrem Ort war schlecht, die Verbindung nicht stabil, selbst Telefongespräche wurden immer wieder unterbrochen, Videoverbindungen waren hoffnungslos. Vielleicht lag’s aber auch gar nicht an der Verbindung, sondern Iwasyk war irgendwie sauer auf sie und sagte einfach nichts?
„Ich bin da, ich höre dich, sprich“, drang plötzlich von weither seine Stimme zu ihr.

„Klar komm ich zurück, Iwasyk, das weißt du doch. Aber ein bisschen dauert’s noch, erst mal müssen wir den Kredit für die Wohnung abbezahlen. Und hör nicht auf Petro.“

„Dem hab ich erst mal die Fresse poliert, für alle Fälle, damit er dich nicht mit ihrer Wasylyna, der alten Schlampe, vergleicht“, erwiderte Iwasyk.

„So was darfst du nicht machen, und wie du redest, solche Wörter“, wandte Nelja zögerlich ein, aber es klang unsicher, als hätte sie Angst, ihr Sohn könnte denken, sie wäre auch so eine wie Wasylyna. Einerseits war er noch ein Kind, andererseits hatte er manchmal etwas völlig Unkindliches, Spitzes und Stacheliges an sich. Wie ein Igel. ‚Was willst du denn?‘, rügte sie sich selbst, ‚er ist auf sich allein gestellt, muss irgendwie zurechtkommen, sich durchschlagen. Du bist weit weg, wo nimmst du überhaupt das Recht her, ihn zu erziehen, du bügelst alle Konflikte ab, damit die Verbindung ja nicht abreißt.‘

„Du machst das alles wunderbar, Iwasyk, du bist so selbstständig“, sagte sie laut, als sei das ein Ergebnis ihres Nachdenkens. „Und was macht Oma?“
„Die meckert andauernd. Ihr Blutdruck spielt verrückt, und ständig passt ihr was nicht.“


Nelja kochte vor Wut

„Zu essen habt ihr? Reicht es auch?“, fragte Nelja wie immer.
„Haben wir, ich gehe jetzt schon allein auf den Markt und kaufe Fleisch, ich kenn mich schon aus. Oma wird das nämlich manchmal zu viel mit dem Markt“, sagte Iwas stolz.
„Und wie ist es in der Schule? Schaffst du alles?“
„Ja, schaffe ich, aber andauernd die vielen Hausaufgaben. Unsere Klassenlehrerin hat gesagt, wir sollen alle Geld spenden für Plastikfenster. ‚Deine Mutter ist doch in Italien, da habt ihr doch Geld‘, hat sie gesagt.“
„Wenn ich diesen Monat mein Geld bekomme, schick ich dir gleich was“, sagte Nelja und kochte vor Wut. Iwasyks Lehrerin wusste ganz genau, wofür das Geld draufging: Der Kredit für die Wohnung musste abbezahlt werden, da blieb nicht viel übrig.

Sogar Iwasyk machte sich Gedanken ums Geld, war das etwa normal?

Nelja wurde wehmütig, wenn sie daran dachte, dass sie nicht wusste, was Iwasyk am Wochenende machte, wenn er keine Schule und keine Hausaufgaben hatte. Dass sie nicht wusste, woran er beim Aufstehen oder Einschlafen dachte und wovon er träumte. Wie er aussah, wenn er schlief oder am Computer saß. Wenn sie skypten, war er immer förmlich und distanziert, wollte erwachsener wirken, sie beeindrucken, ihr zeigen, dass alles lief. 
Ihr wäre es lieber gewesen, er würde nicht alles für sich behalten, würde sich ihr mitteilen wie früher, als er zu ihr gelaufen kam, seinen Kopf in ihre Brust grub und sich über jemanden beschwerte, der ihm sein Spielzeug weggenommen hatte oder gemein zu ihm gewesen war. Und sie hatte ihm über den Kopf gestrichen und einen Kuss auf die vom Weinen salzigen Augen gegeben.

Aber Iwasyk war schon lange nicht mehr dieser vierjährige Knirps. Nichts für ungut, dachte Nelja, sie hatte ihm schließlich auch nicht erzählt, wie deplatziert sie sich in den ersten Monaten in Italien gefühlt hatte, wie es sie sonntags in jeder freien Minute auf den Spielplatz in der Nähe zog wie eine Verbrecherin an den Ort ihrer Tat. Sie saß auf einer Bank, schaute den Kindern zu, weinte leise vor sich hin und versteckte sich hinter einer Zeitung. Einmal war ein kleines Mädchen zu ihr gekommen, hatte sie neugierig angeblickt und auf Italienisch gefragt: „Was steht denn da in deiner Zeitung: ‚Mach weine-weine‘?“

Die kurzen Telefonate, die sie sich leisten konnte, machten alles nur noch schlimmer. Der Kleine war zu Anfang völlig verwirrt und wenn er sich dran gewöhnt hatte und sein „Mama, wann tommst du endlich“ sagte, war das Geld zu Ende, und das Telefon tutete wie wild. So, wie sie all das hasste, das ihr keine andere Wahl gelassen hatte, als hierher zu kommen und zu arbeiten, hasste sie auch sich selbst, weil sie sich nicht anders zu helfen gewusst hatte, sie hasste ihr illegales Dasein, das selbst einen Kurzbesuch zu Hause unmöglich machte.

Niemand würde ihr schließlich den offenen, ehrlichen Jungen zurückgeben, der so drollig „meine-meine Mama“ rief und dabei seine Arme ganz fest um ihren Hals schlang oder sie so flehend von unten herauf anschaute, wenn er „hoch“ wollte. Er würde groß werden, ohne dass sie ihm eine richtige Mutter gewesen war.

‚Sinnlos, diese Erinnerungen!‘, dachte Nelja und verscheuchte ihre Gedanken. Was ihr mit ihrem Sohn an Austausch blieb, waren ein paar dürre Nachrichten, die etwa so aussahen:


Du stellt Dir die Rückkehr vor

„Anruf beendet. Dauer 11:45“. „Keine Antwort von Iwan2002“. „Anruf von Iwan2002 verpasst“. Und dazwischen ein paar von Iwasyks Smileys. Allen voran der mit dem Bärchen, der am Ende des Gesprächs „meine, meine“ zu sagen schien. Iwasyk nannte ihn Umarmi. Das war alles, was er an Gefühlen zeigte, mehr war ihm peinlich. Ansonsten redeten sie über das übliche „Habt ihr genug zu essen – was gibt’s in der Schule – wie geht’s der Oma – wie ist das Wetter“. Das war Vaters Erziehung. „Beschränk dich aufs Wesentliche, blockier nicht ewig die Leitung“, hatte er sie als Kind ermahnt und es auch seinem Enkel so beigebracht. Zwei Jahre war ihr Vater nun schon tot, aber das war von ihm geblieben: Beschränk dich aufs Wesentliche, schweif nicht ab.

„Die Menschen, die wir damals zurückgelassen haben, sind nicht mehr dieselben“, sagte Wasylyna zu ihr, als sie sich trafen, und erzählte, wie es in Wirklichkeit war: Eines Tages ist der Moment gekommen, da schmeißt du alles hin und gehst zurück zu deiner Familie. Du verrätst deinen Lieben nichts, es soll eine Überraschung werden. Du meldest dich bei deiner Dienstfamilie ab, beschaffst Ersatz, nervös bringst du die letzten paar Tage Arbeit hinter dich, rennst in jeder freien Minute von Geschäft zu Geschäft, um Geschenke zu besorgen.

Die ganze Zeit stellst du dir vor, wie es sein wird, wie sich alle freuen. Die wenigen Habseligkeiten, mit denen du die letzten sieben Jahre zugebracht hast, verschenkst du an deine Bekannten. In Gedanken verabschiedest du dich von allen, mit denen du zu tun hattest, von den netten und den weniger netten. Du denkst daran, wie sehr dir alles fehlen wird, aber zu Hause wirst du mehr gebraucht, denn dein Leben und deine Kinder sind dort.


Dein Sohn funkelt dich böse an

An der Grenze knöpft dir der ukrainische Beamte 20 Euro ab, aber was soll’s, so halten sich die Beamten hierzulande über Wasser, da ist nichts zu machen. Deine fast erwachsenen Kinder freuen sich, dass du gekommen bist und vor allem, dass du Geschenke mitgebracht hast. Als sie hören, dass du nicht wieder zurückgehen willst, wird die Freude zur Fassade. Für deine Sachen ist kein Platz, alle Zimmer und Schränke sind belegt. Für dich ist kein Platz, die Familie ist an ein Leben ohne dich gewöhnt. Für sie bist du die Geldsendung, die Zig-hundert-Euro-Überweisung, die Stimme am Telefon, die man bittet, dieses oder jenes zu schicken, du bist der Wunscherfüllungsautomat.

Dein Sohn funkelt dich aus bösen Augen an, als du ihm sagst, dass das neue, teure Mobiltelefon eine überflüssige Anschaffung ist, solange das alte noch funktioniert. Deine Tochter verzieht den Mund und lässt dich wissen, dass sie nicht vorhat, in diesen billigen chinesischen und türkischen Fetzen herumzulaufen, die an den Marktständen herumliegen. Tja, für die Kinder nur das Neueste, Glänzende, Schönste, so hast du es immer gehalten. Und selbst hast du auf alles verzichtet. Hast deine Zahnschmerzen mit Speckumschlägen kuriert.

Was der Zahnarzt gekostet hätte, 100 Euro mindestens, die Kinder können das besser gebrauchen. Dass deine Zähne kaputt sind, ist nicht ihr Problem. Nach ein paar Monaten wird dir klar, dass hier kein Platz für dich ist, dass du ihnen mit deinen Problemen und Ansichten nur im Weg bist. Sie halten dir vor, du seiest an allem schuld, was ihnen fehlt. ‚Ich bin daran schuld, dass sie sind, wie sie sind‘, hältst du dir selbst vor. 
Du hältst es nicht mehr aus und gehst weg, denn wenn du bleibst, geht dein Verstand flöten. Sagt Wasylyna. Sie hat Glück gehabt. Sie hat hier eine neue Familie. Sie hat hier neue Kinder. Die anderen Kinder, wie Iwasyk am Telefon gesagt hat, sind dort geblieben. Nelja hat Angst, dass Iwasyk so verbittert wird wie sie. Nelja hat Angst, dass alles, was Wasylyna sagt, stimmt.

Im Dunkeln flüstert Nelja ihr „O paura“.


Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe


© translit.e.V.

Erzählungen aus der Ukraine
von Walentyn Berdt, Natascha Guzeeva, Oleksandr Hawrosch, Serhij Hrydyn, Marianna Kijanowska, Halyna Kruk, Oksana Lutschewska, Oksana Luzyschyna, Tanja Maljartschuk, Halyna Malyk, Marjana Sawka, Natalka Sniadanko.

translit e.V. besteht seit September 2010 – sein Motto: Im Dialog mit Europas Osten: Übersetzen, Informieren, Vernetzen. Der Verein ist ein Zusammenschluss von ÜbersetzerInnen, KulturmittlerInnen und Regional-ExpertInnen – das Ziel: den kulturellen Austausch des deutschsprachigen Raums mit dem Osten Europas zu fördern. Mehr: www.edition-fototapeta.eu

 



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