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Traumatischer Jahresrückblick 2014

mit Slavoj Žižek


Was für ein Jahr: Flüchtlinge lassen vor den Toren Europas ihr Leben, Russland tritt das Völkerrecht mit Füßen, der Islamische Staat köpft im Namen Allahs Menschen, Ebola lehrt die Menschheit das Fürchten. Was machen diese Bilder mit uns? Stehen wir einer zunehmenden Erosion der Werte der Aufklärung gegenüber? 3Sat – Kulturzeit sprach mit Slavoj Žižek, Psychoanalytiker und Philosoph, über die apokalyptische Dimension des Jahres 2014.


„Die globale Welt ist heute so beschaffen, dass es irgendwann einen großen Knall geben wird“, sagt Žižek. „Aber erst wenn wir das als unausweichliches Schicksal akzeptieren, können wir auch wirklich etwas dagegen tun.“ Unsere Welt ist in eine Schieflage geraten. Žižek erklärt, warum:


Folter

„Uns ist die ethische Substanz verloren gegangen. Es ist schrecklich, wenn man auf einmal offen über Folter diskutieren kann. Es spielt keine Rolle, ob du dabei dafür oder dagegen bist. Auf eine gewisse Art ist es sogar gefährlicher, wenn du dagegen bist. Wenn du dich für Folter aussprichst, wirkst du wie ein rechter, autoritärer Idiot. Wenn du aber gegen Folter bist, wahrst du die Haltung eines rationalen Liberalen. Nichtsdestotrotz machst du das Thema damit salonfähig.“


Aufklärung

„Aufklärung, das kann für mich nie nur persönliche Freiheiten bedeuten. Aufklärung heißt nicht, dass ich mit allen Sex haben kann oder alle Bücher lesen kann, die ich will. Aufklärung bedeutet, dass die Menschen in der Lage sind, sich politisch zu mobilisieren, um die grundlegende soziale Struktur der Gesellschaft zu verändern, in der sie leben.“


Russland

„Ich halte alle diese Ideen, dass Putin die alte Sowjetunion oder den KGB verkörpert, für extrem dumm“, so Žižek. „Nein, es ist ein neuer, autoritärer Kapitalismus. Ich mache mir wirklich Sorgen, kein Witz. Wir sind heute Zeugen einer gefährlichen Entwicklung, nämlich der Scheidung der vermeintlich ewigen Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus.“

[Und man sollte hinzufügen: Wenn zwei sich streiten – hier also „der Westen“ und Russland, freut sich der Dritte – und das ist China, das längst aktiv ist in der Ukraine und seinen Einfluss weiter ausbaut in Ungarn, Serbien und Griechenland, red.]


Demokratie

„Es gibt kein staatliches Organ mehr, das noch als unvoreingenommen wahrgenommen wird. Auf einmal stellt man fest, dass illegale und brutale Gewalt waltet. Da ist ein Zeichen, dass etwas so fundamental schief läuft in unserer Gesellschaft, sodass wir noch nicht einmal einen Weg finden, darauf direkt und rational zu reagieren. Das ist ein sehr gefährliches Phänomen.“


Ideologie

„Heute funktioniert Ideologie nicht mehr, indem sie uns unterdrückt. Im Gegenteil: Wir sind dazu verpflichtet, immer mehr zu wollen, uns neu zu erfinden, mit Sex zu experimentieren. So, als ob wir unter dem Einfluss eines obszönen Super-Egos stehen würden, das sich daran erfreut, dass wir immer mehr verlangen. Genau das führt zur Depression.“


© 3sat-Kulturzeit, 15.12.2014 



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