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100 Jahre Tschechoslowakei, andere historische Jubiläen 
und die Geschichte deutsch-slowakischer Beziehungen

 

 

Daniela Capcarová im Gespräch mit Enrico Seewald



Dieses Jahr feiert die Slowakei mehrere Jubiläen – 25 Jahre Entstehung der Slowakischen Republik 1993 und hundert Jahre Entstehung des ersten gemeinsamen Staates der Slowaken und Tschechen – der Tschechoslowakei – am 28. Oktober 1918. Ein weiteres Jubiläum kommt hinzu: 25 Jahre Deutsch-Slowakische Zusammenarbeit, denn 1993 nahm die Bundesrepublik Deutschland nach längerer Pause die diplomatischen Beziehungen zur Slowakei wieder auf. Bezüglich dieses Anlasses gab vor kurzem die Deutsche Botschaft in Bratislava zusammen mit der Slowakischen Nationalbibliothek in Martin ein einzigartiges Buch – Deutsch-slowakische Diplomatiegeschichte 1922-1993 – heraus. Gleichzeitig kam auch die slowakische Version des Buches heraus – denn das Buch ist von der einen Seite auf Deutsch (Deutsch-slowakische Diplomatiegeschichte 1922-1933), von der anderen Seite auf Slowakisch (Nemecko-slovenské diplomatické vzťahy v rokoch 1922-1993) zu lesen.



 

Matthias Dornfeldt, Enrico Seewald
Deutsch-Slowakische Diplomatiegeschichte 1922-1993
Herausgeber: Deutsche Botschaft Pressburg, 2018
Verlag: Slowakische Nationalbibliothek Martin, 2018
ISBN: 978-80-8149-099-6


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Matthias Dornfeldt, Enrico Seewald
Dejiny nemecko-slovenskej diplomacie 1922-199
3
Vydala: Slovenská knižnica Martin, 2018
Editor: Nemecké veľvyslanectvo Bratislava, 2018
ISBN: 978-80-8149-099-6

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Warum sollte ein deutscher Leser, eine deutsche Leserin ausgerechnet Ihr Buch kaufen und lesen?

In Deutschland ist das Interesse an der Slowakei groß, es gibt über manche Phasen der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Slowakei mehrere Bücher, über die Zeit des Nationalsozialismus und des slowakischen Staat unter Tiso haben wir beispielsweise drei auf wissenschaftlicher Basis verfasste Werke. Offensichtlich gibt es in Deutschland Interesse an der Entwicklung der Slowakei, weil es in der Zeit von 1939 – 1945 ganz spezielle Beziehungen zwischen Berlin und Preßburg gab. Das Interesse beschränkt sich jedoch bedauerlicherweise auf diese Zeit, wobei die andere Phasen logischerweise von deutscher Seite nicht erforscht sind. Insofern können deutsche Leser*innen von unserem Buch auch etwas lernen, zumal wir manche Zeiträume zum ersten Mal erforscht haben. Zum Beispiel ist der Zerfall der Tschechoslowakei für die Deutschen, die sich dafür interessieren, extrem wichtig, und es sind Primärquellen, auf die sich die Deutsche Botschaft stützen kann.

 

Sie kommen ursprünglich aus Sachsen und sind in der DDR aufgewachsen, der zweite Autor, Herr Dornfeldt, ist ein „Wessi“ - aus West-Berlin. Sie haben Ihre Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Schildern Sie uns bitte die Gründe, warum Sie in der DDR nicht studieren durften?

Aufgewachsen bin ich im sächsischen Erzgebirge, noch in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, die es heute unter diesem Namen nicht mehr gibt. Durch die Nähe zur Grenze mit der damaligen Tschechoslowakei hatten wir viel engeren Bezug zu Böhmen als zu Berlin zum Beispiel. Wir sind als Touristen, und eben auch zum Einkaufen, gerne nach Böhmen gefahren, ebenso nach Prag – das war für uns fast wie der Westen. In Prag gab es Westzeitungen zu kaufen, 1978, als ich das erste Mal in Prag war. Der erste Besuch in Prag wie auch der erste Besuch in Bratislava, als wir von der Burg Devín ins westliche Österreich blicken konnten, waren für uns als junge Leute gleichermaßen faszinierend. Von Anfang an hatte man einen sehr emotionalen, persönlichen Bezug zu den Ländern der Tschechoslowakei. Darüber hinaus war ich von Anfang an, schon als Schüler, an Geschichte interessiert. In der DDR durfte allerdings nur der studieren, der linientreu war, und als junger Mensch musste man sich drei Jahre für die Armee verpflichten.

 

Sie waren nicht linientreu?

Das war ich nicht, weil wir Verwandtschaft in West-Berlin hatten, die uns regelmäßig besuchte. Schon als aufgewecktes Kind kannte ich den Unterschied zwischen Realität und Propaganda, und merkte sofort, dass das, was die Lehrer erzählten, nicht stimmt. Ich wollte den Unterschied artikulieren und meinen Protest in Form von Flugblättern ausdrücken, die ich dann verteilt habe. Es war aber eine rein private Initiative, um den Frust abzubauen; wir hatten im Erzgebirge keinen Kontakt zu Oppositionsgruppen oder zum Widerstand. Es ging darum, sich Luft zu verschaffen. In unserem Flugblatt ging es um allgemeine Sachen wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, die ja durchaus in der DDR-Verfassung verankert waren. An unserem Fall haben damals dreißig Offiziere gearbeitet, es war der größte Fall, den die Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt je hatte. Ein Jahr ging es gut, solange haben wir den Geheimdienst an der Nase herumgeführt, aber dann war es vorbei, und wir wurden verhaftet. Das Flugblattverteilen wurde damals in der DDR sehr streng bestraft – das Strafmaß war drei bis zehn Jahre, so schwer wie fahrlässige Tötung oder Vergewaltigung, wenn die Frau ums Leben gekommen war. Eine Flugblattaktion nahm das kommunistische Regime als extreme Bedrohung wahr. Ich hatte dafür fünf Jahre Gefängnis bekommen, mein Mittäter viereinhalb Jahre.

 

Das war keine erfreuliche Prognose, wie ging es denn weiter?

Zum Glück für uns gab es diese besondere Bemühung der Bundesrepublik Deutschland um politische Gefangene in der DDR – den sogenannten Häftlingsfreikauf; so sind wir nach etwa zwei Jahren frei gekauft worden. Meine Verwandtschaft in West-Berlin hat mir damals geholfen; sie kontaktierte einen Rechtsanwalt namens Wolfgang Vogel, der in der DDR aktiv war und diese Freikaufaktion koordiniert hat. Den konnten Sie als politischer Häftling bestellen oder eben Ihre Verwandtschaft in West-Berlin. Die Vollmacht hatte meine Tante in West-Berlin unterschrieben, und er hat dann unsere Verteidigung übernommen. Für mich als Achtzehnjährigen wäre diese Strafe sehr lang gewesen. Im Zuchthaus Cottbus war ich damals der jüngste Häftling. Ein Achtzehnjähriger kann sich fünf Jahre Gefängnis gar nicht vorstellen. Der Freikauf war aber keine Garantie, dass man nicht wieder ins Gefängnis kam – man wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wie lange man absitzen muss. Insofern war es nur eine Hoffnung, immer in Ungewissheit. In Westdeutschland musste ich dann mein Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachholen, erst dann konnte ich eben das studieren, was ich schon immer wollte, Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Nach meinem Abitur fiel die Mauer, so kam ich 1992 nach Berlin zurück.

 

Kommen wir jetzt Schritt für Schritt zu den einzelnen Perioden der Geschichte der Slowaken und Deutschen beziehungsweise deren Beziehungen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die slawische beziehungsweise slowakische Welt im 19. Jahrhundert den Deutschen fremd war. Warum war das so, denn noch vor der Kodifizierung des Altslawischen durch die Missionare Kyrill (Konstantin) und Method unterlag das Gebiet um Bratislava dem damaligen fränkischen Bistum?

Interessant ist, dass das Großmährische Reich, auf dessen Wunsch Konstantin und Method kamen, die erste staatliche Gründung in Osteuropa überhaupt ist. Großmähren hatte auch sehr gute Beziehungen zum Frankenreich, aber in der deutschen Geschichtswissenschaft ging seit dem Mittelalter der Blick nach Italien. Dieses Land war für die deutschen Wissenschaftler wichtig. Danach kamen Frankreich und England. Der Blick nach Osten war ihnen fremd. Wir haben es bei unseren Forschungen zu Litauen festgestellt – innerhalb von fünfhundert Jahren gibt es zu Litauen nur ein einziges deutschsprachiges Buch, wobei das Großfürstentum Litauen [ab 1386 Königreich Polen-Litauen, die Red.] damals der größte Staat Osteuropas war - er reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Auch zur Ukraine gibt es nur ein einziges Geschichtsbuch in deutscher Sprache, das übrigens ein deutschstämmiger Slowake , Herr von Engel, geschrieben hat. Das heißt, der Blick der deutschen Geschichtswissenschaft war nicht nach Osten gerichtet. Das zeigt auch, dass die deutsche Geschichtswissenschaft sehr einseitig ist. Ab dem 20. Jahrhundert, mit dem Entstehen der unabhängigen Staaten aus der Donaumonarchie und des Zarenreiches, nahm das Interesse an den heutigen Ländern Mitteleuropas stark zu, dies betrifft aber eher Zeitschriften. Das slowakische Volk ist älter als das deutsche. Die jetzige slowakische Verfassung bezieht sich auch auf das Großmährische Reich, das, wie bereits erwähnt, die erste staatliche Gründung in Europa war.

 

Können Sie uns die Einstellung der deutschen Diplomaten, die zur Zeit der Weimarer Republik in der Tschechoslowakei agierten, beschreiben?

Im deutschen Auswärtigen Dienst galten als Einstellungsbedingungen früher nur 'gute Beziehungen'. Man musste keine Prüfung ablegen, um in den Auswärtigen Dienst zu kommen, im Gegensatz zu heute, wo es strenge Auswahlkriterien gibt. In den Personalakten damaliger Entsandter fand ich viele Noten mit dem Prädikat unzureichend, mangelhaft, sinnlos – aber man kann auch ohne diese Kenntnisse ein guter Diplomat sein. Für die Diplomatie brauchen Sie Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen, was man nicht aus Büchern lernt. So können auch Menschen mit schlechten Sprachkenntnissen gute Diplomaten sein. Im Kaiserreich rekrutierte sich der diplomatische Dienst nur aus Militärs und Juristen, Schichten, die weder Kontakte zur Wirtschaft noch zu sozialen Gruppen hatten – da herrschte eine sehr spezifische Exklusivität. Das bedeutet, dass diese Leute teilweise keine Ahnung von Wirtschaft hatten. Im Laufe der Zeit spielte die aber eine immer größere Rolle. In der Weimarer Republik hat man mit dieser Art Exklusivität aufgehört; in den diplomatischen Dienst kamen auch die Seiteneinsteiger wie Wissenschaftler und Wirtschaftsleute. Die damaligen deutschen Diplomaten in Bratislava und in Kaschau waren äußerst fähige Leute. Die Tschechoslowakei war am Anfang innenpolitisch kein stabiler Staat. Die Kontrolle der Tschechen in den deutschsprachigen Grenzregionen und in den ungarischen Gebieten wurde militärisch erreicht. Das deutsche Kaiserreich hat in die Tschechoslowakei sehr fähige Leute geschickt.

 

Und nun zur Diplomatie der NS-Zeit. Man sagt, die Slowakei sei Hitlers Verbündeter und Nazi-Deutschland habe gute diplomatische Beziehungen zur Slowakei gehabt. Wie wir Ihren Forschungen entnehmen können, war der damalige Premierminister Tiso nur Hitlers Marionette. Warum steckten Hitler und Goebbels so viel Hoffnung in die Slowakei? Lag es an der damals fast zehnprozentigen deutschen Minderheit in der Slowakei?

Es gibt bereits drei Bücher über die Beziehungen des slowakischen Staats zu Nazi-Deutschland, deshalb haben wir diese Phase nicht selber erforscht. Ich habe nur in den Akten gelesen, dass damals die Gefahr bestand, dass die Slowakei an Ungarn zurückgegeben werden könnte. Die ungarischen Diplomaten und Horthy haben immer darauf gedrängt, die Gebiete der Tschechoslowakei, die durch das Münchner Abkommen zerfiel, an Ungarn zurückzugeben. Es gab einen starken Druck in Berlin vonseiten der deutsche Wehrmacht; die deutsche Reichsregierung wollte aber zwischen Ungarn und Polen einen militärisch neutralen Zwischenstaat haben. Es war eine militärische Frage. Ob Hitler politisch hätte entscheiden können, ob die Slowakei Ungarn zurückbekommt - ich weiß nicht, wie stark diese Gefahr war. Wir haben nur erforscht, wie zu dieser Zeit die diplomatischen Beziehungen aufgenommen wurden. Damals war Tisos Entsandter Matúš Černák sehr schnell nach Berlin geschickt worden, die Deutschen haben aber zu dieser Zeit ein bisschen gezögert, bis sie Gesandte nach Preßburg schickten. Im März 1939 hat man die Slowakei in Wien als einen Satellitenstaat installiert. Ich persönlich fand es mutig, dass Tiso bei den Verhandlungen in Berlin das Telegramm, das schon vorformuliert war, in dem er Hitler bittet, seinen Staat, die Slowakei, unter Hitlers Schutz zu stellen, nicht abgeschickt hat. Tiso sagte, darüber müsste das Parlament entscheiden. Tiso hat sich in dieser Nacht dem deutschen Druck im Auswärtigen Amt nicht gebeugt – das fand ich schon mutig. Es gibt aber auch dazu unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen.

 

Was bedeutete Ihrer Meinung nach dieAussage Tisos: „Ich lege die Zukunft meines Volkes und meines Landes in die Hand des Reichskanzlers und Führers und Eurer Exzellenz“?

Die slowakischen Politiker hatten damals große Angst, dass Sie von Ungarn übernommen werden. Ich glaube, dass die Angst der slowakischen Politiker vor dem Einmarsch der Ungarn real war. In dieser Zeit wurde auch die sogenannte Karpaten-Ukraine von Ungarn besetzt, die sich auch unter den Schutz des Deutschen Reiches stellen wollten. Das hat die Reichsregierung abgelehnt, denn sie hatte in der Karpaten-Ukraine keine Interessen. Auch in den anderen Gebieten der Slowakei gab es eine viel größere Abneigung gegen Ungarn als gegen Deutschland. Vielen war es lieber, die Slowakei würde eine Art deutsches Protektorat, als an Ungarn zurückzufallen. Das wissen wir aus Berichten deutscher Diplomaten, die über die slowakische Abneigung gegen Ungarn und eine drohende Magyarisierung berichteten. Diese war viel stärker als die gegen Deutschland.

 

Warum hat die Slowakei ihre slowakischen Juden viel früher in die Transporte und schließlich in die Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt als zum Beispiel Ungarn, zumal die beiden Länder die gleichen Verbündeten Hitlers waren?

Von deutscher Seite gab es einen sehr starken Druck auf die slowakische Regierung, nach deutschem Vorbild Diskriminierungsgesetze gegen Juden zu schaffen. Deren Ausführung fand in Deutschland Zustimmung: Es gab in der Slowakei eine Art Gesetz – den Judenkodex – , der sogar viel schärfer war als die Nürnberger Rassengesetze. Insofern hat die slowakische Regierung besser den deutschen Wünschen entsprochen als die ungarische.

 

Welche Rolle spielte in Hitlers Politik die Karpaten-Ukraine? Diese wurde von Ungarn annektiert und die Tschechoslowakei verlor das Gebiet für immer, denn nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Tschechoslowakei das Gebiet an die Stalinsche Sowjetunion abtreten?

Die Karpaten-Ukraine hatte für Deutschland ausschließlich strategische Bedeutung Ihre Gebirgspässe waren wichtig für das Militär. Hitler wollte das Gebiet nicht unter den Schutz des Reiches nehmen, denn es lag viel zu weit weg, und Deutschland hatte sonst keine Interessen an der Region – weder wirtschaftliche noch politische. Nachdem die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen zerschlagen war, wollte Ungarn die Karpaten-Ukraine für sich – dieses Gebiet gehörte eigentlich zum slowakischen Teil. Deshalb gerieten die Deutschen ein bisschen in Schwierigkeiten , sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und haben zuerst den Gesandten Karl Hoffmann aus der Deutschen Botschaft in Prag geschickt, der erforschen sollte, wie es dort so ist. Als die Ungarn 1939 einmarschiert sind, hat er Telegramme der damals autonomen karpaten-ukrainischen Regierung geschickt, diese wollte ebenfalls mit Hitler kooperieren. Die damalige Ruthenen-Regierung unter Vološin hat dann telegraphisch Hilferufe nach Berlin geschickt, und schließlich sind die Regierungsmitglieder nach Rumänien geflüchtet. Diese Ruthenen wollten unbedingt, dass die Deutschen sich für sie einsetzen. Das deutsche Auswärtige Amt hat dann geschrieben „wir können uns nicht für Sie einsetzen, leistet keinen Widerstand in Ungarn“.

 

Sie schreiben im Buch über Berichte des Konsulats in Bratislava in den Jahren 1957-1968, in denen die Gesandten über die Slowakei, aber auch über das Verhalten der DDR-Leute in der Slowakei berichten. Zu dieser Zeit war die DDR mit Stasi-Spitzeln durchsetzt. Musste jeder DDR-Botschafter eine besondere Beziehung zur DDR-Stasi haben oder sogar ein Stasi-Mitglied sein? Wurden von den Botschaftern auch besondere Berichte von den slowakischen Botschaftsmitarbeitern an die Stasi geschickt?

Beim DDR-Generalkonsulat in Bratislava hatte jeder Botschaftsmitarbeiter einen Stasi-Mann – den sogenannten Residenten – es war nie der Botschafter, der Stasi-Mitglied war. Man wollte nicht, dass der Botschafter in den Geheimdienst hereingezogen wird. Der Botschafter sollte als Diplomat, nicht als Spitzel agieren. Ich habe keine Dokumente gefunden, in denen der Botschafter direkt an das Ministerium für Staatssicherheit schreibt – den das war Sache der Residenten, und die gab es nur bei großen Botschaften. In Bratislava gab es nur ein kleines Konsulat, dort waren nicht viele Leute. Ich habe keine Stasi-Akten gefunden, in denen die Mitarbeiter direkt an die Staatssicherheit geschrieben hätten. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte damals eigene Auslandsstrukturen und diese hießen „operative Gruppen“. Diese gab es besonders in sozialistischen Ländern, wo viele Ostdeutsche gearbeitet oder studiert haben. In Prag gab es zwei hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, die nur für die Staatssicherheit gearbeitet haben, sie waren aber außerhalb der Botschaft und hatten ihr eigenes Büro. Ein hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter war in Karlsbad, und Bratislava hatte auch einen eigenen hauptamtlichen Mitarbeiter, der Berichte schrieb. In der Slowakei waren Touristen in der Hohen Tatra, Studenten, die mussten genau überwacht werden, auch wegen der Nähe zum nahen, westlichen Österreich.

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die DDR-Führung die Invasion der Sowjets während des Prager Frühlings 1968 befürwortete und unterstützte. Haben Sie sich als Historiker Gedanken gemacht, ob es etwas gebracht hätte, wenn sich die DDR damals anders verhalten und der Invasion nicht zugestimmt hätte?

Ich denke, dass eine andere Haltung nichts geändert hätte. Als Dubček mit Pressefreiheit usw. anfing, hat Moskau entschieden, den Prager Frühling militärisch niederzuschlagen. Bei dieser Invasion haben nicht alle sozialistischen Staaten mitgemacht – Rumänien und Jugoslawien hielten sich heraus. Im schlimmsten Fall wäre die Invasion von der Sowjetunion alleine durchgeführt worden, denn den Aufstand in Ungarn [1956] hat die Sowjetunion auch alleine niedergeschlagen. Die DDR hat nur propagandistisch unterstützt, ostdeutsche Kampftruppen sind ja nicht in die Tschechoslowakei einmarschiert, nur die Nachrichtenoffiziere. Der Einmarsch wäre auf jeden Fall erfolgt.

 

Warum öffnete man in Bratislava bis zur Wende keine westdeutsche Botschaft. Warum ist es Ihrer Meinung nach in Prag gelungen – wegen der vielen westdeutschen Touristen und westdeutscher D-Mark, die die damals sozialistische Tschechoslowakei für den Handel mit dem Westen brauchte?

Bestrebungen, westdeutsche Botschaften in sozialistischen Ländern zu etablieren, gab es schon zur Zeit der Großen Koalition in der BRD 1966 – am einfachsten war es in Polen, Jugoslawien und Rumänien. Mit der Tschechoslowakei ging es gar nicht wegen des Münchner Abkommens. Hauptstreitpunkt war, ob es überhaupt gültig war oder nicht. Die Tschechen behaupteten, dieses Dokument sei von Anfang an ungültig gewesen. Dies konnte die Bundesregierung wegen des Sonderstatus der sog. Sudetendeutschen nicht akzeptieren. Dies ging also aus rechtlichen Gründen nicht. Die Verhandlungen dauerten viele Jahre – sie fingen 1967 an, da gab es dann in Westdeutschland eine Handelsvertretung der Tschechoslowakei in Frankfurt am Main. Der Chef dieser Handelsvertretung hat schon 1967 mit dem Auswärtigen Amt der BRD verhandelt, diplomatische Beziehungen mit der Tschechoslowakei aufzunehmen – dies scheiterte wiederum am Münchner Abkommen.
Dann hat man mit Egon Bahr einen Kompromiss gefunden, und 1973 wurde in Prag eine westdeutsche Botschaft eingerichtet. Die Anregung zur Eröffnung einer solchen Botschaft in der Slowakei gab es ebenfalls bereits 1967 mit dem Hinweis eines Journalisten der Berliner Zeitung gegenüber der BRD-Regierung, doch eine Vertretung in Bratislava zu installieren, denn Österreich hätte auch schon ein Konsulat in Bratislava. Allerdings muss man dazu auch sagen, dass die Slowakei im Gegensatz zu Prag kein touristisches Hauptziel von Westdeutschen war. Auch in die Hohe Tatra sind vor 1989 nicht so viele gefahren.

 

Die Kerzendemonstration in Preßburg 1988 war schon ein Vorläufer der Demonstrationen im Rahmen der Samtenen Revolution – wie sehen Sie diesen Meilenstein in der slowakischen Geschichte? Denn die Revolte im November 1989 war viel stärker in Prag.

Ich habe in den Akten nur einen Stasi-Bericht über die Kerzendemonstration in Bratislava gefunden, wir wissen aber nicht, wer diesen Bericht verfasst hat – wahrscheinlich war es jemand von der ostdeutschen operativen Stasi-Gruppe in Bratislava, der Bericht ist nicht unterschrieben. Denn derjenige, der den Bericht geschrieben hat, hat nicht verstanden, was die Leute gerufen haben. Diese Kerzendemonstration war aber ein wichtiges Ereignis, weil ein Jahr später auch die Menschen in Ostdeutschland mit Kerzen demonstriert haben. Da Westdeutschland keine Vertretung in Bratislava hatte, hat die BDR dieses Ereignis politisch gar nicht wahrgenommen. Aus heutiger Sicht ist es ein wichtiges Ereignis gewesen.

 

Wir leben jetzt 2018 – einem Achterjahr, in dem Politiker fürchten, dass es zu einer Revolution wie 1938 (Gebietsverluste an Ungarn), 1948 (kommunistische Machtübernahme), 1968 (Prager Frühling) oder 1988 (Kerzendemonstration in Bratislava) kommen könnte. Eine Demonstrationswelle wegen des Mordes an dem jungen investigativen Journalisten Ján Kuciak mit anschließender neuer Regierungsbildung hat die Slowakei schon hinter sich. Was könnte Ihrer Meinung nach in diesem Achterjahr sonst noch passieren?

Nach den Informationen, die wir aus der Slowakei bekommen, sei es die aus Gesprächen mit der Slowakischen Botschaft in Berlin oder aus Gesprächen mit dem deutschen Botschafter in Bratislava, ist man vom wirtschaftlichen Aufschwung der Slowakei beeindruckt. Denn in den Berichten über die Auflösung der Tschechoslowakei steckte immer die Befürchtung, dass im Vergleich zum tschechischen Teil der Bevölkerung die Slowaken einen wirtschaftlichen Nachteil hätten. Man äußerte Befürchtungen, dass sich die Slowakei in Richtung eines Dritte-Welt-Landes entwickeln könnte – zum Glück ist das Gegenteil eingetreten. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, ist die Slowakei gegenüber der Tschechien nicht benachteiligt.

 

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Lage der verschiedenen sozialen Schichten aus?

Ganz wichtig ist, dass die sozialen Unterschiede nicht zu groß werden, denn das ist Sprengstoff für eine Gesellschaft. Ein innerslowakisches Problem ist die ungerechte Verteilung des Reichtums in der Bevölkerung, es ist ein Problem der Regierung. Die Staatsverschuldung der Slowakei ist im Moment nicht so groß wie in manchen westeuropäischen Ländern. Wir haben aber beim diesjährigem Besuch in Bratislava gesehen, dass die Preise so hoch oder sogar noch höher als in Wien sind – das ist natürlich ziemlich extrem. Was positiv in der Slowakei ist, dass es keine gewaltsamen Minderheitenkonflikte gibt – es gibt auch nicht so rassistische Aktionen gegen Sinti und Roma wie z. B. in Ungarn. Durch den Euro gibt es ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union, die Euroeinführung ist im Westen sehr positiv wahrgenommen worden, im Vergleich zu Tschechien oder zu Polen. Aus deutscher Sicht ist die Slowakei im Moment kein Sorgenkind. Die Gespräche in der Deutschen Botschaft haben gezeigt, dass sich die Empörung gegenüber Jan Kuciaks Tod gelegt hat – das muss als Kriminalfall aufgearbeitet werden, der politische Wille zur Lösung ist da. Die größten Probleme sind die Korruption und das organisierte Verbrechen, in letzter Zeit die Mafia, wahrscheinlich importiert aus Italien. Die Bekämpfung der Korruption und des organisierten Verbrechens ist ganz wichtig. Wenn Oligarchen Einfluss auf die Politik gewinnen, dann wird eine Gesellschaft zerstört. Allerdings haben Länder im Kaukasus, Rumänien und die Ukraine noch größere Probleme mit Korruption. Im Vergleich zu anderen Staaten Osteuropas ist in der Slowakei der Populismus nicht so stark. Hier sind Polen und Ungarn viel schlimmere Beispiele.

 

Heute ist Deutschland wieder ein enger Verbündeter Deutschland, wir feiern 25 Jahre der slowakisch-deutschen Beziehungen. Hat die Slowakei 2018 mehr Souveränität gegenüber Deutschland als 1938? Was könnte man aus Ihrer Sicht in den diplomatischen Beziehungen beider Länder noch erreichen?

Die jetzige Slowakische Republik kann man gar nicht mit dem Staat von 1938 vergleichen, denn in der aktuellen Verfassung liegt der Bezug auf dem Großmährischen Reich, nicht auf dem Tiso-Staat. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Deutsche Botschaft hat immer gesagt, dass in der EU jeder Staat eine Stimme hat. Das kleine Luxemburg ist genauso wichtig wie Frankreich. Das gilt auch für die Slowakei. Insofern sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Slowakei sehr gut, wir bieten viele kulturelle Aktivitäten, auch die Wirtschafts- und Politikbeziehungen sind sehr gut. An den aktuellen Beziehungen müssen die Diplomaten arbeiten, denn wir, die Historiker erforschen nur die Vergangenheit.

 

Wie sieht es mit der Gleichwertigkeit der Slowakei und Deutschland in der EU aus? Immerhin importiert die Slowakei mehr deutsche Produkte als umgekehrt. Es gibt immer noch ein Misstrauen gegenüber qualitativ guten slowakischen Produkten in Westdeutschland. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Es liegt wahrscheinlich daran, dass die Slowakei mit ihren Produkten auf dem internationalen Markt relativ neu ist. Vertrauen in Produkte entwickelt sich über Jahrzehnte. Die Deutschen sind aber Gewohnheitsmenschen, das heißt, sie sind bequem und denken nicht gerne neu. Mir tut es ein bisschen leid, wir haben durch unsere Kontakte zu diplomatischen Vertretungen mit diesen Landesprodukten mehr Kontakt als ein Mensch, der nur im Supermarkt einkauft. Nicht nur der slowakische, sondern auch der mährische Wein ist sehr gut. Ich bin zum Beispiel ein großer Fan von slowakischer Wurst und Schinken. Man muss sagen, dass die Qualität der slowakischen Produkte, die wir probiert haben, exzellent ist. Die gastronomischen Produkte der Slowakei sind einfach wunderbar.

 

 

 

       

Enrico Seewald; Matthias Dornfeldt;

M. Gordzielik

 

Štátna vedecká knižnica Košice  

 

 

Begrüßung in der Bibliotek der Wissenschaften Košice 


Die Autoren

Enrico Seewald, geb. 1963 in Karl-Marx-Stadt, Chemnitz, wurde nach seiner Ausbildung zum Finanzkaufmann an der Sparkasse Karl-Marx-Stadt 1981 wegen einer Flugblattverteilungsaktion gegen das damalige sozialistische System zum politischen Häftling, 1983 Freikauf durch die Bundesregierung, Übersiedlung nach West-Berlin. 1992-98 Studium der Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin. Schon während seines Studiums Mitarbeit am Buchprojekt „Zwischen Wilhelmstraße und Bellevue – 500 Jahre Diplomatie in Berlin“. Von 2001-2009 zusammen mit Matthias Dornfeldt mehrere Seminare zur Diplomatie an verschiedenen deutschen Universitäten, seit 2005 am Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin für die Diplomatie der DDR zuständig. 2012-2018 Buchprojekte zusammen mit Matthias Dornfeldt: „Hundert Jahre deutsch-litauische Beziehungen“; „Hundert Jahre deutsch-ukrainische Beziehungen“; gemeinsame Herausgabe: Beziehungen Deutschlands zu Albanien.

  

 

  v. l.: Enrico Seewald, Matthias Dornfeldt, Marian Gordzielik. Presseattaché, Deutsche Botschaft, Bratislava

 

Matthias Dornfeldt, geb.1973: Studium der Rechts- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, der Universität Coimbra, Portugal und der Universität Potsdam. Dabei spezialisierte er sich auf internationale Beziehungen, Außenpolitik, Diplomatie und Konfliktmanagement.

Nach Studienabschluss 2003 Arbeit für das Auswärtige Amt sowie diverse internationale Organisationen: OSZE, Europarat, Organisation für internationale Migration - IOM; für die Vereinten Nationen in Liberia. Ab 2007 Programmdirektor im Hauptbereich Internationale Politik der Körber-Stiftung in Berlin. 2012 Politischer Berater der Kommunikationsagentur Fleishman Hillard Deutschland GmbH für die Implementierung eines Ukraine-bezogenen Mandats. Zurzeit lehrt, forscht und publiziert er am Berlin Centre for Caspian Region Studies (BC CARE) der Freien Universität Berlin sowie am Lehrstuhl für vergleichende und internationale Politik der Universität Potsdam. 2012-2018 Buchprojekte zusammen mit Enrico Seewald: „Hundert Jahre deutsch-litauische Beziehungen“; „Hundert Jahre deutsch-ukrainische Beziehungen“. Bald erscheint seine Dissertation zu den deutsch-norwegischen Energiebeziehungen.

 

 

 Deutsch-slowakische Lektüre: Nemecké veľvyslanectvo Bratislava 

 


Fotos: Daniela Capcarová


siehe u.a. auch: 

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