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Wahlen in der Slowakei 2016

Zum ersten Mal sind Rechtsextremisten ins slowakische Parlament eingezogen.

Eine Analyse der möglichen Gründe


 von Daniela Capcarová


Vor vier Jahren haben wir hier [Capcarova-Wahlen] über die Massendemonstrationen gegen den slowakischen Korruptionsskandal Gorilla geschrieben. Er stand im Zusammenhang mit den vorzeitigen Wahlen 2012. Vier Jahre danach, zwei Tagen nach den Parlamentswahlen in der Slowakei, müssen wir wieder mit Demonstrationen beginnen.

Am Montag, den 7. März 2016, war der Anlass der Demonstrationen in Bratislava und in Banská Bystrica allerdings viel trauriger: Es waren Demonstrationen gegen den Einzug des slowakischen Populisten mit Neonazi-Vergangenheit Marián Kotleba und seine Partei Ľudová Strana – Naše Slovensko / Die Volkspartei – Unsere Slowakei in das slowakische Parlament. Die Demonstrationen unter dem Motto „Antifašistická mobilizácia – Nikdy neprejdete! / Antifaschistische Mobilisierung – Ihr kommt nie durch!“ wurden über Facebook organisiert und man ließ auf ihnen auch ältere Slowaken zu Wort kommen, die sich gegen jedweden Faschismus wandten. Die 87jährige Anna Berger hatte den Faschismus in Form der Nationalsozialisten in der Slowakei am eigenen Leib erfahren, ihr Bruder war hingerichtet worden. Sie forderte ihre Landsleute auf, keinen rechten Extremismus zu unterstützen. Ihr emotionaler Auftritt rührte manche DemonstrantInnen zu Tränen.


Die Volkspartei von Marián Kotleba gewann in den Wahlen am Samstag acht Prozent der Stimmen. Es ist zum ersten Mal nach der Samtenen Revolution 1989, dass eine rechtsextreme, ultra-nationalistische Partei, deren Vorsitzender eine graue Vergangenheit hat, ins Parlament einzieht. Acht Prozent sind im Vergleich zu den nationalistisch-populistischen Parteien in den Nachbarstaaten der Slowakei – Ungarn und Polen – nicht viel. Alarmierend ist allerdings die Tatsache, dass 23 Prozent der Erstwähler, also der jungen Slowaken, und 10,6 Prozent der Menschen in der Altersgruppe von 22 bis 39 Jahren diese Partei wählten. Dabei sind 16 Prozent ihrer Wähler Studenten, 10 Prozent haben Abitur, 9,4 Prozent sogar einen Universitätsabschluss.

Schauen wir uns die möglichen Gründe dieser Wahlentscheidung einmal an.


Rechtsextremismus
hat einen seiner Nährböden in den Schichten, die unter der Hoffnungslosigkeit der jeweiligen Ära leiden. Die Landkreise, in denen Kotlebas Volkspartei am besten abgeschnitten hat, sind gerade die ärmeren Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Hauptagitationsregion der Volkspartei ist zurzeit allerdings gerade das einstige Zentrum des Slowakischen Nationalaufstands Banská Bystrica – hier war Kotleba zum ersten Mal in den Bezirkswahlen 2013 als Regionalchef (
Župan) erfolgreich und erhielt im Kreis Banská Bystrica mit 10,5 Prozent auch die meisten Stimmen. Ein Grund seines Erfolges ist sein Programm, das sich gegen Korruption und für die Interessen der Slowakei einsetzen will. Nicht zu vergessen ist auch das „soziale Programm“ seiner Partei; wichtigster Bestandteil ist, die Auszahlung von Sozialhilfe an Roma an Gegenleistungen in Form von Arbeit zu knüpfen.


Geschichtslosigkeit
Dass er bei den jungen Wählern gut ankommt, ist allerdings der nicht aufgearbeiteten Geschichte geschuldet, vor allem der Periode während des Zweiten Weltkriegs, in der der damalige kirchlich-faschistische Slowakische Staat unter der Leitung von Josef Tiso Verbündeter von Hitler war. „Im Unterschied zu Deutschland wurden bei uns die dunklen Seiten des Slowakischen Staates während des Zweiten Weltkrieges nicht aufgearbeitet“, sagte die Chefin des Seniorenclubs der Holocaust-Überlebenden Eva Mosnáková gegenüber der slowakischen Zeitung Denník N. „Die Beteiligung der damaligen slowakischen Regierung an der Vertreibung von jüdischen Mitbürgern, aber auch slowakischen Antifaschisten, sowie am Transport von Gefangenen, die beim Nationalaufstand gefangen genommen wurden, wird in einem Teil der Geschichtsbücher gar nicht erwähnt“, begründet Mosnáková den Erfolg von Kotleba bei den jungen Wählern. „Die Denkmäler für die umstrittenen Persönlichkeiten dieser Zeit, die es in der Slowakei gibt, bringen gerade junge Wähler auf Abwege“, meint Eva Mosnáková. Und nicht nur junge Menschen – zu den Mitgliedern der Volkspartei gehören u.a. eine Ärztin, die in verschiedenen Regionen Märsche gegen Immigranten organisierte, sowie ein Lehrer, der die Bezirksorganisation der Volkspartei leitet und die Begrüßung „Na stráž – Wache halten“ benutzt.


 Kotleba, Karikatur, postpolitost.cz 


Bildungsmisere - Niedriglohnsektor
Dabei sollten doch gerade LehrerInnen beim Prozess der Aufarbeitung der eigenen Geschichte eine Schlüsselrolle spielen. Leider müssen die meisten von ihnen mit den miesesten Lehrergehältern in der gesamten EU kämpfen. Im Ranking der Bezahlung stehen slowakische LehrerInnen an vorletzter Stelle, hinter ihnen sind nur noch die rumänischen, obwohl der Durchschnittslohn in Rumänien viel niedrigerer ist als in der Slowakei. So beträgt momentan das Gehalt eines Lehrers, der nach dem Universitätsabschluss voll ausgebildeter an einer Schule anfängt, gerade ein Achtel (!) des Gehaltes eines Parlamentsabgeordneten. Der Streik der LehrerInnen und Krankenschwestern kurz vor den jetzigen Wahlen hat der führenden Partei der Slowakei – der SMER – das Genick gebrochen. LehrerInnen forderten höhere Gehälter und gesellschaftliche Anerkennung ihres Berufes; am Anfang des Streikes hat dieser Protest weder den Vorsitzenden der SMER, Róbert Fico, noch den technokratischen Schulminister Juraj Draxler interessiert. Weder die LehrerInnen noch die Krankenschwester waren eine wichtige Wählergruppe der SMER, die Partei orientierte sich vor allem an den Rentnern. Diese Arroganz der Macht empörte die Slowaken regelrecht, weil sie schon ahnten, dass 2016 von der Ende des Jahres 2015 im Budget eingesparten eine Milliarde Euro kaum etwas in die Unterstützung von Schul- und Bildungswesen fließen würde.

Anders bei Marián Kotleba: In einer Fernsehdiskussion zeigte er volles Verständnis für die Lehrer, weil er selber einmal einer von ihnen gewesen sei. Allerdings vergaß er hinzuzufügen, dass ihm die Lehrerlaubnis wegen seiner rechtsextremistischen Anschauung entzogen worden war und er nur noch als IT-Techniker ohne Einfluss auf den Unterricht arbeiten durfte.

Die niedrigen Lehrergehälter führten seit der Wende dazu, dass wichtige junge Persönlichkeiten, die Schülern als moralische Vorbilder dienen könnten, fehlen oder in anderen Bereichen arbeiten müssen. Die Gründe sind simpel: mit diesem Gehalt kann man weder sich, geschweige die eigene Familie ernähren, hinzu kommt die instabile Stellung, die oft fehlende Anerkennung, die sie gerade wegen der geringen Bezahlung in der Gesellschaft haben. Oftmals können sie sich nicht einmal ein Handy, das die Mehrheit ihrer Schüler natürlich wie selbstverständlich benutzt, leisten. Auch eine normale Mietwohnung ist von dem etwa 400 Euro-Bruttogehalt eines Lehrers direkt nach dem Uniabschluss nicht bezahlbar.

„Ein Resümee unserer jetzigen Gesellschaft: Da es in der Slowakei für Kultur, Schule und Bildung schon seit Jahrzehnten kein Geld gibt, hat sich dieser Mangel jetzt in seinem ganzen Ausmaß offenbart. Eine alte Wahrheit lautet: Wenn in den Köpfen die Rationalität fehlt, quellen aus den Herzen die Emotionen heraus“, schreibt der Soziologe und Psychiater Peter Hunčík. „Leider sind es nicht die angenehmen und wohlwollenden Emotionen, sondern die eiskalten und hasserfüllten“, konstatiert der Arzt.

Einen halbwegs klaren Kopf hatten die gewählten politischen Parteien erst nach den Wahlen. Alle haben eine mögliche Koalition mit der Volkspartei von Marián Kotleba ausgeschlossen.


Flüchtlinge helfen das Korruptionsloch stopfen
Beliebtes Propagandainstrument der Volkspartei war das Internet, vor allem Facebook, die sozialen Medien, mit denen man stärker manipulieren kann. Die mediale Hetze der Mehrheit der regierenden Parteien gegen die Migranten aus dem Nahen Osten vor den Wahlen spielte den noch nicht entschiedenen Wählern in die Hände. Sie wählten die Rhetorik gegen die Migranten - und dies trotz der Tatsache, dass die Slowakei zu denjenigen EU-Ländern gehört, die die härtesten Asylgesetze haben und die wenigsten Flüchtlinge aufnehmen. Für die Migranten ist die Slowakei vor allem als Transitland interessant; mit der Sozialhilfe von etwa 60 Euro monatlich kann auch ein Slowake kaum überleben.

Laut den Umfragen, die die Agenturen direkt nach den Wahlen machten, gingen vor allem die früheren Wähler der Partei SMER zur Volkspartei von Kotleba. Ein wichtiger Grund war sicher die Desillusion über die SMER. In den Wahlen 2012 hatten die Wähler ihre Stimmen dieser Partei vor allem in der Hoffnung gegeben, dass die Partei die Causa Gorilla lösen und die Korruption im Lande endlich bekämpfen würde. Das hat die trotz Versprechen aus Angst dann doch nicht gemacht, weil bei genauen Untersuchungen im Rahmen der Causa vermutlich mancher SMER-Politiker über die Klinge gesprungen wäre. Außerdem hätte die SMER selbst nicht mehr genauso dubiose Geschäfte mit ihren Sponsoren machen können, wie die Regierungspartei SDKÚ, die in Gorilla figurierte, sie gemacht hatte. Das Ergebnis dieser „Brüderschaft“ bzw. Verbrüderung war eine überall herrschende Korruption und Vetternwirtschaft, die am meisten vor allem junge Menschen entsetzte. Das immer weiter sinkende Bildungsniveau, das Fehlen von Arbeitsplätzen und Netzwerken, mit denen man in den Arbeitsmarkt gelangen könnte, enttäuschten die Jungen zu Recht. Jährlich verlassen 30.000 junge Leute das Land, entweder wegen der Arbeitslosigkeit oder dem Wunsch, in einem anderen europäischen Land zu studieren.


Vor jeder Ent-täuschung steht zuallererst eine Täuschung.
Die Täuschung war da: die Politik der alten Parteien SMER, KDH und SDKÚ in der letzten Wahlperiode hat die slowakische Gesellschaft desillusioniert, die Bekämpfung der Korruption hat nicht stattgefunden – die Rechnung mussten diese Parteien nun am Wochenende zahlen. KDH und SDKÚ kamen erst gar nicht ins neue Parlament. SMER verlor insgesamt ein Drittel der Wählerstimmen, war zwar mit 28,3 Prozent noch Gewinnerin der Wahlen, wird aber – gerade wegen der eigenen Affinität zur Korruption – einen dritten Partner für die Regierungsbildung wahrscheinlich gar nicht finden. Und das obwohl der Premier Róbert Fico wegen seiner Kompetenz als Politiker die meisten Stimmen erhielt, mehr als eine halbe Million, was bei der fast 60prozentigen Wahlbeteiligung ziemlich viel ist.


Rechtsruck
„Im Parlament ist keine einzige Partei geblieben, die dieses demokratische politische System mitbegründet hat. Es werden in ihr die Nationalisten, Faschisten und antieuropäische Fundamentalisten sitzen (damit ist der zweite Wahlgewinner gemeint: die Partei SaS – Sloboda a Solidarita gemeint / Freiheit und Solidarität), aber auch die bürgerlichen Aktivisten, die wiederum Ehre und Bewunderung verdienen“, äußerte sich der Halbslowake und Journalist des tschechischen Magazins Respekt Martin Šimečka [s. hier:
Martin M. Simecka Nach der Samtenen Scheidung] in der slowakischen Presse. „Was ist passiert? Die Wähler haben entschieden, dass sie gerade die Lüge durchschaut haben, mit der sie jahrzehntelang von den Politikern der sogenannten Systemparteien gefüttert worden sind. Diesen Systemparteien wurden unlautere Spielchen hinterm Rücken der Wähler unterstellt. Ein absoluter Mangel an Authentizität, ein tiefer Widerspruch zwischen dem, wie ein Politiker erscheint und dem, wer er im Innersten ist. Dieser Widerspruch hat eine gewisse formale Vollkommenheit erreicht, die für viele Menschen abstoßend geworden ist“, bilanziert der tschechische Publizist die jüngere gesellschaftliche Entwicklung.


Persönliche Geschichte wird politisch
Vor etwa einem halben Jahr habe ich in der zweitgrößten Stadt der Slowakei zufällig einen der Auftritte der Volkspartei Ľudová strana erlebt. Ein kalter Schauer lief mir dabei über den Rücken, obwohl ich damals nicht richtig registrierte, um wen oder was es sich handelte. Genauso so ein Schauer lief meinem Großvater Peter über den Rücken, als er nach dem Slowakischen Nationalaufstand gegen die Nazis von der SS festgenommen wurde und in den Transport in das Zwangsarbeiterlager Stalag in Neu Brandenburg einstieg. Gerade solche Emotionen erlebte auch sein Bruder Michal, der als Partisan in der Nähe von Liptovský Mikuláš ums Leben kam. Er war gerade neunzehn Jahre und kämpfte in der Partisanengruppe Za rodinu – was auf Ruthenisch „Für die Heimat“ bedeutete. Erst letzte Woche erfuhr ich, dass die Partisanen, die damals in den Wäldern um Liptovský Mikuláš herum kämpften, nur auf sich selbst gestellt waren, nachdem der Aufstand zugleich von der deutschen und slowakischen Armee unterdrückt worden war und die russische Armee das Erste Tschechoslowakische Armeekorps von Ludvik Svoboda, das sich in Russland formiert hatte, als künftige slowakische Armee anerkannt hatte. Den Partisanen, die damals in Liptovský Mikuláš kämpften, kam man also weder von slowakischer noch von russischer Seite zu Hilfe. Sobald ihnen die Munition ausging, waren sie verloren...

Michal Capcara starb im Kampf um seine Heimat, obwohl er und seine Mitkämpfer den Kampf in der Situation, in die sie geraten waren, gar nicht gewinnen konnten.
Laut der slowakischen Zeitung Denník N bezeichneten Kotlebas Parteianhänger bei einer Kundgebung den Slowakischen Nationalaufstand als einen „anti-slowakischen Bolschewiken-Putsch und eine internationale Verräter-Aktion“, was historisch natürlich nicht stimmt.


Die Slowakei ist meine Heimat wie die von Kotleba – wie wäre sie heute, wenn sich das damalige kirchlich-faschistische Regime auch nach dem Krieg gehalten und etabliert hätte?

Die moderne Slowakei müsste endlich mit einer möglichst objektiven Verarbeitung der eigenen Geschichte beginnen und gleichzeitig weltoffene Menschen erziehen und Politik gestalten lassen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass wir ehrlich zu uns selbst sind. Der verstorbene slowakische Schriftsteller Ladislav Hanus schrieb 1992: „Nicht Konflikte, egal wie schwer sie sind, sind die größten Probleme, sondern die Tatsache, dass uns Persönlichkeiten von großem Format fehlen“. Ein paar davon kamen am Wochenende ins slowakische Parlament – es ist zu hoffen, dass sie von den Machtinteressen ihrer politischen Kollegen nicht zum Schweigen gebracht werden. Zu hoffen ist, dass wir in Zeiten zunehmender Rückgratlosigkeit immer mehr Menschen mit Rückgrat erleben werden. In jeder Gesellschaft, nicht nur in der slowakischen.


 s.a. Reise nach Kosice;

Roma in Kosice

 

 

 

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08III15

 

 



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