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Eine Erinnerung an Stéphane Hessel

von Elisabeth Raabe


 

Vor fünfzehn Jahren war er hierzulande ein No-Name: Stéphane Hessel, der französische Diplomat, Ambassadeur de France und Verfasser des 1997 bei Seuil in Paris erschienenen Bestsellers Danse avec le siècle. Aber es gab eine Familie, die mit ihm durch seine zweite Frau Christiane freundschaftlich verbunden war und in der er, der einstige Résistance-Kämpfer und Überlebende von Buchenwald, ein anderes Stück Deutschland kennenlernte: die Familie der 1943 von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek. Oft unterbrach er seine Reisen in dem kleinen norddeutschen Dorf Fischerhude bei Bremen, wo die Mutter von Cato, die von ihm verehrte Malerin Olga Bontjes van Beek, zusammen mit ihrem Sohn, einem früheren NDR-Musikredakteur und Pianisten, und dessen Frau und Tochter, den Übersetzerinnen Roseli und Saskia Bontjes van Beek, lebte.

Als ich in Fischerhude durch Roseli und Saskia Bontjes van Beek, die seit kurzem die Romane von Margaret Forster für uns übersetzten, das kleine reetgedeckte Haus am Dorfrand als Wochenendrefugium mietete, wusste ich nichts von dem tragischen Schatten, der über dem Haus in der Bredenau lag, und schon gar nichts von Stéphane Hessel. So war es nur eine Frage der Zeit, bis der Journalist Hermann Vinke eine Biographie über Cato Bontjes van Beek bei uns im Arche Literatur Verlag herausbrachte und – bis ich auf Stéphane Hessel und seine Autobiographie aufmerksam gemacht wurde und Einzelheiten seines Lebens erfuhr: Etwa dass er, der Sohn des Berliner Schriftstellers Franz Hessel und der Modejournalistin und FAZ-Korrespondentin in Paris, Helen Grund, jener kleine Junge in dem berühmten Truffaut-Film Jules et Jim war, oder dass seine Mutter ihm die Liebe zur Literatur vermittelt habe und er jederzeit nur allzu gern eines der hundert Gedichte aus der Weltliteratur, die er auswendig konnte, vortrug.

Wir erwarben die Rechte, Roseli und Saskia Bontjes van Beek begannen zu übersetzen, Regine Vitali und ich trafen Stéphane Hessel in Paris, einen feinen älteren Herrn von achtzig Jahren mit jener unverkennbaren Stimme, die alle, die sie einmal gehört haben, im Gedächtnis bleibt, und seinem gewählten, klar und präzise formulierten Deutsch. Wir kündigten das Buch unter dem Titel Tanz mit dem Jahrhundert für das Frühjahr 1998 an, und unser damaliger Vertriebsleiter Jörg Braunsdorf, heute Inhaber der Berliner Tucholsky Buchhandlung, organisierte eine Lesereise, die Regina Vitali und ich heute zu einer der Sternstunden unseres Verlegerinnen-Lebens zählen.[...]


Dem No-Name öffneten sich die Türen der Politik und Medien

Christina Weiss, die damalige Kultursenatorin, leitete die erste Lesung im voll besetzten Jüdischen Theater der Hamburger Kammerspiele. Die Atmosphäre erinnerte wie von fern an die

Sit-ins der Siebziger Jahre: Da saß ein Mann, der der Folter im Keller der Pariser Gestapo widerstanden hatte, der an seinem 27. Geburtstag im KZ Buchenwald durch den von Eugen Kogon initiierten Identitätstausch gerettet wurde und als Michel Boitel auch noch das berüchtigte KZ Mittelbau-Dora überlebte und der uns Nachgeborenen vom Glück des Überlebenden erzählte, von seiner Karriere als junger UN-Sekretär in New York, der Formulierung der Menschenrechte und dem bewegenden Augenblick ihrer Verabschiedung 1948 in Paris und was die Vereinten Nationen seitdem für ihn bedeuteten – ein Kosmopolit und Europäer, der ein flammendes Plädoyer für Humanität und Zivilcourage, für Toleranz und Verantwortung hielt. Dies wiederholte sich in Bremen, wo der damalige Bürgermeister Henning Scherf es sich nicht nehmen ließ, den französischen Gast im Rathaus zu empfangen. In Berlin, wo der französische Botschafter zum Essen in kleinem Kreis u. a. mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seine Villa im Grunewald einlud und wo abends Manfred Flügge die Lesung in der Akademie der Künste moderierte. In Leipzig auf der Buchmesse, wo Hermann Vinke mit Stéphane Hessel diskutierte, die Journalisten an unserem Stand kamen und gingen und Hessel zugewandt-neugierig und gleichbleibend freundlich die immer selben Fragen prononciert beantwortete, wo eine junge ntv-Journalistin etwas verdattert nach dem Interview sitzenblieb und sagte: „Nun habe ich mich verliebt.“ Denn auch das strahlte Stéphane Hessel aus: einen großen, gewinnenden Charme. Es folgten Weimar und München, wo an jenem Sonntagabend bei frühsommerlichen Temperaturen das Publikum des bis auf den letzten Platz besetzten Literaturhauses fast ehrfürchtig dem schlanken Herrn auf der Bühne zuhörte und anschließend geduldig beim Signieren seines Buches wartete, was wiederum uns schon bald eine zweite Auflage bescherte.

Seitdem wurde Stéphane Hessel auch hierzulande zu einem gesuchten Gast in politischen Diskussionen, Talkshows, auf Tagungen und bei Gedenkstunden. Es entstanden Filme, Rundfunkfeatures und Artikel, immer getragen von der Empathie dieses großen, alten Gegenübers. In dieser Zeit war er wieder unterwegs, unermüdlich, zwischen Burkina Faso und Ramallah, New York und Paris, ein Kämpfer für Versöhnung. Wir trafen ihn hin und wieder in Fischerhude, wenn er an einem heiteren Sonntag in Buthmanns Hof die Ausstellung der Werke Olga Bontjes van Beeks eröffnete oder wenn er die schwer kranke Roseli Bontjes van Beek, mit der ihn die Liebe zur Lyrik verband, mit Versen von Rilke oder Hölderlin im Dämmer ihres Daseins zu erreichen versuchte. Wenig später gingen wir gemeinsam den langen Weg von der Fischerhuder Dorfkirche zum Friedhof hinter ihrem Sarg her.

 

Protestbewegungen

Da war Stéphane Hessel bereits zur Ikone einer neuen, grenzübergreifenden politischen Bewegung geworden: Seine schmale, nur 32 Seiten umfassende, weltweit millionenfach verkaufte Schrift Indignez-vous!, initiiert von der französischen Verlegerin Sylvie Crossman von Indigène éditions, Montpellier, war zum Manifest der Protestbewegungen gegen die Folgen der Finanzkrise geworden. Empört Euch! erschien hierzulande im Ullstein Verlag, nicht im Arche Literatur Verlag, was er bedauerte. Wir hatten inzwischen den literarischen Teil an Oetinger verkauft.

Dass Hessel sich seit längerem mehr und mehr zu einem Israel und seiner Siedlungspolitik gegenüber kritischen Beobachter entwickelte und für eine Anerkennung des Palästinensischen Staates plädierte, brachte ihm, dem Juden, gerade von französischen Juden öffentliche Ablehnung ein bis hin zum Wort „Antisemit!“ an seinem Wohnhaus in Paris. Als er in der Akademie der Künste am Pariser Platz Ende November 2011 mit dem Prix de l’Académie de Berlin der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet wurde, wandte er sich während der anschließenden Diskussion halb um und, auf das Brandenburger Tor zeigend, gab er in seiner

unnachahmlichen, von Optimismus getragenen Art den Anwesenden zu bedenken, was zwei verfeindete Staaten bedeuteten und wie gerade an dieser Stelle es mit Händen zu greifen sei, wenn zwei Staaten wieder miteinander vereint würden. Und noch einmal trafen wir, seine „Les Belles“, wie er uns liebenswürdig-scherzhaft nannte, ihn vor drei Monaten beim Zukunftscamp der ZEIT-Stiftung auf Kampnagel in Hamburg, inzwischen 94jährig, noch immer ganz Diplomat im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Noch immer beantwortete er gleich wach und aufmerksam die Fragen auf dem Podium.

 

Es war Zufall, dass ich am letzten Mittwochabend NDR Kultur einschaltete und wie elektrisiert eine mir wohlbekannte Stimme sagen hörte: „Leben ist schon etwas Schwieriges, aber Schönes. Sterben soll auch etwas Schönes sein. Ich freue mich darauf, dass jetzt bald ein Tod kommt, den brauche ich auch, als ein gewisses Ende dieses Lebens. Ein Leben darf nicht dauern, überdauern …“ Es waren die Anfangssätze aus dem Feature Der Empörte. Stéphane Hessel – Ein Mann, seine Gedichte und sein Jahrhundert von Henry Bernhard, das, 2011 für den Deutschlandfunk produziert, an diesem Abend wiederholt wurde.

War es Zufall? Am anderen Morgen erfuhr ich, dass Stéphane Hessel in der Nacht in seiner Pariser Wohnung gestorben war.


 

Im Arche Literatur Verlag erschien 1998 Stéphane Hessels Autobiografie Tanz mit dem Jahrhundert. Elisabeth Raabe, Hessels erste deutsche Verlegerin, erinnerte sich am 01.03.2013 auf www.boersenblatt.net an ihn. Zum Verlag: www.arche-kalender-verlag.com

 

 


© Text mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Raabe; Fotos: afp, Luc Person, 2 x Arche Verlag 

05.03.2013 

s. hier auch: Spots, Empört euch!



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