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Adriaan van Dis - Hilfe, ich bin ein Europäer

12. Internationales Literaturfestival Berlin - Europe Now


 

 

Wo kann ich offiziell Europäer werden? Gibt es eine Behörde, wo ich meinen niederländischen Pass eintauschen kann? Nicht, weil ich nicht mehr in meinem Land leben möchte. Ich liebe den niederländischen Himmel, seine Wolken und die Dünen. Ich schreibe auf Niederländisch. Aber ich will zu einer größeren Welt gehören. Und vor allem keine Angst vor ihr haben. Ich will raus aus meinem Käfig. Mangels Weltbürgerschaft entscheide ich mich für Europa. Als ersten Schritt. Die Münzen brennen schon in meinem Portemonnaie. Jetzt will ich auch einen echten europäischen Pass haben, eine europäische Krankenversicherung und europäische Steuern zahlen.
Die Niederlande galten lange als gastfreundliches und offenes Land. Ein Klischee, an das auch wir gern glauben wollten. Der große Historiker Johan Huizinga beschrieb unser Land als ein Haus, offen für die Anerkennung des »Werts des Fremden« (»Nederland’s Geestesmerk«, 1934]. »Wir haben alle Fenster unseres Hauses offen stehen und lassen den See- und den Landwind frei hindurchblasen.« Jahrhundertealte Handelskontakte, mit unseren Nachbarn und mit Übersee, haben uns mit dem Fremden vertraut gemacht. Die Niederlande existieren dank der freien Grenzen. Kontakt mit dem Fremden hat unser geistiges Leben bereichert und am wichtigsten: Wir haben damit viel Geld verdient. Nationalismus war bis vor Kurzem nie salonfähig in meinem Land. Es zeugte von gutem Geschmack, ein bisschen spöttisch von seinem »kleinen, nassen Froschländchen« zu sprechen. Obwohl in der Verkleinerung sicher auch Stolz mitschwang. Nach einem langen Frieden konnten wir ohne patriotische Prahlerei zurechtkommen. Die Niederlande begrüßten Europa wegen des Profits. [Polen, die zusahen, wie ihr Land in Kriegen aufgeteilt wurde, und die ihre Freiheit und Unabhängigkeit einem politisch geeinten Europa verdanken, denken garantiert anders darüber.] Meine Familie konnte jahrhundertelang gehen und stehen, wo sie wollte. Ich stamme aus einem Geschlecht von Bauern und Soldaten der Kolonialtruppen – Knechtschaft haben wir nie gekannt. Sehr wohl aber Knechte.
Zu Hause habe ich den distanzierten Blick auf die Niederlande erlernt. Dazwischen liegt ein Krieg.Meine Mutter ist eine Bauerntochter aus Brabant, die mit 22 Jahren 1932] einen Offizier des Königlich Niederländischen Indischen Heers heiratete. Das Wort »Indonesier« war damals kaum bekannt; das Land war noch nicht unabhängig. Der erste Ehemann meiner Mutter wurde damals herablassend als »Eingeborener« bezeichnet. Meine Mutter hatte über die Farbgrenze hinweg geheiratet. Für eine Frau etwas ziemlich Einzigartiges. Auch in den Augen der Holländer in der Kolonie. Sie würdigten meine Mutter keines Blickes, weil sie sich mit ihrer Heirat gesellschaftlich außerhalb der europäischen Gemeinschaft gestellt hatte. Aber auch die einheimische Bevölkerung misstraute ihr. In ihren Augen gehörte meine Mutter zur Kolonialmacht – das heißt zu den Besatzern.
Der Zweite Weltkrieg traf auch die niederländische Kolonie am Äquator. Japan marschierte ein und alle Europäer wurden in Lagern interniert. [Außer den Deutschen, denn die gehörten zu einer befreundeten Macht.] Der Mann meiner Mutter gründete eine Widerstandsgruppe und entschied sich für Königin und Mutterland. Schwülstige Worte, die zu seinem Status gehörten: ein auserwählter, dunkler Sohn von den Banda-Inseln, der in den Niederlanden eine hohe militärische Ausbildung erhalten hatte. [Er war einer von noch nicht einmal zehn einheimischen Offizieren.] Die Japaner sperrten ihn ein und schlugen ihm den Kopf ab. Nach dreieinhalb Jahren Internierung in einem japanischen Konzentrationslager auf Sumatra kehrte meine Mutter mit drei schönen braunen Töchtern in die Niederlande zurück. Eine frischgebackene Witwe, aber noch einmal schwanger von einem anderen Soldaten, der sie ein bisschen zu wirkungsvoll getröstet hatte. Ich wurde das Friedenskind. Mein Vater ging als Weißer durch, aber die koloniale Familie, aus der er stammte, hatte über die Jahrhunderte immer wieder mal sichtbar einen dunklen Anstrich abbekommen.
Meine Mutter musste fünf Jahre lang für die Anerkennung ihres ersten Mannes kämpfen. Er war ein Widerstandsheld, aber in den Niederlanden nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich nicht vorstellen, dass ein »Eingeborener« sich auf die Seite der Niederlande geschlagen hatte. Die Indonesier hatten sich doch nach dem Krieg massenhaft gegen die niederländische Kolonialmacht gestellt und einseitig die Unabhängigkeit ausgerufen. Nein, Braun war die Farbe des Verrats.
Diese Kränkung und ihre in den Tropen gemachten Erfahrungen auf der anderen Seite der Farbgrenze brachten meine Mutter dazu, anders auf Holland zu schauen. [Leute aus den Kolonien sprachen nie von den Niederlanden, immer nur von Holland.] Es gab nur ein Volk, das im Krieg gelitten hatte, und das waren die Holländer. Und sie waren allesamt im Widerstand gewesen [obwohl mehr Niederländer freiwillig der SS beitraten als in irgendeinem anderen europäischen Land]. Und jeder von ihnen hatte Juden gerettet [obwohl mit Unterstützung der niederländischen Polizei und der Niederländischen Staatsbahnen mehr Juden deportiert wurden als sonst wo in Westeuropa.] Ja, die Holländer! Wer wollte schon zu den Holländern gehören. Wir nicht! Mein Vater spie das Wort aus. [Holländer: wooden shoes, wooden heads, wooden manners. Ein geflügeltes Wort bei uns zu Hause.] Dieselben Holländer hatten ihm, als er nach dreieinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit völlig entkräftet den Militärdienst quittierte, noch die Rechnung für eine abhandengekommene Uniform ge schickt. Er, der mit nichts als einem Lendenschurz aus dem Lager kam. Die Holländer!
Meine Schwestern emigrierten schon bald. Die Niederlande waren ihnen fremd. Mein Vater starrte jahrelang nervenkrank aus dem Fenster und verzehrte sich nach seiner Geburtstadt Surabaya. Er starb als gebrochener Mann, ich war zehn Jahre alt. Und ich blieb mit einer Mutter zurück, die bis zu ihrem hundertsten Geburtstag an den Holländern herumkrittelte. Die Holländer. Ich bin einer von ihnen. Durch und durch. Aber nicht von Herzen. Und jetzt will ich auf meine alten Tage Europäer werden.
Wann habe ich mich zum ersten Mal als Europäer gefühlt? Nicht auf Reisen in Europa, da war ich immer Niederländer. In Afrika? Nein, dort war ich weiß. In China? Dort gehörte ich zu den Westlern.
Mein europäisches Bewusstsein begann sich zu entwickeln, als ich 1984 als fellow des Marshall Fund sechs Wochen mit einer Gruppe young upcoming European intellectuals durch die Vereinigten Staaten von Amerika reisen durfte. Zwei Franzosen, zwei Deutsche, eine Dänin und ich. Die Dänin war eine bekannte Fernsehjournalistin, beliebt in ihrem Land, schwanger und bewusst unverheiratet.
Die Amerikaner, bei denen wir unterkamen – oft gastfreundliche Familien in der Provinz – konnten es gar nicht fassen: eine schwangere Person des öffentlichen Lebens. Ohne Ehemann! Akzeptierten ihre Zuschauer das denn? Ja. Aber in Amerika, versicherte man uns damals, wäre das garantiert unmöglich. Bei einem Arbeitsfrühstück mit den Lyons in Arkansas sprachen die anwesenden Damen sogar mit Empörung über diese Schande. Die dänische Lebenseinstellung kam mir total normal vor. Die Deutschen dachten nicht anders darüber. Nur die Franzosen fanden es gewagt, aber akzeptabel. Das Unverständnis der Amerikaner riss die Grenzen zwischen Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Dänemark nieder. In Arkansas fühlte ich mich zum ersten Mal als Europäer.
Zurück in den Niederlanden, flaute dieses Bewusstsein wieder ab. Ich machte eine Reise nach der anderen und suchte für meine Bücher eine Kulisse in Südafrika, Mosambik und New York. Ich wurde wieder weiß und in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße zum Niederländer. Bis ich 2003 nach Paris umzog – nicht aus negativen Gründen. Es war ein alter Traum, ich wollte schon immer in einer echten Weltstadt leben und unsichtbar sein; für mich eine Voraussetzung, um schreiben zu können. In Paris wurde ich mehr zum Niederländer, als ich es je gewesen war. Selbst zum Bataver. Die Pariser rieben es mir fast täglich unter die Nase, dass ich nicht dazugehörte. Der bürokratische Weg, den ein Ausländer, der sich in Paris niederlassen möchte, zurücklegen muss, ist steinig. Allein schon der Papierkram: Was ich alles für die Bank, die Miete, Gas und Licht, für Telefon und fürs Finanzamt ausfüllen musste. [Die Franzosen bezeichnen Bürokratie nicht umsonst als »milles feuilles«, tausend Blätter.]
Europa mit all seinen Brüsseler Gesetzen bestand den Praxistest noch nicht. Banken berechneten unberechtigte Gebühren, wozu sie nach den Brüsseler Vorschriften kein Recht hatten. Meine niederländische Krankenversicherung zweifelte jede französische Arztrechnung an. Während ich mich fast überschlug, Pariser zu werden, war Frankreich heftig damit beschäftigt, noch mehr Frankreich zu werden. Zwei Jahre nach meiner Ankunft fand ein entscheidendes Referendum zum europäischen Grundgesetz statt [2005]. Frankreich stimmte en masse dagegen. Die Niederlande auch. Das schuf ein Band. Die beiden Länder hatten aber offenbar noch mehr Gemeinsamkeiten. Frankreich quoll der Mund von französischen Normen und Werten immer mehr über. Le Pen führte den Begriff français de souche ein – des sogenannten reinrassigen Franzosen. Frankreich verfärbte sich angeblich, Brüssel bedrohe die französische Autonomie. Politiker nutzten die Ängste und forderten eine nationale Debatte über die französische Identität. Nach der Wahl Sarkozys zum Präsidenten wurden in Dutzenden Verwaltungsgebäuden der Departements und Gemeinden Debatten über die Frage geführt: »Was heißt es heute, französisch zu sein?« Die Franzosen fühlten sich offenbar bedroht. Die Migration und die Globalisierung waren die großen Bösewichte, aber auch Google, Hollywood und McDonald’s. [In Frankreich gibt es die meisten Macdo-Filialen von ganz Europa.] Sarkozy hatte gut zugehört und meldete die französische Küche als bedrohtes kulturelles Erbe bei der Unesco. In den Niederlanden packte man es schlichter an: Jedes Problem wurde islamisiert. Verbrechen, Problemkieze, schlechter Unterricht – an allem war der Islam schuld. [Schon vorher hatte der 2002 ermordete Politiker Pim Fortuyn den Islam als »zurückgebliebene Religion« bezeichnet.] Die Linke habe zu lange zu viel schöngeredet. Die multikulturelle Gesellschaft sei eine Farce. Auch die Niederländer müssten besser wissen, wer sie eigentlich seien. Akademiker entwickelten einen literarischen und historischen Kanon. Bücher und Fakten, die man als Niederländer zu kennen habe. Städte schlossen sich an. Und die Bibel wurde in Twenter Dialekt übersetzt. Not lehrt beten.
Ich beobachtete das alles – aus der Distanz, von meiner Mansarde aus, fünfter Stock, über den
Zinkdächern von Paris. Meine neue Stadt verweigerte den Kopftüchern den Zutritt zu öffentlichen Gebäuden. Die Burka wurde verboten und ich sah an Freitagnachmittagen Hunderte von Männern auf der Rue de la Poissonnière beten, weil der Bau von Moscheen bürokratisch verschleppt wurde.
Nach Fortuyn bekamen die Niederlande eine neue Partei mit einem einzigen Programmpunkt: dem Islam. Mit einem Schlag wurde sie zur zweitgrößten Partei des Landes. Nein, ich nenne den Namen des blond gefärbten Führers nicht.
Und dann kam die Finanzkrise. Banken gerieten ins Wanken. Offenbar hielten sich nicht alle Länder an die finanziellen Vorschriften. Die Portugiesen, die Italiener, Griechen, Spanier. Die PIGS. Die Knoblauchländer. Der Euro steht schwer unter Druck. Unsere Renten drohen sich in Luft aufzulösen! Brüssel fordert Geld und Solidarität von den nördlichen Ländern. Der niederländische Staat bürgt, aber die Bürger murren. Der große blonde Führer fand einen neuen Buhmann: Brüssel. Kein Cent mehr für die Knoblauchfresser! Wir wollen unseren Gulden wieder haben! Macht die Grenzen zu! [Und der Islam kam auf die Reservebank.]
Nicht nur äußerst rechts, auch äußerst links fängt man jetzt mit einem Anti-Europa-Programm Stimmen. Laut Wahlprognose werden die zwei größten politischen Parteien in den Niederlanden antieuropäisch sein. Die Niederlande verrammeln ihre Fenster. Erst mal sind wir dran! Die Niederlande den Niederländern!
Ich habe auch einen Traum: den vom Ende des Nationalstaats. Der Nationalstaat, der gerade jetzt mit so viel Wehmut und Romantik besungen wird. [Der Historiker H. W. von der Dunk schrieb am 5. Juli 2012 darüber im »NRC Handelsblad«.]. Der Nationalstaat ist auch nur eine Konstruktion, oftmals von oben auferlegt, häufig nach blutigen Kämpfen und auf Kosten regionaler Identitäten und Dialekte wie Friesisch, Bretonisch, Katalanisch und Baskisch. (Es ist übrigens zu beobachten, dass in einem vereinten Europa das Interesse an diesen Sprachen wieder auflebt.] Nationalgefühl ist angelernt, wie intensiv es auch erfahren wird. Ist die Verherrlichung des Nationalstaats nicht ein Aufbäumen, ein letzter Widerstand gegen die Folgen von Migration und Globalisierung? Nationale Gefühle gehen durch das Ende des Nationalstaats nicht verloren, dafür wurden Fußballstadien gebaut und auch die Welt des Internets bietet dafür Raum. Dasselbe Internet, das unsere Grenzen verwischt. Auch Kultur ist oft grenzüberschreitend. Literatur kann größer sein als eine einzige Sprache. Ibsen ist größer als Norwegen. Beethoven gehört uns allen. Europäer haben ein gemeinsames kulturelles Erbe.
Mehrstaatlichkeit ist meine Identität. Ich glaube an Vermischung und Verfärbung. Und wer nicht
daran glaubt, muss die Augen weiter aufmachen. Das multikulturelle Europa ist schon längst ein Fakt, ob es uns nun passt oder nicht. Auch die Migranten, die heute noch ein eingefrorenes Bild von ihrem Land im Kopf haben und ihre Satellitenschüsseln auf antike Anschauungen richten, werden nach drei, vier Generationen Europäer sein. Migranten wissen, was Diskriminierung ist. Ihre Zuflucht muss größer sein als ein einziges Land. Ein Land ist zu verwundbar, ein einziger unberechenbarer Machthaber kann ein ganzes Volk zwingen, sich zu beugen. Sehen Sie nur, wie sich halb Holland verbeugt. Allein ein mehrstaatliches Europa kann Schutz bieten. Natürlich tut die Transformation weh. Und sie wird viel kosten. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Vaarwel Nederland. Auf Wiedersehen Deutschland. Au revoir France. Hallo Europa. Erst jetzt wird mir bewusst: Nicht Huizingas offene Niederlande haben aus mir einen Europäer gemacht, sondern die dumpfen, zagenden Niederlande. Ich sehne mich nach frischem Wind. Europa ist für mich zur Lebensnotwendigkeit geworden. Wann kann ich meinen Pass abholen?
Postskriptum
Was ist Europa? Früher, vor 1989, hatte man ein freies Westeuropa und ein unfreies Osteuropa, aber diese übersichtliche Zweiteilung ist zeitgleich mit der Mauer verschwunden. Ost und West haben sich neu erfunden, aber bilden wir heute die Vereinigten Staaten von Europa? Haben wir, genau genommen, genug Gemeinsamkeiten? Und wie groß soll das neue Europa werden? Noch größer als die jetzigen 27 [und in zwei Jahren 28] Staaten? Gehört die Türkei dazu? Für den Europarat und für die NATO ist das Pufferland offenbar gut genug, aber gehört sie auch zum aufgeklärten Westen? Komplexe Fragen. Je größer, desto stärker, scheint mir. Mein Europa ist eine Föderation eigenwilliger Länder, in denen kulturelle Traditionen gedeihen können, mit einem direkt gewählten Parlament und einer direkt gewählten Regierung. Einheit ist nicht dasselbe wie Uniformität.

 

[Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas]

© Adriaan van Dis, ilb.de

 

*1946, studierte in Amsterdam, arbeitete als Journalist und Moderator einer eigenen Fernsehshow. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen und Drehbücher und erhielt einige renommierte Preise. Werke u.a.: Indische Dünen (Roman, 1997), Palmwein oder Die Liebe zu Afrika (2000), Doppelliebe. Geschichte eines jungen Mannes (Roman, 2004) und Ein feiner Herr und ein armer Hund (Roman, 2009)

 



 

Pedro Rosa Mendes - Träumend an Europas Tür

  

 

Ende der siebziger Jahre war »Europa« ein Haus mit vorhersehbaren Gewohnheiten beziehungsweise festen Öffnungszeiten. Wenn ich mich recht erinnere, schloss es seine Tore um 10 Uhr abends und öffnete sie erneut um 6 Uhr morgens. Zumindest als Kind hatte ich diesen Eindruck, bestätigt durch die Nächte, die wir im Niemandsland zwischen dem Zoll von Vilar Formoso und Fuentes de Oñoro verbrachten, dem Hauptgrenzübergang zwischen Portugal und Spanien. »Europa« war verbunden mit dieser diffusen Zeit: der Zeit des Wartens. Damals wartete man zugleich auf den Morgen und das Morgen. Das Morgen und die Grenze verschmolzen miteinander, wurden zu einer Art Schwelle, einem Ort, weder innen noch außen, da er genau jenes unsichtbare Gebiet des Hindurchs ist. In diesen unterbewussten Zuständen wohnen die Träume. Ich komme aus einem Land, in dem die Grenze vor noch nicht allzu langer Zeit [der Zeit meiner Eltern] ein existenzielles Thema war: springen oder bleiben, springen oder sterben, springen oder verzichten?

 

Die Zeit meiner Kindheit und Jugend war ein kurzes Hindurch in einer neunhundertjährigen Geschichte, eine diffuse Passage zwischen zwei Abkürzungen, dem PREC1 und der EWG. Ich gehöre der Generation an, die in Portugal weder die Mutter noch das Kind der Demokratie ist. 1968, unter der Diktatur, geboren, kam ich 1974, im Jahr der Nelkenrevolution, in die Schule und begann 1986, im Jahr von Portugals Beitritt zur Europäischen Union, mein Universitätsstudium. Historisch gesehen hat meine Generation nichts zuwege gebracht, obgleich sie mit allem gesegnet ist: mit Freiheit, Demokratie und Wohlstand – kurz gesagt, mit »Europa«. Mit diesen Segnungen bestens versehen, stellen wir uns selten oder so gut wie nie die Frage, ob Portugal sich nicht vielleicht besser aus der Affäre hätte ziehen können.
Hindurch ist kein Ort und zugleich die Möglichkeit aller Orte: eine Hoffnung, eine Prophezeiung, eine Lüge. Man ist noch nicht dort, aber dort ist schon hier. Es ist ein Schlaf und ein Unterbrechen dieses Schlafes, die Schwelle zwischen Traum und Bewusstsein. Auf den Rücksitz unseres Wagens gekuschelt, fuhr ich manchmal so verwirrt aus dem Schlaf hoch wie jemand, der beim Aufwachen nicht gleich weiß, wo er sich befindet, – Sind wir schon da?
draußen war es dunkel, bis auf die Neonlichter der Läden, in denen man Karamellbonbons und Sevillapuppen kaufen konnte und aus denen mein Vater mit Chorizo, Serranoschinken, anderen »Tapas« und einer Flasche Orangeade Marke La Casera zurückkam,
– Noch nicht, träum noch ein bisschen,
hinter uns stauten sich die Wagen in einer langen Schlange, irgendwo vor uns befand sich der
Zollposten, wo im brenzligsten Moment der Reise, nämlich wenn es zurück nach Hause ging, ein Mann in Uniform, dessen Beruf das Misstrauen war, in jeden Wagen hineinfragte:
– Etwas zu verzollen?
ja, was könnte es denn zu verzollen geben, Herr Zollwachtmeister, eine Flasche Whiskey?, ein tragbares Tonbandgerät?, eine Kaffeemaschine?, unbedeutende Luxusartikel, erstanden auf einem der obligaten Streifzüge durch die Läden von Andorra,
– Wir waren mit dem Jungen in einer Klinik in Barcelona.
ja, was könnte es denn geben im Auto einer Familie der Mittelklasse?, keine Mittelklasse in Europa, sondern in Portugal, mittelmäßig besorgt, mittelmäßig ärztlich versorgt, mittelmäßig ehrfurchtsvoll, was an »Schmuggelware« könnte es geben?
Die Grenze war ein Filter. In welcher Richtung man sie auch passierte, hier fuhr »Europa« durch, auf diesem Asphaltstreifen zwischen Beira-a-Pobre und Castela-a-Velha, wo das Esperanto der Identifi- kationszeichen TIR an den Lastwagen eine prosaische, aber deutliche Vorstellung von freiem Warenverkehr verwirklichte. Diese Vorstellung von zirkulierender Freiheit war ein »singendes«, nahezu ideologisches Morgen in einem ewig armen Land, das noch immer nicht lesen und schreiben konnte und noch immer in der Klemme steckte, ein low-cost Vaterland, das sich eben erst – gezwungenermaßen und hastig – seines Kolonialreiches und seiner Diktatur entledigt hatte. Das portugiesische Kolonialreich besteht erst seit Kurzem nicht mehr. Seit vorgestern. Seit so kurzer Zeit, dass Portugal bisher noch keine Zeit fand, zu begreifen, was es bedeutet, in »Europa« zu sein. Oder besser, dass es sich mit falscher Leichtigkeit in »Europa« integrierte: Seit Gründung der NATO war es bereits im »Atlantik« und musste »Afrika« daher auch nur abstoßen [dieses ewige Laster imaginärer Geografien, vielleicht ein imperialer Reflex, alles ist generisch, nichts ist konkret und nur wenig genau], um erneut »seinen historisch angestammten Platz« auf dem Kontinent einzunehmen [das erzählen sie uns als Kindern und selbst noch als Erwachsenen]. »Europa« war eine einfache Reise. Portugal war ein Erfolg, es entwickelte sich zum Musterschüler Brüssels. Oder etwa nicht? Plötzlich ein Scherbenhaufen, aus der Traum. Das Land ist zahlungsunfähig, mit einem Mal ist von einer schwachen Produktionsstruktur die Rede, einer absurd hohen Verschuldung der privaten Haushalte, einem schwerfälligen Beamtenapparat, von wirtschaftlichen Indikatoren und einem sozialen Ungleichgewicht, das die Wirtschaftswissenschaftler als »auf dem Niveau eines Entwicklungslandes« einstufen.
– Etwas zu verzollen?
jetzt wird der IWF gerufen, die Regierung macht, von der Troika legitimiert, die Konterrevolution
– Sind wir schon da?
und die von der »Krise« legitimierte Troika, Staat und Troika im Verbund, antwortet in einem Kreuzzug von Steuer- und Arbeitsterror, besessen von der Notwendigkeit »einzusparen«, um jeden Preis »einzusparen«.
– Noch nicht, träum noch ein bisschen.
Der Sofortkredite beraubt und mit der Schwäche der Realwirtschaft des »europäischen Musterschülers« konfrontiert, entdecken die Lusitaner, wie mir ein Freund bei der Investmentbank sagte, »das ein portugiesischer Euro nicht denselben Wert besitzt wie ein deutscher Euro«. Und als wäre dies nicht schon genug, fordern unsere Regierenden die Portugiesen auch noch offen zur Emigration auf.
All dies ist schockierend für ein Volk, das glaubte, es sei kein Auswandererland mehr, und das, während es seinen Mythos vom Neureichen unter den Armen nährte, letztlich nicht das Notwendige unternahm, damit wir aufhören zu sein, was wir fraglos sind, nämlich der »Altarme« unter den Reichen.
Die öffentliche Debatte forderte, während der goldenen Jahre der Strukturfonds und der »Konvergenz«, eine Identifikation mit »Europa«; der Erfolg verbarg die schockierende Tatsache der Abwanderung von Portugiesen aus ihrem Land. Aber die Zahlen der Bank von Portugal waren für den, der lesen wollte, immer einsehbar: Die letzte Generation portugiesischer Auswanderer [insbesondere derer nach »Europa« oder genauer nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz] schickte Beträge in Höhe des jährlichen portugiesischen Inlandsprodukts in ihre Heimat. Jetzt ist der Aderlass der Emigration zumindest sichtbar und dem, der noch daran zweifelt, empfehle ich aus pädagogischen Gründen einen morgendlichen Ausflug in die Pariser Banlieue, damit er all die Kombis von Familienunternehmen zählen kann, die »Fensterrahmen und Aluminiumteile«, »Reparaturen am Haus« oder »Maurer- und Putzarbeiten« anbieten, die Kennzeichen – und die Reklameschilder! – noch immer portugiesisch. 2011 haben 120 000 Portugiesen ihr Land verlassen. Die Portugiesen, die über eine qualifizierte Ausbildung verfügen – eine goldene Generation mit dem höchsten Bildungsgrad, den es je in der portugiesischen Geschichte gab –, gehen nach London, Paris oder Genf. Sie versuchen in »Europa« jene kritische Masse zu verkaufen, von der sie in ihrem eigenen Land keinen Gebrauch machen können. Einem Land, in dem heute zum Beispiel 500 Euro ein großzügiges Arbeitsangebot für einen jungen Architekten darstellen.
Portugal ist kein Krisenland, sondern ein Land, in dem einiges nicht stimmt, wo die Zurschaustellung über die Würde siegt und das Strebertum fast immer über den Anspruch. Aus einer kürzlich erstellten Analyse von Stellenanzeigen ging hervor, dass ein Schlosser oder ein Klempner mehr verdienen kann als ein Ingenieur. Man kam sogar zu dem Schluss, dass Stellenbewerber, um ihre Chancen zu verbessern, ihre Kenntnisse und Qualifikationen verbergen. Tragischerweise setzt sich die Überzeugung fest, dass »studieren zu nichts nützte ist« in einem Land, das mit Analphabetentum und einem ausgeprägten Mangel an Bildung zu kämpfen hat.
An der anderen Front der Fluchtbewegung aus diesem geografischen Rechteck, das sich von »Europa« entfernt, zieht eine Schar von Arbeitslosen der geplatzten Baublase und der Billiglohnsektoren nach Süden Richtung Angola. Von Angola, dem ehemaligen »Schmuckstück der portugiesischen Krone«, sagt die Propaganda beider Länder, es sei ein Land der »günstigen Gelegenheiten«. Das entspricht der Wahrheit für den, der keine Skrupel hat. Was man aber in den Medien von Luanda, Lissabon und »Europa« verschweigt, das oft nicht einmal weiß, wo dieses Land überhaupt liegt, ist die Tatsache, dass es in Angola kein sauberes Geld gibt und dass jede »Investition«, die man dort tätigt, eine direkte oder indirekte Geldwäsche ist. Um den mutigen angolanischen Rapper MCK mit seinem wunderbaren Gedicht, das genau diesen Sachverhalt thematisiert, zu zitieren: »Im Land von Papa Banana haben sie aus dem Elend ein einträgliches Geschäft gemacht.« Angola ist heute ein Circus Maximus neuer kolonialer Ausbeutung in einem Projekt des Raubtierkapitalismus unter der Ägide eines stalinistisch geprägten Regimes. Die Ausbeutung dieses luso-tropischen Binoms aber hat sich ins Gegenteil verkehrt und dazu geführt, dass die Geschichte sich rächt. Die Söhne und Enkel der portugiesischen Kolonisten sind heute – in Werften, Steinbrüchen und im Baugewerbe – die Halbsklaven der Nachkommen der vormaligen »Eingeborenen« und »Assimilierten« aus der »Überseeprovinz«, Salazars ganzer Stolz.
Aber Angola ist nicht nur das Ziel unserer Billigkräfte. Nach einem vierzig Jahre währenden Ausflug nach »Europa« steht das demokratische Portugal heute genau dort, wo sich das Portugal der Perestroika Marcello Caetanos befand, des Thronfolgers Salazars, der das Land in einer längst vergangenen Zeit festzuhalten suchte. Portugal, und dies ist eine schmerzliche Feststellung, ist ohne Angola nicht lebensfähig, was wiederum, wie in den siebziger Jahren, die Frage nach der Souveränität aufwirft, diesmal nicht mehr der Angolas, sondern der unseren. Aus Luanda kommt seit einigen Jahren der Zustrom von Kapital und Investitionen – besagte »günstigen Gelegenheiten« –, der Portugal auf »europäischem« Minimalniveau hält, ohne dass Portugal ehrlicherweise Schiffbruch bekennen müsste. Im Gegenzug muss Portugal die zunehmende Kontrolle durch angolanische Interessen akzeptieren, und zwar in so lebenswichtigen Bereichen wie dem Bankenwesen, der Energiewirtschaft und, hélas!, dem Handel und den Medien. Das Versagen von Portugal in Europa sowie umgekehrt das Versagen von Europa in Portugal lässt sich nicht nur und auch nicht vor allem aus dem Fehlen von wirtschaftlich-sozialer Konvergenz ableiten, sondern auch aus dem Fehlen einer moralischen und ethischen Konvergenz in der politischen Praxis und in der Zivilkultur. »Europa« erlaubt an seiner Südflanke ein gewisses Maß an politischer Korruption, schlechter Regierungsführung und täglicher antidemo kratischer Praktiken und erachtet für normal, was in den Ländern des Nordens – oder selbst des Ostens – niemals ungeahndet bliebe. Dies ist eine Art schlecht bemäntelter Willfährigkeit von jemandem, der in den achtziger und neunziger Jahren, in Brüssel Paris oder Bonn, nicht verstand, weil er es nicht wollte, den gebührenden Einfluss auf die aufsteigenden politischen Klassen auszuüben, die ihre Klientel aufbauten und finanzierten, indem sie die »Kohäsionsfonds« verteilten und verschleuderten, und zwar zugunsten eines Entwicklungsmodells, das sich nie von dem entfernte, was in dieser Zeit für die »Großen« des »europäischen Projekts« von Vorteil war.
Dies ist übrigens eine für »Europa« durchaus vorteilhafte Amnesie. It’s the history, stupid: Portugal hat nicht zu »Europa« gefunden, als es sollte und konnte, da »Europa« und »Amerika«, mit anderen Worten die westlichen Demokratien, nach 1945 der Ansicht waren, dass es sich letztlich nicht lohne, zu viel Druck auf Salazar [und Franco] auszuüben. Die großen Protagonisten des »europäischen Projekts« und der Atlantischen Allianz erachteten es als akzeptabel, dass Portugiesen [sowie Spanier und Griechen] weiterhin unter protofaschistischen Regimen lebten, unter der Zwangsherrschaft von Gewalt und Unwissen, die sie für ihre eigenen Völker nie geduldet hätten. Der Diskurs, den wir heute hören, diffus, aber zunehmend mutiger, der Diskurs eines europäischen Mezzogiorno, geführt von Anrainern eines Mittelmeers, das den Maghreb letztendlich auf beiden Seiten hat, ist nur das jüngste Echo der alten Strategien und eine schräge Vorstellung der ehrenwerten Führer von »Europa«. Diese Väter der »europäischen Integration« gehören zu denen, die bewusst Regime wie den portugiesischen Estado Novo haben fortbestehen lassen, für die unser Volk einen unermesslich hohen Preis zahlen musste – historisch als Kollektiv und biologisch als Individuen.
Die demokratische Konsolidierung im Herzen »Europas« – eine Zeit des Friedens und somit eine Zeit der Saat und der Ernte – wurde zum Teil mit dem Zins der Totalisierung mehrerer Länder an der Peripherie bezahlt, einschließlich des Landes, in dem ich geboren wurde. »Europa«, das schnell urteilt und brandmarkt, sollte nicht vergessen, dass es, bevor es [wie man uns heute sagt] die »Integration« Portugals bezahlte, dessen Ausgrenzung befördert und davon profitiert hat. Auf unterschiedlichste Art und Weise, einschließlich derer, die niemand zugeben will: Bei einem Streifzug, den ich vor Kurzem durch die sowjetischen Archive in Moskau im Rahmen einer akademischen Arbeit über die Afrikapolitik des ehemaligen Warschauer Paktes unternommen habe, stieß ich wiederholt auf Hinweise für den ruhmreichen Beitrag der BRD zu den Kriegsanstrengungen Portugals in Afrika … Nichts ist umsonst im Leben. Der Kalte Krieg hatte einen zweiten Eisernen Vorhang nach Westen, und zwar in den Pyrenäen: den Eisernen Vorhang der Reaktion, symmetrisch zu dem Eisernen Vorhang der Revolution im Osten. Und wenn sich der Übergang auf der Iberischen Halbinsel nicht, wie auf dem Balkan, in einer sichtbaren Explosion vollzog, ist das in erster Linie auf endogene Faktoren und eine überraschende Reife der beteiligten gesellschaftlichen Kräfte zurückzuführen. Die für jeden Portugiesen unangenehme Wahrheit ist: Wir müssen uns heute von Leuten Lektionen in Haushaltsführung anhören, die es nicht verstanden, uns zu gegebener Zeit Lektionen in Freiheit zu erteilen.
Von der Reise durch Spanien vor dreißig Jahren habe ich zwischen Lérida/Lleida und Ciudad Rodrigo eine trostlose Landschaft von kleinen Städten mit ärmlichen Ziegelbauten und eine triste Hochebene aus dicht aufeinanderfolgenden, verschlafenen pueblos wie in einem Western in Erinnerung. Ein befremdlicher Eindruck: Spanien im Westen von Katalonien eine Wüste. Wer kannte schon Valladolid? Wo lag Zaragoza? … Auf der portugiesischen Seite war das Land trotz der seit Generationen ländlichen Rückständigkeit der Beiras [einer zentralen Region Portugals] besiedelt und produktiv, ein bevölkerungsreicher Gürtel im Grenzbereich, seit Jahrhunderten – von der christlichen Reconquista an – wirtschaftlich genutzt, mit alten Industriezentren wie dem Textilstandort Covilhã, dem »portugiesischen Manchester« [einer meiner Großväter war Lumpensammler, das heißt. er lieferte den großen Wollfabriken Stoffabfälle als Rohmaterial]. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals Olivenöl, Honig oder Käse gekauft hätten. All das kam von den kleinen Parzellen der Familie. Meine Großeltern haben ihre Minifundien bearbeitet, bis sie starben. Und ich habe gelernt, mit der Hacke umzugehen, noch bevor ich lesen und schreiben lernte. Güter des täglichen Bedarfs wurden zu Hause oder innerhalb des Dorfes hergestellt.
Die von »Europa« finanzierte und vorgezeichnete »Entwicklung«, die im Küstengebiet unseres Landes Kristallkugeln produziert, dem Aushängeschild für die portugiesische Modernität, hat diese ländliche Welt Stück um Stück zerstört. Sie hat dies auf eine perverse Art bewerkstelligt, durch Subventionen, Quoten, »Anreize« zum Anbau von was auch immer, jedes Jahr etwas anderes [Tabak, wo Weinreben standen, Kiwis, wo es Olivenhaine gab, und Eukalyptus, wo Pinien wuchsen …], bis schließlich die Kombination von Wirtschaftspolitik und Missmanagement der Behörden vor Ort das Landesinnere entvölkerte und neuen Blutes beraubte. Und das Motiv für all die »Anreize«? Die Bedürfnisse des Räderwerks der Gemeinsamen Agrarpolitik [GAP], die zum Vorteil der industriellen Landwirtschaft von »Europa« nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein kulturelles Ökosystem zerstört und ein melan cholisch stimmendes Szenarium mit Golfplätzen und Jagdrevieren aus ihm gemacht hat. Ein unersetzlicher Verlust, eine anthropologische Erosion. Um diesen Kontrast zu verdeutlichen: In Deutschland zum Beispiel gibt es Tabuwörter, die Dinge benennen, die niemand vergessen darf, das Wörterbuch der portugiesischen Sprache hingegen ist voller Wörter, die immer weniger Leute kennen. Sie benennen Gegenstände und Tätigkeiten eines entvölkerten [und nicht etwa verödeten] Universums: die ländliche Welt. Was bedeutet das Verb jäten? Was das Substantiv Gewann? Meine Eltern redeten mit mir in einer Sprache, die ich mit meinen Töchtern bereits nicht mehr sprechen kann, da eine ganze auf dem Land geborene Generation auf ihrer europäischen Reise in die Städte an der Küste abgewandert ist. Ich erinnere ich mich noch daran, in meinem Schlaf, hinter Vilar Formoso, hinter dem Zollposten:
– Etwas zu verzollen?
der letzte Teil der Reise, bis Beira Baixa waren es nur noch wenige Stunden, verlief ausgelassen und heiter, Erleichterung lag in der Luft, und es kam mir vor, als glitte unser Opel Kadett Caravan auf der Gegenspur zu Europa schneller dahin. Eines Tages fragte ich meinen Vater, warum er nicht fortgegangen sei, warum er nicht, wie man sagte, den Sprung gewagt habe, mit anderen Worten, aus dem Land von Salazar geflohen sei,
– Sind wir schon da?
rechtzeitig, um nicht nach Afrika in den Krieg ziehen zu müssen,
– Etwas zu verzollen?
rechtzeitig, um vielleicht zu studieren und nicht nur seine Ausbildung zum Volksschullehrer zu machen,
rechtzeitig, um in »Europa« zu leben und nicht in der Mittelmäßigkeit,
– Noch nicht, träum noch ein bisschen.
aber er hat nicht geantwortet und ich habe nie mehr gefragt. Bis heute habe ich das Gefühl, ich habe ihn verletzt. Oder aber er war es, der mich nicht verletzen wollte. Mit anderen Worten: Seine Generation muss die letzte in Portugal gewesen sein, die »ins Ausland gehen« nicht von Fahnenflucht unterscheiden konnte. Deshalb blieb mein Vater auf der Schwelle. Ich hingegen habe es gelernt. Anderes habe ich »Europa« nicht zu verdanken.
Genf, Juli 2012
[Übersetzt aus dem Portugiesischen von Inés Koebel]
© Pedro Rosa Mendes, ilb.de

Pedro Rosa Mendes, * 04.08.1968 in Cernache do Bomjardim, Portugal, ist ein bedeutender portugiesischer Reiseschriftsteller und Journalist. Seine Reisen führten ihn vor allem nach Afrika und dort in die ehemaligen portugiesischen Kolonien. Er versucht, Vorurteile abzubauen und Afrika in seiner Gesamtheit und Vielfalt zu zeigen. Seine Bücher lassen sich keiner direkten literarischen Gattung (Abenteuerroman, Reiseliteratur etc.) zuordnen, er verbindet Fiktion und Realität zu einer fiktionalen Realität, Gegenwart und Vergangenheit sind jedoch immer kenntlich. Als Vermittler der Welten sieht er sich als ein kosmopolitischer Träger des positiven Erbes der portugiesischen Kultur. Gemeinsam mit dem Fotojournalisten Wolf Böwig arbeitet er an Dokumentationen über die Krisengebiete West- und Zentralafrikas. Ihre Reportage Schwarz.Licht (2006) wurde u.a. für den Pulitzer-Preis nominiert. Er lebt in Lissabon.
Werke: O melhor Cafe - Das beste Café, Kurzgeschichten, 1996; Baia dos Tigres - Bucht der Tiger, Essayroman und Reisereflektionen, 1999 (dt.: Amman Verlag 2001); Lenin Oil, Roman, 2000; Ilhas de Fogo - Feuerinseln, 2002, Soziologische Betrachtungen; Atlantico, Roman, 2003; Madre Cacau -Timor, Erzählungen, 2004; Mano - War and Survival in West-Africa, 2006, (Deutsch: Schwarz.Licht, Passagen durch Westafrika, 2006 bei Brandes und Apsel-Verlag).; Emmanuel Jhesus, Essays über Ost-Timor, 2010.

 


Ostap Slyvynky - Kino Polonia
 

 

Das erste Buch meines Lebens war das polnische »elementarz«, die ABC-Fibel.Ich weiß bis heute nicht genau, warum es so kam. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen. Meine Eltern hatten keine besondere Affinität zu Polen. Ganz und gar nicht. Es gab keine Polen in der Familie, zumindest weiß niemand etwas davon. Deshalb ist dieser Auftritt der polnischen ABC-Fibel eher als ein Kunststückchen für Gäste einzuordnen. Wenn während eines Festessens der richtige Moment kam [die ersten Wodkagläser geleert, die ersten Salate verzehrt und die Gäste bereit für eine Show], gab mir der Vater ein Buch in die Hand, ich kletterte auf einen Hocker [na gut, einen Hocker gab es nicht, das ist ein Klischee aus dem kollektiven Bewusstsein] und ich las, stotternd, die Silben dehnend und purpurrot im Gesicht, vor:
Na tym placu jest kino.
Ala i mama idą do kina.
Nad kinem jest napis.
KINO POLONIA.
Ich las bis zu diesen Worten, die ich nicht verstand, dann lief ich unter dem zustimmenden Schnalzen und dem Applaus der Gäste aus dem Zimmer. Der Nimbus eines Wunderkindes leuchtete über meinem Kopf auf wie eine Girlande am Weihnachtsbaum. Ich glaube, kein einziger Gast wäre auf den Gedanken gekommen, dass dieser Kleine noch nicht mal die Kyrilliza, das kyrillische Alphabet, beherrscht.
Mein Vater strahlte. Er schaffte es, alle auszutricksen. Außer meiner Mutter, versteht sich, die Bescheid wusste, aber solidarisch schwieg.Alle, das heißt nicht nur die beschwipsten Gäste. Das wäre kein Grund zum Strahlen. Alle heißt alle.Ich denke, dass man in der Sowjetunion des Jahres 1983 glaubte, dass all das noch über Generationen hinweg so weitergehen würde. Ich kann mir diesen Zustand von Halb-Leben im Wasser eines abgestandenen Tümpels schwer vorstellen: Eine Apathie, aus der man nur gelegentlich durch einen Funken Freude – einen Funken, den man dank besonderer Fertigkeiten schlagen kann – zeitweilig herausgerissen wird.
Eine neue Jeanshose, ein Ferienscheck nach Bulgarien konnten einem ein solches Fest bereiten. Auch wenn mein Vater diese Freude bei seinen Familienmitgliedern schweigend und skeptisch zur Kenntnis nahm: Der Kult des Materiellen, der unter den Bedingungen des totalen Defizits üppig aufblühte, bereitete ihm großes moralische Leid. Sein Interesse galt ausschließlich Büchern.
Kürzlich hat jemand gesagt, dass die Sowjetunion unsinnigerweise das Image des Landes habe, indem am meisten gelesen wurde. Nicht, weil man nicht gelesen hätte, sondern, weil das Gelesene im Nirgendwo versickerte, wie Wasser im trockenen Sand. Man las, weil man nichts zu tun hatte. Man wollte doch nicht Stunden um Stunden untätig in stumpfsinnigen staatlichen Büros hocken. Also hat man gelesen. Und wenn du liest, um die Zeit totzuschlagen, dann ist es eigentlich egal, was du liest, ob Gorki oder Conan Doyle. Dabei spielte auch das standardisierte Design sowjetischer Möbel eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es waren normalerweise zwei Regale vorgesehen, eins für Kristallglas und eins für Bücher. Viele solcher Schränke sind heute mit Büchern aus den siebziger und achtziger Jahren vollgestellt, in denen niemals geblättert wurde. Ich habe es gesehen.
Es gab, natürlich, auch eine Antithese: Die Kaste der Jünger von Márquez, Borges, Hesse, Yi Jing, die unter der Hand völlig zerlesene Bücher weiterreichten und nachts Texte von jungen rebellischen Poeten und ermordeten Klassikern auf ihren Schreibmaschinen abtippten. Einer von ihnen wurde  nach dem Zerfall der Sowjetunion Verkäufer auf dem Büchermarkt, einer ein öffentlicher Intellektueller, ein dritter sitzt im Parlament. In der Sowjetzeit erkannten sie einander an einem kaum sichtbaren nervösen Leuchten über dem Scheitel. Es galt die Regel, nicht anzuhalten und sich nicht zu grüßen, solange man sich ohne Deckung auf freiem Feld bewegte.
Mein Vater gehörte in dieser Zeit weder zu den einen noch zu den anderen. Er hat nicht Gorki gelesen, gehörte aber auch nicht zum Kreis von Lesern, die Bücher weitergaben. Er hatte sein eigenes Projekt. Er baute Europa. Aus Büchern.
Das war weder einfach noch schwierig. Es verlangte Ausdauer und Regelmäßigkeit. Beinahe wöchentlich ging mein Vater in die Buchhandlung »Druschba« neben dem Brunnen am Mickiewiczplatz. Dort wurden Bücher in den Sprachen befreundeter sozialistischer Länder verkauft. Er brachte jedes Mal etwas Neues mit und bereitete sich innerlich auf den Küchenkampf mit Familienangehörigen vor, die letzte Bereiche ihres Territoriums vor dem Angriff der Bücher verteidigten. Manchmal waren es ganze Buchreihen, wie zum Beispiel kleine Bände ausländischer Prosa in markanten einfarbigen Umschlägen mit der Nike von Samothrake auf dem Cover. Oder schwarze Bände von Existentialisten, die mit Imitationen einer Druckerschrift geschmückt waren. Ab und zu brachte mein Vater ein besonderes Geschenk für mich mit: einen Bildatlas des menschlichen Körpers unter dem Titel »Merkwürdige Maschine« oder ein Album mit Luftschiffen, angeführt von der »Hindenburg«. All das gab es in polnischen Übersetzungen. Das Beste gab es damals in polnischen Übersetzungen.
Sogar den Tschechen Hrabal gab es nur auf Polnisch. Polen verdarb die Reinheit des kommunistischen Experiments in Osteuropa, blieb aber trotzdem »befreundet«. Deshalb durften polnische Bücher in sowjetischen Buchhandlungen nicht fehlen, auch wenn sie nur in »spezialisierten« Geschäften geführt wurden. Ich war sicher ein Teil des Projektes meines Vaters.
Mehr sogar, mir scheint, er realisierte es für mich. Er hat selbst nicht viel davon gelesen, weil er zu der seltenen Sorte der Menschen in der Sowjetunion gehörte, denen Zeit zum Lesen fehlte. Bücher kaufen, das Kind vom Kindergarten abholen, ihm Polnisch beibringen: Darin bestand sein stilles Dissidententum. Allerdings, als die Sowjetunion zusammenbrach, hat mein Vater nie die Möglichkeit wahrgenommen, über die westliche Grenze der Ukraine hinauszukommen. Auch nicht nach Polen, obwohl er die Sprache perfekt beherrschte. In den neunziger Jahren konnte man als ehemaliger Sowjetbürger einfach mit einem Reisepass nach Polen fahren, wenn man Lust dazu hatte. Er hat nie einen Reisepass besessen, bis heute nicht. Sein Europa war aus Papier. In einem Dutzend Bücherregale.
Er hat es selber aufgebaut, so wie er es wollte.
Das heutige ukrainische »Europa« besteht aus Papier und Pappe, es ist zusammengebastelt aus den Buchstaben offizieller Erklärungen zur »Europäischen Wahl«, die jahrelang nach demselben Muster geschrieben wurden. Es besteht aus den Bannern der Wahlplakate, aus Transparenten und Second- handkleidung. Meinem Vater ist das gut gelungen. Er hat das Baumaterial sorgfältig ausgewählt.
Der polnische Dichter Adam Zagajewski schrieb 1984: »So existiert Europa in uns – als Europa der Vorstellungen, Illusionen, Hoffnungen, Wünsche ...« Diese Worte treffen auf die heutigen Ukrainer noch mehr zu als auf die Polen vor zwanzig Jahren. Ich würde nur auf das Wort »Illusionen« einen Ak zent setzen. Es ist erstaunlich, aber weder die Strapazen illegaler Arbeitsmigranten noch hinter der westlichen Grenze verschollene Verwandte, weder die Willkür europäischer Grenzer, Zöllner und anderer Funktionäre noch die bescheidenen Verdienste im Ausland oder all die geplatzten Träume sind imstande, bei den Ukrainern den Mythos »Europa« aufzulösen. Es ist eine Frage des Glaubens und man sollte sie in religiösen Kategorien betrachten. Nichts kann das rettende Licht des gelobten Landes verdüstern: Geodizee, »Rechtfertigung der Geografie«. Die vorhandenen Grenzen und der fehlende Alltagskomfort sollen die Ungläubigen nur auf die Probe stellen. Die Verheißung Europa erfüllt sich allein für diejenigen, die bis zum Ende durchhalten. So ist ein Glaube, der durch jede Verleugnung nur bestätigt wird. Es sei denn, die Ukraine wird einst selbst Europa.
Es ist nicht so, dass es in der Ukraine keine Gegenströmung zu dieser Religion gäbe. Es gibt, natürlich, auch den Glauben der »Antipoden«. Für sie ist Europa die Quelle alles sichtbaren und unsichtbaren Bösen. Und alles funktioniert genauso, nur umgekehrt: Jede europäische Wohltat wird als Tücke und als Versuch wahrgenommen, uns noch tiefer zu verstricken. Der postsowjetische Mensch ist ein tief mythisches, utopisches Wesen. Das Fundament einer totalitären Propaganda bildet die felsenfeste Überzeugung, dass das Unsichtbare real existiert. Ukrainer gewöhnten sich im Lauf der Jahrzehnte daran, das zu sehen, was es nicht gibt: insbesondere ein Europa, von dessen Existenz niemand außer ihnen etwas ahnt. Ein Europa, in dem sehnliche Wünsche in Erfüllung gehen. Oder ein Europa der bösen Absichten. Die Überzeugung, dass das Unsichtbare existiert, will missbraucht werden. Denn die unsichtbare Realität ist ein Bild, zu dem jeder hinzufügen kann, was er will, sie ist eine Art Idol aus Knete. »Der samtene Vorhang« an der Ostgrenze der EU wird immer dichter, man sieht kaum noch etwas. Die Ukraine rückte keinen einzigen Meter nach Osten, was viele bedauern, sie ist nach wie vor gleich hinter der Mauer, auf der anderen Seite. Ich male mir ein Bild aus, wie eine primitive Zeitungskarikatur: Eine Menschenmenge auf der Außenseite lauscht den Geräuschen hinter der Mauer, versucht etwas zu verstehen, es kommt zum Streit. Und wie so oft taucht in diesem Moment derjenige auf, der alles erklären kann, ein Typ im Anzug und mit Krawatte. Mit offiziellem Gesichtsausdruck greift er nach dem Megafon und interpretiert die undeutlichen Stimmen hinter der Mauer.
Ja, das ukrainische Europa ist ein gefälschter Geldschein, mit dem der Staat jedes Mal versucht, mit seinem Volk abzurechnen. Dem echten Europa würde er ihn auch gerne andrehen, doch dort wird dieser Schein vorsichtshalber nicht angenommen.
Um gerecht zu bleiben: Die neue Trennlinie Europas ist keine Linie, auf der der östliche Mythos über die europäische Realität die Oberhand gewinnt. Es ist eine Konfliktlinie zwischen verschiedenen Mythen. Dort findet der Zusammenstoß kalter und warmer Luftmassen statt, prallen Illusionen aufeinander, begegnen sich zwei fundamental unterschiedliche Stereotypien.
Ich habe einen Bekannten, der Literatur und Sendungen über Kriege, Konflikte und andere Katastrophen liebt. Er ist beinahe besessen davon. Sie können sagen, das ist ja nichts Besonderes, sondern eine klassische Form des Schlechte-Welt-Syndroms. Dennoch gibt es nicht so oft die Möglichkeit, so etwas aus der Nähe zu betrachten. Dieser Bekannte hat mir gestanden: Je näher die Katastrophe an hin heranrückt, desto mehr interessiert sie ihn. Der Krieg in Bosnien interessiert ihn mehr als der Krieg in Palästina und dieser mehr als Konflikte in Papua-Neuguinea. »Weißt du, ich glaube, es geht hier nicht um geografische, sondern um kulturelle Nähe«, versuchte ich mir die Maske eines Amateur-Psychoanalytikers aufzusetzen, »es interessiert dich, weil es an deine Welt erinnert und dir selbst so etwas theoretisch auch passieren kann.« – »Danke, dass du für mich Amerika entdeckt hast«, lachte der Bekannte. Nein, als Psychoanalytiker würde ich es nicht weit bringen.
Aber es scheint mir heute tatsächlich so zu sein, dass Europa am »Mean World Syndrom« leidet: Je mehr seine stabile Existenz infrage gestellt ist, desto düsterer werden äußere Katastrophen dargestellt, die eigentlich gar nicht bedrohlich sind. Es ist wie mit einem Gewitter, das draußen tobt und die häusliche Gemütlichkeit noch behaglicher erscheinen lässt. Das Beispiel Irak oder Afghanistan ist kein rechter Trost, weil dort alles anders ist. Dafür sind die Ukraine oder Albanien viel geeigneter. Diese Welt ist »vertraut anders«: ein Nachbar, der ständig hinter der Wand Lärm macht, ständig seine Möbel umstellt. Man ist gezwungen, ihm im Treppenhaus zu begegnen und seinen höflichen Gruß zu erwidern.
Der berüchtigte BBC-Film »Stadien des Hasses« über Rassismus und Xenophobie in Osteuropa, in welchem der Ex-Spieler der englischen Nationalmannschaft Sol Campbell an westliche Fans appelliert, nicht in die Ukraine zu fahren, weil man in einem Sarg zurückkehren könnte, oder Artikel des deutschen Journalisten Matthias Marburg in der »Bild am Sonntag«, in denen die Ukraine »Land der Prostituierten« genannt wird, sind nur zwei Beispiele für die Dämonisierung des barbarischen Nachbarn.
Diese Produktionen sind keine Lügen. Die BBC-Doku wurde nicht willkürlich geschnitten oder inszeniert, all das ist tatsächlich passiert. Der Artikel von Marburg ist aufgrund eines Gesprächs mit einer [?] ukrainischen Prostituierten entstanden, die berichtete, wie andere Frauen den Profis die Arbeit während der EM wegnehmen.
Es gab keine Lüge, es gab nur eine negative Auswahl von Fakten. Damit das Bild eintönig dunkel wird, ohne helle Streifen.Damit es furchterregend wird. Damit man sich hier nicht mehr fürchtet.
Die meisten Ukrainer wissen davon aber leider nichts. Davon, dass die Ukraine zu »diesem
europäischen Es geworden ist, sie ist die Angst, die nachts das schlafende Paris, London und Frankfurt am Main heimsucht« 1
Sie wissen nicht, was tatsächlich hinter der Mauer passiert. Weil die meisten nicht mehr verreisen.
Aber es findet sich immer jemand, der ihnen sagt, wie sie Europa zu lieben oder nicht zu lieben haben.Deshalb hat mein Vater wohl nicht die schlechteste von den schlechten Varianten gewählt. Er schaut sich seinen Film über Europa an, sein altertümliches »Kino Polonia«. Und niemand kann sich einmischen.
[Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriv]
1 Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 114 [Das Originalzitat bezieht sich auf Albanien; Anm. d. Ü.]

© Ostap Slyvynky, ilb.de

 

 

Ostap Slyvynsky, *1978 in Lwiw / Lemberg,Westukraine, ist Dichter, Übersetzer, Kritiker und Literaturwissenschaftler. Studium der Slawistik an der Universität von Lemberg, Promotion 2007 über das Phänomen der Stille in der Literatur. Dafür untersuchte er u.a. exemplarische Prosatexte bulgarischer Autoren der sechziger bis neunziger Jahre. Für das Projekt Letters to Miłosz verfasste er 2011 den Essay Ljudina u miszi vignannja (Ü: Menschen am Ort der Vertreibung). Mitherausgeber der polnisch-deutsch-ukrainischen Literaturzeitschrift Radar sowie einer Anthologie zeitgenössischer ukrainischer und belarussischer Literatur. Er schreibt für diverse Magazine, ist Dozent an der Universität Lemberg und wirkt an interdisziplinären Kunstprojekten mit. 2006 und 2007 organisierte er außerdem das Internationale Literaturfestival in Lwiw/Lemberg. Auszeichnungen für sein dichterisches Schaffen: 1997 - Bohdan-Ihor-Antonych-Literaturpreis, 2000 - Smoloskyp-Preis und 2009 - Hubert-Burda-Preis für junge Lyrik. 2007 - Gaststipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin, 2011 - Writer in Residence im quartier21/MQ in Wien. Er lebt in Lwiw/Lemberg.

Gedichtbände: Schertvoprinoschennja velikoj ribi, Lemberg1998; Poludneva linija, Chmelnyzkyj 2004; Mjatsch u pitmi, Kiew 2008; Ruchomy ogien’, Wrocław / Breslau 2009; Adam, Czernowitz, 2012 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 





 

 



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