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Aufruf und Zusammenfassung Überwachung 2013


Fünfhundertsechzig Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus der ganzen Welt, darunter fünf Literaturnobelpreisträger, protestieren mit einem internationalen Aufruf, der weltweit in über dreißig Zeitungen veröffentlicht wird, gegen die systematische Überwachung im Internet durch Geheimdienste wie die amerikanische NSA. Sie rufen dazu auf, die Demokratie in der digitalen Welt zu verteidigen.

Unter den Unterzeichnenden befinden sich die Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, J.M. Coetzee, Günter Grass, Tomas Tranströmer und die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.
Unter den namhaften Autoren und Autorinnen sind auch Umberto Eco, Margaret Atwood, Don DeLillo, Daniel Kehlmann, Nawal El Saadawi, Arundhati Roy, Henning Mankell, Richard Ford, Javier Marias, Björk, David Grossman, Arnon Grünberg, Angeles Mastretta, Juan Goytisolo, Nuruddin Farah, João Ribeiro, Victor Erofeyev, Liao Yiwu und David Malouf.
Geplant und durchgeführt wurde die gesamte Aktion von einer siebenköpfigen Autorengruppe um Juli Zeh, Ilija Trojanow und Eva Menasse.

Die Unterzeichner fordern, jeder Bürger müsse das Recht haben, mitzuentscheiden, in welchem Ausmaß seine Daten gesammelt, gespeichert und ausgewertet werden. Sie erinnern an die Unschuldsvermutung als zentrale Errungenschaft unserer Zivilisation und appellieren an die Vereinten Nationen, eine „Internationale Konvention der digitalen Rechte“ zu verabschieden.

Zwei der Initiatoren des Aufrufs, die Schriftsteller Juli Zeh und Ilija Trojanow sagen stellvertretend: „Es geht um den Konflikt zwischen dem Einzelnen und der absoluten Macht unter den neuen Bedingungen des Informationszeitalters.“


Aufruf

In den vergangenen Monaten ist ans Licht gekommen, in welch ungeheurem Ausmaß wir alle überwacht werden. Mit ein paar Maus-Klicks können Staaten unsere Mobiltelefone, unsere E-Mails, unsere sozialen Netzwerke und die von uns besuchten Internet-Seiten ausspähen. Sie haben Zugang zu unseren politischen Überzeugungen und Aktivitäten, und sie können, zusammen mit kommerziellen Internet-Anbietern, unser gesamtes Verhalten, nicht nur unser Konsumverhalten, vorhersagen.

Eine der tragenden Säulen der Demokratie ist die Unverletzlichkeit des Individuums. Doch die Würde des Menschen geht über seine Körpergrenze hinaus. Alle Menschen haben das Recht, in ihren Gedanken und Privaträumen, in ihren Briefen und Gesprächen frei und unbeobachtet zu bleiben.

Dieses existentielle Menschenrecht ist inzwischen null und nichtig, weil Staaten und Konzerne die technologischen Entwicklungen zum Zwecke der Überwachung massiv missbrauchen.

Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr. Deshalb müssen unsere demokratischen Grundrechte in der virtuellen Welt ebenso durchgesetzt werden wie in der realen.


  • Überwachung verletzt die Privatsphäre sowie die Gedanken- und Meinungsfreiheit.

  • Massenhafte Überwachung behandelt jeden einzelnen Bürger als Verdächtigen. Sie zerstört eine unserer historischen Errungenschaften, die Unschuldsvermutung.

  • Überwachung durchleuchtet den Einzelnen, während die Staaten und Konzerne im Geheimen operieren. Wie wir gesehen haben, wird diese Macht systematisch missbraucht.

  • Überwachung ist Diebstahl. Denn diese Daten sind kein öffentliches Eigentum: Sie gehören uns. Wenn sie benutzt werden, um unser Verhalten vorherzusagen, wird uns noch etwas anderes gestohlen: Der freie Wille, der unabdingbar ist für die Freiheit in der Demokratie.

     

Wir fordern daher, dass jeder Bürger das Recht haben muss mitzuentscheiden, in welchem Ausmaß seine persönlichen Daten gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden und von wem; dass er das Recht hat, zu erfahren, wo und zu welchem Zweck seine Daten gesammelt werden; und dass er sie löschen lassen kann, falls sie illegal gesammelt und gespeichert wurden.

Wir rufen alle Staaten und Konzerne auf, diese Rechte zu respektieren.

Wir rufen alle Bürger auf, diese Rechte zu verteidigen.

Wir rufen die Vereinten Nationen auf, die zentrale Bedeutung der Bürgerechte im digitalen Zeitalter anzuerkennen und eine verbindlicheInternationale Konvention der digitalen Rechte zu verabschieden.

Wir rufen alle Regierungen auf, diese Konvention anzuerkennen und einzuhalten.


Wer unterzeichnen und sehen möchte, wer bereits unterzeichnet hat:

http://www.change.org/petitions/a-stand-for-democracy-in-the-digital-age-3


Interview: 

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/autoren-gegen-ueberwachung/juli-zeh-und-ilija-trojanow-im-gespraech-alles-ist-gesagt-jetzt-muessen-wir-handeln-12702943.html

 

s. hier auch: Prism und Tempora (Zusammenfassung der Ereignisse 2013), Gegen Überwachung, Im Netz


10.12.2013



Überwachung 2013 - Reaktionen 

2013 ist das Jahr der Whistleblower. Am 6. Juni berichtete Glenn Greenwald erstmals im Guardian über Massenüberwachung in den USA. Ein hochgeheimer Gerichtsbeschluss zwang den Telekomanbieter Verizon, die Metadaten von Millionen seiner Kunden an den amerikanischen Geheimdienst NSA herauszugeben. Das Dokument stammt aus einem riesigen Fundus, den Edward Snowden, Ex-Angestellter bei einer Sicherheitsfirma, die für die NSA arbeitet, geleakt hatte. Snowden stellte sich am 9. Juni in einem Video der Öffentlichkeit vor. Der Guardian hat das bisher veröffentlichte Snowden-Material in einem ausgezeichneten Dossier aufbereitet - man kann hier nach Überwachungsprogrammen und Themen sortiert herumstöbern oder einfach der Timeline folgen.

Einer der besten Kenner der NSA unter den Journalisten ist James Bamford. Zwei Wochen nach den ersten Enthüllungen Snowdens veröffentlichte Bamford in Wired ein großes Porträt des NSA-Chefs Keith Alexander, der in den letzten acht Jahren einen gigantischen Überwachungs- und Spionagekomplex aufgebaut hat. Für Alexander ist „die Bedrohung so unglaublich groß“, schreibt Bamford, „dass die Nation kaum eine andere Möglichkeit hat, als das ganze zivile Internet unter seinen Schutz zu stellen. Tweets und Emails sollen durch seine Filter laufen und die Regierung den Finger über dem Aus-Schalter haben. 'Wir erleben zunehmende Aktivitäten in den Netzwerken', sagte Alexander kürzlich auf einer Sicherheitskonferenz in Kanada. 'Ich bin besorgt, das dies eine Grenze überschreitet, jenseits derer der Privatsektor hilflos ist und die Regierung einschreiten muss.“ Ein Teil des privaten Sektors wird es mit Freude gehört haben, denn Überwachung ist inzwischen ein 30-Milliarden-Dollar-Geschäft geworden.
Enthüllungsjournalisten, lernt man im Sommer 2013, leben auch im Westen gefährlich. Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die neben Glenn Greenwald ebenfalls Zugriff auf die von Edward Snowden geleakten Dokumente hat, wird schon seit Jahren, lange vor den Snowden-Enthüllungen systematisch an Flughäfen festgehalten, durchsucht und verhört,
erzählt Peter Maass in einem packenden Porträt über Poitras in der New York Times. Hintergrund ist ein früherer Dokumentarfilm über den Irakkrieg. „Einmal, erzählt Poitras, haben sie ihr Computer und Handy abgenommen und wochenlang behalten. Man sagte ihr, dass ihre Weigerung auf Fragen zu antworten, selbst schon ein verdächtiger Akt sei. Die Verhöre fanden in internationalen Zonen von Flughäfen statt, wo nach Ansicht der Regierung die verfassungsmäßigen Rechte nicht gelten, weshalb ihr die Anwesenheit eines Rechtsanwalts nicht erlaubt wurde.“
In einem langen
Gespräch über Freiheit kommt der britische Historiker Quentin Skinner bei Open Democracy auch auf das von Edward Snowden enthüllte Überwachungsprogramm zu sprechen, dass seiner Ansicht nach mit keinem Freiheitsbegriff zu vereinbaren ist: „Ich denke es ist sehr wichtig zu sagen, dass die bloße Tatsache der Überwachung uns die Freiheit nimmt. ... Meine Freiheit wird nicht nur verletzt durch die Tatsache, dass jemand meine Mails liest, sondern schon durch die Tatsache, dass jemand die Macht hat, dies zu tun, wenn er es will.“ John Lanchester, der sich in der London Review of Books Gedanken macht, was uns demnächst mit Google Glass droht, sieht das ebenso. LRB-Autor David Bromwich ist nach dem Snowden-Video im Guardian überzeugt, dass Snowden diese Untergrabung unserer Freiheit erkannt und deshalb die Dokumente geleakt hat: „Das System, wie Snowden schlicht erkannt hat, ist unvereinbar mit dem 'demokratischen Modell' und kann nur praktiziert oder akzeptiert werden von Menschen, die jede Idee einer liberalen Demokratie aufgegeben haben, außer der Vorstellung von allgemeiner Verteidigung und Fürsorge.!
Zwei Wochen nach den ersten Snowden-Enthüllungen führt Serena Danna für den Corriere della Sera eines der höchst seltenen
Interviews mit Gianroberto Casaleggio, dem geheimnisumwitterten 'Guru' von Beppe Grillos Cinque-Stelle-Partei, der durch einige etwas sektenhaft wirkende Videos zur kommenden direkten Netzdemokratie und zu anstehenden Weltkriegen auf sich aufmerksam machte. Er sagt: „Das Netz erlaubt zwei Extreme - die direkte Demokratie mit kollektivem Zugang zu direkt vermittelten Informationen, oder eine Orwellsche Neodiktatur, in der man nur glaubt, die Wahrheit zu kennen und frei zu sein, während man unbewusst den Regeln einer übergeordneten Organisation folgt. Es kann auch sein, dass beide Modelle entstehen werden.“ Ein Porträt Casaleggios schrieb drei Monate vorher Philippe Ridet in Le Monde.
Zwei weitere Beispiele dafür, wie Big Data heute bereits verwendet wird: In The Atlantic
schildert Jonathan Cohn, wie Roboter, Computer, Big Data und das Internet die Medizin revolutionieren. Ebenfalls in The Atlantic untersucht Don Peck, wie Big Data die Einstellungspraxis von Unternehmen verändert. Und in Prospect unterziehen Martin Innes und Dennis O'Connor jüngere Methoden der Polizeiarbeit einer eingehenderen Betrachtung und stellen dabei fest, dass die Polizei sich neben der Aufklärung zusehends für Konzepte zur Verbrechensverhinderung durch prognostische Tools interessiert. Unschuldsvermutung? Das war gestern. Jetzt gibt es nur noch „Falschpositiv“ und „Falschnegativ“.

(Zusammenfassung aus: perlentaucher.de)


05I14



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