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Tahar Ben Jelloun von Katja Schickel

11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

 

Tahar Ben Jelloun, der marokkanische Schriftsteller mit ständigem Wohnsitz in Paris, hielt die Eröffnungsrede, in der er – nicht ganz neu – die Rolle des Schriftstellers gerade in Zeiten des Umschwungs, der offenen Rebellion beschrieb. Zuhören, Schreiben, Sprechen bilden eine Einheit, die über das uns Sichtbare hinausgehen muss, um Gehör zu finden. Im Mittelpunkt des literarischen Schaffens steht das menschliche Leben in all seinen Facetten, den Erschütterungen wie den Hoffnungen. Der Autor hat der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi Mitte Dezember 2010, die zunächst in den Ländern des Maghreb, Fanal zum sog. Arabischen Frühling wurde, der sich dann in Windeseile bis in den Nahen und Mittleren Osten ausbreitete, einen gleichnamigen Essay gewidmet. Damit ist er allerdings auch in den Fokus der Kritik geraten. Man wirft ihm vor, von Europa aus auf den revolutionären Zug aufgesprungen zu sein, von Ferne Deutungshoheit zu beanspruchen, die ihm als Nicht-Aktivisten nicht zustehe. Die Rede, mit europäischem Humanismus argumentierend, lässt für das Geschehen den Begriff Revolution gar nicht erst zu. Er nennt die Erhebungen legitime Rebellionen der Wut gegen die lange, allgegenwärtige Demütigung der Bevölkerung durch Willkür und Gewalt, den Islamismus eine geistige Sperre, „eine pathologisch gelebte Regression, die jeden abweichenden Diskurs ausschließt“. Islamisten hätten die Revolten in der arabischen Welt weder initiiert, noch eine wesentliche Rolle gespielt, ihre „ideologische Software“ sei überholt und überzeuge die Jugend nicht mehr. Schriftsteller zu sein bedeute, mehr als nur Zeitzeuge zu sein, vor allem wenn einen die Menschheit, die den Status Quo nicht mehr länger ertragen will, gerade in Erstaunen und Bewegung versetzt und der vielstimmige Schrei nach Gerechtigkeit nicht mehr ins Vergessen gedrängt werden kann. Es sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Eintritt in die Literatur finden müssen.

 

Bio-Bibliographisches: *1944 im marokkanischen Fes. Französisches Gymnasium in Tanger, Philosophiestudium in Rabat. Lehrer, ab Mitte der 1960er Veröffentlichungen in der Kulturzeitschrift Souffles. 1966 Zwangsrekrutierung in ein Militärlager. 1971: erster Gedichtband Hommes sous linceul de silence (Ü: Menschen unter dem Leichentuch des Schweigens). Kurz darauf Emigration nach Paris, wo er zu einem der bedeutendsten Wortführer der Immigranten aus Nordafrika avanciert. 1985: Roman L’enfant de sable (dt. Sohn ihres Vaters, 1986). Für den Folgeroman La nuit sacrée (1987; dt. Die Nacht der Unschuld, 1987) erhielt er als erster maghrebinischer Autor den Prix Goncourt. Seine Romane sind Gesellschaftskritik und behandeln Rassismus sowie staatliche und religiöse Repression. Les raisins de la galère (1996; dt. Die Früchte der Wut, 2007) schildert die Situation in den multiethnischen, muslimisch geprägten Vororten von Paris. Die maghrebinische Protagonistin Nadia kämpft für weibliche Gleichberechtigung. Der Roman Cette aveuglante absence de lumière (2001; dt. Das Schweigen des Lichts, 2002) über eine Strafkolonie löste in Frankreich eine breite Diskussion über das Regime des 1999 verstorbenen marokkanischen Königs Hassan aus. Sein jüngster Roman, Au pays (2009; dt. Zurückkehren, 2010), handelt vom Schicksal eines marokkanischen Migranten und Familienvaters in Frankreich, der, als ihm die Rente droht, einen ins absurde abgleitenden Rückkehrversuch in sein Heimatdorf unternimmt: Kürzlich erschien der Band Arabischer Frühling. Neben dem Prix Goncourt erhielt er u. a. den irischen IMPAC-Literaturpreis, den Grand Prix Littéraire du Maghreb und den Erich Maria Remarque- Friedenspreis 2011. Der Autor lebt und arbeitet in Paris. Seine ins Deutsche übersetzten Bücher sind zuletzt bei Rowohlt und im Berlin Verlag erschienen.

Ein Satz, von ihm zitiert: Was ist dir das Menschlichste? - Jemandem Scham ersparen. (Friedrich Nietzsche)

Auf die verhaltene Rede Tahar Ben Jellouns, die auch vom Publikum im (zum ersten und einzigen Mal) ausverkauften Großen Saal des Hauses der Berliner Festspiele (vormals: Freie Volksbühne) so aufgenommen wurde, folgten im Laufe der Woche in zahllosen Podiumsdiskussionen und Einzel-Lesungen einige Entgegnungen, kritische Anmerkungen und vorsichtige Zweifel. Dass die Islamisten dem Aufbegehren hunderttausender Frauen und Männer kampflos das Terrain überlassen würden, war doch etwas naiv und voreilig; die Unzufriedenheit über fortbestehende ökonomische Verhältnisse (Mangelwirtschaft, Arbeitslosigkeit) und über Versuche alter Seilschaften, an den überkommenen Machtstrukturen festzuhalten, wurde kanalisiert in Ausschreitungen gegen Israel, das über Monate hinweg, ebenso wenig wie der islamische Extremismus, eine Rolle gespielt hatte. Manch deutscher Islam-Kritiker meldete sich bei den anschließenden Diskussionen nicht zu Wort, ereiferte sich lieber unter seinesgleichen später im Foyer, übrigens - wie man erstaunt feststellen konnte - lauter Mitglieder des neuen deutschen (Bildungs-)Bürgertums.

In den Veranstaltungen von Reflections und in Einzellesungen ging es um das Selbstverständnis von muslimischen AutorInnen aus verschiedenen Ländern, mit je eigener Kultur und Tradition, die in unterschiedlichen Sprachen schreiben, literarische Genres nutzen und erweitern, die religiös, Atheisten oder Agnostiker sind. Wie alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller (er-)finden sie ihre eigene literarische Identität mit den Stoffen, die sie erzählen. Ihr Unbehagen, auch ihre Wut gilt einer von außen, vom Westen oktroyierten Identität als Araber/in, als Muslim/in, mithin als potentielle/r Terrorist/in. Aus diesen Reizworten wird nicht nur der Islam als hermetische Gemeinschaft konstruiert, sondern kulturelle Unterschiede betont, die, da sie angeboren und sozialisiert sein sollen, der westlichen Sicht als wesensfremd und daher unüberbrückbar erscheinen. Die spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse werden gar nicht mehr wahrgenommen, der Islam erhält den Status eines starren, unveränderlichen Nationalcharakters, wobei arabisch, türkisch, muslimisch mittlerweile sowieso synonym gebraucht wird. Die Differenz zum eigenen Weltbild zählt, egal aus welcher Summe von als 'Erkenntnisse' getarnten Feststellungen sie sich speist. Gerade in Deutschland lässt sich mit dem Phantasiegebilde Islam, einer undefinierbaren Macht, die maßlos ist und unsere Werte auffrisst, von allen gesellschaftlichen Konflikten ablenken bzw. kann der vermeintlich für sie verantwortliche Sündenbock gleich mitgeliefert werden.



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