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Terézia Mora

Über Grenzen – Farbe bekennen



Ich bin in einem Grenzgebiet aufgewachsen. Die Chancen dafür standen seit je gut: Im Norden von der Donau, im Westen vom Leithagebirge begrenzt, liefen in diesem Zipfel der pannonischen Tiefebene von jeher die Siedlungswilligen zusammen. Bis hierher war es leicht, von hier an wurde es schwieriger, also blieb man, mischte sich oder grenzte sich eben ab, soweit das möglich war. Als die Römer dieses Gebiet aus steuerlichen Gründen Pannonia superior nannten, lebte der eine Teil meiner Vorfahren wahrscheinlich noch in Dalmatien. Der andere Teil erschien von Geheimnissen umwittert noch später auf der Bildfläche, quasi in letzter Sekunde, als es mit Österreich-Ungarn schon beinahe vorbei war. Das Dorf, aus dem ich komme, gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts schon seit 900 Jahren zum ungarischen Bistum Györ, da es aber vollständig deutschsprachig war, war seine Zugehörigkeit – nicht rechtlich, aber im Empfinden der Bevölkerung – ungeklärt. „Ich fahre nach Ungarn“ bedeutete im Sprachgebrauch meiner Urgroßmutter, sich sage und schreibe fünfzehn Kilometer gen Osten zu bewegen, ins westlich gelegene Österreich waren es nur fünf Kilometer. Und hier war eben hier.

Das wurde dann bald präzisiert, es brauchte nicht mehr als zwei Weltkriege dazu, und als ich die Augen aufschlug, stand da mit widerwärtiger Stabilität der Eiserne Vorhang. Die Staatsgrenze zu Österreich wie zur Tschechoslowakei zum Greifen nahe, aber beide praktisch geschlossen. Später wurde das etwas durchlässiger, aber viel Freude hatte man auch daran nicht. In unserem an alltäglichen Demütigungen nicht gerade armen Leben waren die Grenzübergänge noch einmal beträchtlich unangenehmer als alles andere. Meine Mutter war Fremdenführerin und irgendwie wohl auch stur, so dass wir jedes Jahr wenigstens einmal einen Anlauf gegen die Tore in der Mauer unternahmen.

Es war, wie gesagt, an beiden Grenzübergängen schrecklich, aber das Interessante ist, dass ich als noch relativ junges Kind feststellte, dass ich das den Österreichern übler nahm und warum das wohl so war. Weil ich von dort Besseres erwartet hätte. Von den Tschechoslowaken erwartete ich nichts Besseres, schließlich waren sie ein Bruderland, also wie unsere, und wie unsere waren, das wusste ich schon lange. Die Anderen konnten arrogant sein, wie sie wollten, ich wusste, der Gefährliche ist der, der so ist, wie wir sind. Was interessant ist, wenn man bedenkt, dass wir übrig geblieben sind von welchen, die immer gleich davonliefen, wenn ihnen etwas Unbekanntes begegnete.

In einer Diktatur lernst du, dass du mehr Grund hast, vor denen davonzulaufen, die du kennst. Dieser erlernte Reflex bestimmt bis heute in allen post-diktatorischen Gesellschaften die Reaktionen aufeinander und auf sich. Wie sich die Deutschen bis vor kurzem selbst nicht riechen konnten, von den Ungarn ganz zu schweigen! Das Tragische am Selbsthass ist, dass daraus selten die Liebe zu anderen erwächst, und schon haben wir wieder unsere x Probleme, an deren Ende dann sehr wahrscheinlich wieder der Selbsthass steht.

Die Grenze, in deren Sichtweite ich aufwuchs, war letztlich recht willkürlich gezogen worden, irgendwie fast launisch, aber das war nicht der Grund, weshalb sie mir ein Stachel im Fleisch war.

Inventur

Verloren: das Wenige an Besitz und die Möglichkeit zu alltäglichem Kontakt zu einigen Familienmitgliedern

Bekommen: den Minderheitenstatus und die ungarische Sprache.

Wir waren deutschsprachige Bauern und wurden deutsch und ungarisch sprechende Arbeiterklasse. Das hört sich nicht gerade nach einem Aufstieg an, aber Tatsache ist auch, dass ich nicht wäre, wer ich bin, hätte ich nicht zwei Muttersprachen.

Wäre ich eben jemand anderes. So groß ist der Unterschied nun auch nicht, könnte man einwenden. Das stimmt – von außen betrachtet. Von innen betrachtet, bin ich eine Eingeweihte und kann nichts anderes als dankbar dafür sein. Én sem volnék, ha nem volnál, ha te hozzám nem hajolnál.

Die Grenzziehung mag Gewalt sein, mein Schicksal ist dennoch mein eigenes. Ich habe es nicht statt eines anderen. Sich vorstellen kann man natürlich alles. Es ist nur nicht alles sinnvoll. Was wäre gewesen, wenn, gehörte und gehört bei allen Phantastereien, mit denen ich mein Leben im Übrigen verbringe, nicht zu meinem Repertoire. Ich habe genug damit zu tun, mich sinnvoll dazu zu verhalten, was ist.

 

Die Grenze war also nicht deswegen inakzeptabel, weil sie gerade dort verlief, wo sie eben verlief. Ich habe weder etwas gegen Nationalstaaten noch etwas für sie, sie sind nun einmal da. Die Probleme entstehen nicht allein schon dadurch. Sondern in dem Maße, in dem ihre Grenzen durchlässig sind oder eben nicht. Daran kannst du alles ablesen. An der Grenze merkst du, wie die Situation tatsächlich ist. Dass, zum Beispiel, die Rede von irgendeinem Friedenslager ist, aber wenn man sich hier umschaut, sieht es nicht ausgesprochen nach einem Friedensprojekt aus. Spätestens an der Grenze wird Unterdrückung sichtbar. Wobei meine speziellen Objekte der Nichtbegierde gar nicht die Uniformierten unmittelbar am Zaun waren, sondern die in Zivil, die sich in den Zügen herumtrieben und an manchen Tagen sichtlich aus Spaß an der Freude Passfotos bewerteten. Ich war fünfzehn, als einer einen Kuss verlangte und sagte: Meine Frau betrüge ich, meine Geliebte nie. Fahr zur Hölle. Aber konkret. (Was macht er wohl heute? Vermutlich Rentner. Meine Frau behandele ich schlecht, meinen Hund gut oder so.)

Seitdem hat sich zumindest an meiner konkreten Grenze einiges geändert. Als ich geboren wurde, hätte ich in null Länder ohne Passkontrolle reisen dürfen (mit Passkontrolle in etwa fünf), heute sind es 21 bzw. 184, mit Schwankungen. Sich darüber zu freuen, ja sogar ein Gefühl zu haben, als hätte man einen persönlichen Sieg errungen, ist erlaubt. Aber ich vergesse natürlich auch nicht, dass so eine Rechnung zu erstellen, nur im Falle von legalen Grenzübertritten überhaupt sinnvoll ist. Die Situation derer, die nicht reisen wollen, sondern müssen, bleibt im Großen und Ganzen dieselbe.

„X ohne Grenzen“, „Y ohne Grenzen“: Das sind gern zitierte Sehnsuchtsbegriffe. Womit wir in Wahrheit rechnen müssen, ist – und daran hat sich seit meiner ersten Ent-Täuschung am Grenzübergang Klingenbach nicht viel geändert –, dass selbst in der sogenannten freien Welt der Liberalismus an den Grenzen endet. Kommt uns zu Ohren, dass sich irgendwo etwas geändert hat im Weltgefüge, ist das Erste, was wir tun, unsere Grenzen zu verstärken. Denn entweder wurde neues Elend produziert, so dass wir damit rechnen müssen, dass sich einige vielleicht auf die Idee versteigen können, davor fliehen zu wollen, oder, im Gegenteil, irgendwo ist wieder eine Diktatur gefallen, in diesem Fall muss damit gerechnet werden, dass es einige wiederum mit der Freiheit wörtlich nehmen. (Bemerkung: Das erste neue Gesetz, das nach meiner Einwanderung ins gerade erst wieder vereinigte Deutschland erlassen worden ist, war eins zur Regelung der Migration. Ich nehme das, um Gottes willen, nicht persönlich, aber es mir zu merken, konnte ich auch nicht verhindern.) Ebenso wenig, wie man wirklich Verzweifelte oder Entschlossene daran hindern kann, wenn nicht legal, dann eben illegal zu migrieren.

„Eine gütige Nachlässigkeit im Umgang mit illegaler Migration kann sich [. . .] mit den Interessen von Staaten oder Arbeitgebern decken, die froh sind über unorganisierte und irreguläre Arbeitskräfte.“ „Trotz all der Repression gegen illegalisierte MigrantInnen in der Schweiz [. . .] verrichten 100.000 bis 300.000 AusländerInnen ohne Aufenthaltsbewilligung in der Landwirtschaft, auf Baustellen oder in Privathaushalten volkswirtschaftlich wertvolle Arbeit, schutzlos und zu miserablen Konditionen. Sie alle konsequent zu verfolgen, ist logistisch kaum möglich und wohl auch nicht erwünscht. Wer würde sonst diese Arbeiten machen?“, heißt es auf der Website von www.bleiberecht.ch.


Die Grenze vor der Nase – mir war früh klar: Sie trennt nicht in erster Linie das eine Volk vom anderen, sondern die Mächtigen von den Ohnmächtigen. Und klar war auch, welche Rolle dabei mir zugedacht war: die des vermaledeiten Volks, das duldsam zwischen schwarz-weißen Abgrenzungen steht und wartet, dass es selektiert wird nach den Kriterien Gesundheit, Besitz, Religion und so weiter (neue Kriterien lassen sich bei Bedarf jederzeit installieren), bevor es eintreten darf, um zu bitten und seine untertänigsten Dienste anzubieten. Machen wir uns nichts vor: Das Einzige, was grenzenlos ist, ist die Ausbeutung.

Apropos. Natürlich ist mir klar, dass man auch an Grenzen abprallen – invalide gemacht werden – kann, ohne dass man sich einen Millimeter von der Stelle bewegt hätte. Nehmen wir das Beispiel des Area and Local Sales Manager Darius Kopp, der als Angestellter einer global agierenden Firma sein Zwölf-Quadratmeter-Büro praktisch nie verlässt. Um Geschäfte zu machen, ist es heutzutage kaum mehr nötig, physisch Grenzen zu überschreiten. Das einzig Wichtige ist, dass die Kommunikation nicht abreißt, und zwar nicht zwischen dir und deinem Kunden, nein, sondern zwischen dir und deinen nicht selten auf einem anderen Kontinent sitzenden Chefs. Wenn es damit nicht mehr klappt, brauchst du auch nicht mehr anzufangen zu hoffen; die Sache ist gegessen, und für dich gibt es nur noch eins: migriere. Sprich: Such dir etwas anderes, wo du noch etwas ausrichten kannst oder wenigstens für eine weitere Weile ausharren. So schnell, flexibel und fit wie das System könntest du sowieso niemals werden, das ist unmöglich, so schnell du dich auch bewegst, die Arbeit bewegt sich schneller, du wirst immer zu träge sein, die träge Masse, der teuerste Posten. Dass du auch treu seist, ist heutzutage nicht mehr die Hauptforderung an dich. Du kannst treu sein, wem auch immer du willst, das spielt keine Rolle.

Was das anbelangt, hatte ich das Glück, gleich bei meinem ersten und bisher einzigen Angestelltenjob an einen aufrichtigen Kapitalisten geraten zu sein. Der mir, noch bevor Missverständnisse (Hoffnungen) aufgekommen wären, mitteilte, wie der Hase läuft. Wer du bist, ist irrelevant. Selbst was du kannst, ist, außer den Sachen, die für mich von unmittelbarem Nutzen sind, irrelevant. Gesetze, juristische und moralische: irrelevant. Ich werde sie jedes Mal übertreten, wenn es nötig sein sollte, und deine Aufgabe ist es, mich dabei zu unterstützen. Die Auszahlung deines Gehalts dafür steht auf meiner Prioritätenliste an vorletzter Stelle. Es liegt an dir, ob du dabei mitmachen willst oder nicht. Da draußen gibt es noch jede Menge von deiner Sorte. – Ebenso wie von seiner, nicht wahr. (In Klammern: Diese Anekdote ist so extrem, dass die, denen ich sie erzähle, dazu neigen, mir nicht zu glauben. Bis ich ihnen sage, es handelte sich um einen Filmproduzenten. Dann glaubt mir sofort jeder. Warum wohl?)

Alles in allem kann ich ihm dankbar sein, denn wozu er mich aufforderte, war nicht weniger, als dass ich meine Grenzen definierte. Was kann ich vertreten, was nicht. Die Grenze, physisch wie metaphorisch, ist der Ort, an dem man Farbe bekennen muss. Seinen Namen nennen. Wie hältst du es denn mit X?

Bemerkenswert an Monsieur Filippi war, dass er, anders, als die meisten Machtinhaber, sich allein auf das Angstzentrum konzentrierte, mit gelegentlichen Stimuli für das Belohnungszentrum gab er sich nicht ab, wir sind ja schließlich weder im Wahlkampf noch in der Werbung. Wurstwaren, Freibier und das eine oder andere vollkommen wertlose 'Mitgebsel', das ist auch in der Nicht-Diktatur Standard. Wenn es gut läuft. Wenn es nicht so gut läuft – weil, zum Beispiel, ein Krieg geführt werden muss, wenn auch meist dafür gesorgt wird, dass der Schauplatz woanders und nicht hier ist –, dann sagen sie dir durchaus auch einmal in den Nachrichten, was du wie nennen sollst. Grenzenlose Gerechtigkeit oder andauernde Freiheit. Manipulieren müssen Sie sich schon lassen, sagte einmal ein deutscher Kulturverwalter zu mir, nachdem er versucht hatte, mich zu manipulieren. Und Sie, sagte ich, müssen damit leben, dass ich Ihnen sage, dass es sichtbar ist, was Sie tun. Ich werde darüber schreiben, wie ich über alles und jeden schreibe, der sichtbar geworden ist für mich. Weil das nämlich mein Job ist.

Wir verkaufen keine Fonds, wir verkaufen Storys, informierte mich eines Tages mein Bankberater, was mir nun nicht neu war, und, wie jeder, kenne auch ich die Pointe dieser Storys, wie denn auch nicht, sie ist jedes Mal dieselbe: Die Einzige, die immer verdient, ist die Bank. Im Moment kann ich daran nicht viel mehr ändern, als dass ich meinem Bankberater den Namen Herr Pecka verleihe (was von Pech kommt) und ihn auf Seite 162 einfüge.

 

Alternative Narrationen anbieten, das, nicht weniger ist die Arbeit der Schreibkundigen. Die von den Mächtigen ruinierte Sprache reparieren, wie Barthelme sagte. Meine sprachliche Entwicklung nahm ihren Anfang in einem Umfeld des Zwischen-den-Zeilen-Sprechens. Als ich sehr jung war, empfand ich nur das daraus erwachsende Gefühl der Demütigung. Später begriff ich, dass man das ebenso auch positiv beschreiben kann: Uns stehen selbst unter widrigsten Umständen Strategien zur Verfügung. Und das ist deswegen so, weil der Mensch schlicht nicht leben kann ohne ab und zu ein ehrliches Wort. Das ist die Chance, die Ästhetik gegenüber Politik und Ökonomie hat. Deren Grenzen infrage stellen, unsere eigenen definieren. Dazu ist es natürlich notwendig, dass ich jedes Mal auch wirklich bis zu dem Punkt gehe, an dem ich den Pflock einschlagen will. Farbe bekennen, meinen Namen nennen. Literatur, nicht nur Texte. Damit der, der dort nach einem brauchbaren Satz sucht, auch was vorfindet.

Was mich – apropos brauchbarer Satz – zum Abschluss zu den Leistungen der Übersetzer bringt. Es kann mich keine Zeit so sehr bedrängen, dass ich darauf verzichten würde, das Evidente zu erwähnen, dass wir ohne ihre Arbeit unsere alternativen Sätze in der Pfeife rauchen könnten, zu Hause, bei unserer kleinen Kohorte, die sich zufällig desselben Idioms bedient. In diesem Sinne lautet mein Schlusswort: Behandeln Sie Ihre Übersetzer gut und schenken Sie, auch angeblichen Nichtlesern, ausschließlich Bücher. Damit, falls man einmal ein anderes Wort braucht, was im Haus ist.


 


Terézia Mora, *1971 in Sopron, Ungarn, ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin aus dem Ungarischen. 1990 Studium der Hungarologie und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität, Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehkademie (dffb) in Berlin. Seit 1998 freie in Deutsch schreibende Autorin. Viele Preise und Auszeichnungen, darunter Ingeborg Bachmann- und Adelbert von Chamisso-Preis. Terézia Mora lebt in Berlin.
Werke

Seltsame Materie, 1999

Alle Tage, 2004

Der einzige Mann auf dem Kontinent, Luchterhand Literaturverlag 2009, ISBN 3-630-87271-9

 

Drehbücher: Die Wege des Wassers in Erzincan, Spielfilm, 30 Min., 1998; Boomtown/Am Ende der Stadt, Spielfilm, 30 Min., 1999; Das Alibi, Spielfilm, 90 Min., 2000.

Theaterstück: So was in der Art, 2003

Hörspiel: Miss June Ruby, 2005

Essay: Über die Drastik, in: BELLA triste Nr. 16, 2006.

Übersetzungen

Péter Esterházy: Harmonia Caelestis, 2001; Flucht der Prosa in: Einführung in die schöne Literatur, 2006; Keine Kunst, 2009; Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane), 2010, István Örkény: Minutennovellen, 2002; Péter Zilahy: Die letzte Fenstergiraffe, 2004; Lajos Parti Nagy: Meines Helden Platz, 2005; Zsófia Bán: Abendschule. Fibel für Erwachsene, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.

 

© Text mit freundlicher Genehmigung der Schriftstellerin; leicht gekürzte Fassung der Eröffnungsrede bei der Buch Basel 2012; Erstveröffentlichung: NZZ, 26.01.2013 - Fotos: erstestiftung.org, festivalimpulse.de; dpa, stepmap.de, kittiydekorff.de, tumblr.com

08.02.2013



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