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Trennung als Chance - für die Slowakei und Tschechien

 

von Michal Hvorecký

Ich wurde 1976 in Bratislava in der ČSSR geboren und gehöre damit zur Generation der sogenannten „Husák-Kinder“. Wir waren die tschechoslowakische Variante der amerikanischen Baby-Boomer, und Husák war der letzte Präsident der sozialistischen Tschechoslowakei. Als sich der Staat am 1. Januar 1993 teilte, war ich strikt dagegen. Mein Bruder, meine Eltern und die Freunde ebenso. Doch die Meinung eines sechzehnjährigen Halbwüchsigen interessierte die Mächtigen nicht. Dabei war meine Minderjährigkeit nicht das Problem: Es gab kein Referendum über die Teilung der Republik. Wahrscheinlich, weil von vornherein feststand, dass eine Mehrheit dagegen gewesen wäre. Die Trennung meiner Heimat in zwei Staaten halte ich bis heute für einen geschmacklosen Betrug an den Bürgern und für einen groben Verstoß gegen die Verfassung.

Aus heutiger Sicht bin ich jedoch froh, dass es so gekommen ist. Die Tschechoslowakei war schon vor zwanzig Jahren nicht mehr zu retten. Sie war eine verlorene gestrige Welt, ohne Mitte, ohne gemeinsame Idee. Das Bemühen, sie um jeden Preis erhalten zu wollen, wäre der Rettung einer Illusion gleichgekommen. Der ganze Prozess war zudem für mich eine gute Vorbereitung auf die Praktiken, die der Mafia-Kapitalismus dann mit sich brachte und der die Tschechische und Slowakische Republik bis heute weit stärker verbindet als einst die Föderation.

An die Trennung der Tschechoslowakei denke ich oft, wenn ich mit meinen Büchern zu Lesungen durch Ostdeutschland reise. Den östlichen Teil des frisch vereinigten Deutschlands haben Mitte der 1990er Jahre viele Slowaken beneidet. Während wir nur wertlose slowakische Kronen in den Händen hielten, füllten sich die ehemaligen DDRler die Taschen mit harter Mark. Damals kam es mir vor, dass die großzügigen Finanzspritzen des reicheren westdeutschen Bruders den Weg zu Wohlstand und einer funktionierenden Zivilgesellschaft ermöglichten. Jedoch passierte das genaue Gegenteil.

Ich fahre durch die östlichen Bundesländer über moderne Straßen, sehe sanierte Gebäude und Plätze, aber nur selten Menschen, und wenn, dann vor allem ältere. Die endlosen Subventionen haben eine schöne Oberfläche geschaffen, unter der fast nichts zu finden ist oder unter der sich finstere Geheimnisse verbergen – horrende Arbeitslosigkeit und Massenexodus in den Westen, Verbitterung, aber auch Wut, Gewalt, Rassismus oder sogar Terrorismus von Rechtsextremen. Die Mieten in Schwerin zum Beispiel sind wegen des massenhaften Wegzugs heute nur halb so hoch wie in den vergleichbaren slowakischen Städten Banská Bystrica (Neusohl) oder Košice (Kaschau).

Die Slowakei war nach der Teilung wirtschaftlich und politisch am Boden. Und auch intellektuell. Denn die kulturelle und akademische Elite, welche die sanfte Revolution von 1989 angeführt hatte, scheiterte an der Machtübernahme und gab sie freiwillig an stramme Slowaken ab, die sich später als Verbrecher erwiesen. Unter dem autokratischen Präsidenten Vladimir Mečiar sah es eine Weile so aus, als würde der neue Staat den belarussischen Weg einschlagen. Die Wirtschaft fror für zwei, drei Jahre buchstäblich ein, die Währung verfiel. Die Unternehmen wurden blitzschnell ausgeraubt. Dem Staat drohte sogar die Insolvenz.

Diese Entwicklung schockierte mich. Die Tschechoslowakei meiner Kindheit war zwar ein totalitärer Staat, aber sie bot ein annehmbares Lebensniveau und eine verhältnismäßig entwickelte Infrastruktur. Nach 1993 lebte ich plötzlich in einem Staat, der gleich auf mehreren Ebenen zu kollabieren drohte. Ich wurde erwachsen mit einem Gefühl von Ungerechtigkeit, Ausgenutztsein, Unsicherheit und Verrat.

Die Slowakei war am Nullpunkt angekommen, sie war ein besiegtes Land geworden. Heute weiß ich, dass das Land diesen Absturz gebraucht hat. Und es ein Fehler war, dass die DDR ihm ausgewichen ist. Den Tiefpunkt des politischen und wirtschaftlichen Verfalls war um das Jahr 1995 erreicht. Ich halte diesen Punkt nicht nur für eine historische Wende, sondern auch für einen Paradigmenwechsel in der slowakischen Identität. Danach wurden wir jemand anderes. Wir übernahmen Verantwortung. Nicht für alles – mit der eigenen Geschichte haben wir uns nicht auseinandergesetzt, da ist die ehemalige DDR viel weiter. Aber wir hatten keinen mehr, dem man die Schuld geben konnte. Nun wurde rangeklotzt, egal ob zu Hause oder im Ausland.

Paradoxerweise überraschte der Aufstieg der Slowakei vor allem in Tschechien. Dort hatte man den Bankrott des östlichen Nachbarn erwartet. Ich gehe davon aus, dass sich viele darüber sogar gefreut hätten. Wenn ich heute noch einmal die Klischees, Lügen und Unverfrorenheiten rekapituliere, die vor und nach der Teilung über die Slowaken in tschechischen und über die Tschechen in slowakischen Medien geschrieben wurden, fehlt mir dafür jegliches Verständnis.

Ich werde nie den Artikel Autobus des tschechischen Schriftstellers Ondrej Neff vergessen, der im Juni 1992 in der Tageszeitung Mladá fronta Dnes (Junge Front) erschien. Die Slowakei ist in dem Text maroder Anhänger eines tschechischen Autobusses, den sie auf seinem Weg nach Europa ausbremst. Hinten sitzen die undankbaren und faulen Slowaken und trinken Wacholderschnaps. Auf einer Buckelpiste und mit Löchern in den Reifen hindern sie den Fahrer mal mit Drohungen, mal mit hirnlosen Ausreden daran, auf die Autobahn abzubiegen und Vollgas zu geben.

Die tschechische Kultur war auch meine gewesen. Doch auf einmal war mir so, als läse ich keine Tageszeitung, sondern ein faschistoides Schundblatt. Seitdem ist mir jede Form des Nationalismus zuwider, der tschechische, der slowakische, jeder andere. Es gibt keine gefährlichere Krankheit, die Menschen aller Bildungsschichten gleichzeitig treffen kann.

Die Erfahrung der Teilung hat in mir die Überzeugung verstärkt, dass die Nation nur ein Konstrukt oder, wie die Deutschen sagen, eine „erfundene Gemeinschaft“ ist. Ich schreibe slowakisch, fühle mich als Teil dieser Tradition, aber rein ethnisch gesehen ist mein Stammbaum komplizierter und verworrener, und eigentlich ist er mir auch egal. Ich forsche nicht nach, was mich trennt oder sogar über andere stellt, sondern danach, was mich mit anderen verbindet.

Ich bin kein Nostalgiker und wünsche mir nicht die Rückkehr der Tschechoslowakei. Wesentlicher ist für mich, dass in beiden Staaten das Vertrauen in die Demokratie zurückkehrt und damit Vetternwirtschaft, Affären und mafiöse Politik ein Ende haben. Trotzdem sehe ich mich selbst immer noch als Tschechoslowake. Ich mag Brünn, Ostrava, Opava, Pilsen und Prag, aber auch Wien, Lemberg, Breslau und Berlin. Es tut mir leid, dass meine Bücher für tschechische Leser inzwischen übersetzt werden, obwohl beide Sprachen sich nur in Nuancen unterscheiden. Aber ich weiß zu schätzen, dass ich dort überhaupt verlegt werde. Ich muss zwar dem Publikum inzwischen ab und zu einige Wörter erklären, aber ich lese grundsätzlich in meiner Muttersprache vor. Im ehemaligen Jugoslawien, wo das Ganze unvergleichlich schlimmer ausgegangen ist, tut man dagegen so, als ob es Serbokroatisch nie gegeben hätte.

Meine slowakischen Altersgenossen lesen bis heute die neuesten Autoren auf Tschechisch. Aber in Prager Buchläden gibt es kein einziges Buch in slowakischer Sprache mehr zu kaufen. Bei jungen tschechischen Kellnern kommt es vor, dass ich auf Englisch bestelle, weil sie angeblich kein Slowakisch verstehen.

„Meine ganze Libido gilt Österreich-Ungarn“, hat Sigmund Freud im Jahr 1914 geschrieben. Und vier Jahre später, als die Monarchie endgültig zerbrach: „Österreich-Ungarn ist nicht mehr“. Auch die Tschechoslowakei ist nicht mehr. Ich halte es mit Freud: „Ich werde mit dem Torso weiterleben und mir einbilden, dass er das Ganze ist.“


Michal Hvorecký lebt als freier Autor in Bratislava. Auf Deutsch erschien 2012 sein Roman „Tod auf der Donau“. s. hier auch: Michal Hvorecký mit weiteren Infos. Aus dem Slowakischen von Steffen Neumann/n-ost.

© Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 




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