Tschernobyl u.a.
Von Störfall zu Störfall und so weiter...
Eine Frage der Perspektive
von Katja Schickel
Ghost Town von Elena Filatová, Musik: Huns & Dr. Beeker
Am 26. April 1986 kommt es in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der Stadt Pripyat zur Explosion eines Reaktors. Zum ersten Mal wird dieser Vorfall auf der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse als katastrophaler Unfall, GAU = Größter Anzunehmender Unfall, eingeordnet.
Innerhalb der ersten zehn Tage nach der Explosion wird eine Aktivität von mehreren Trillionen Becquerel freigesetzt. Die radioaktiven Stoffe, darunter Jod 131 mit einer Halbwertzeit von ca. 8 Tagen, Cäsium 137 mit einer Halbwertzeit von ca. 30 Jahren, Strontium und Plutonium mit einer Halbwertzeit von ca. bis zu 1 Mio. Jahren, kontaminieren infolge des radioaktiven Niederschlags hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl sowie viele Länder in Europa. Genaue Daten gibt es nicht, wir befinden uns im Kalten Krieg, vor und hinter dem Eisernen Vorhang, der vor Strahlung nicht schützt; einige Regionen in Weißrussland sind stark verstrahlt, Skandinavien, die damalige Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und Deutschland (damals noch BRD und DDR) sind ebenfalls betroffen. Die sog. Liquidatoren (geschätzte Zahl: 800.000, meist zwangsrekrutiert, aber auch als freiwillige Helfer) beginnen mit der Dekontamination der Gebiete um den Meiler herum, die später zum Sperrgebiet erklärt werden. Gleichzeitig beginnen die Arbeiten an einem aus Stahlbeton bestehenden Schutzmantel, meist Sarkophag (griech.: Steingrab) genannt, der im Herbst 1986 über dem weiterhin strahlenden Reaktorblock errichtet wird.
Am 20. April 2010 wird durch die Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexico eine der größten Umweltkatastrophen ausgelöst. Die siebenundachtzig Tage lang - bis zum 16.Juli 2010, als das Leck notdürftig geschlossen werden kann - aus dem Bohrloch ausgetretene Ölmenge wird auf 750.000 bis eine Million Tonnen geschätzt. Eine Million Tonnen Chemikalien, vor allem Corexil, werden zusätzlich ins Meer geschüttet, um das Öl zu binden bzw. aufzulösen.
Ab 11. und 12. März 2011 - nach einem schweren Erdbeben und Tsunami - kommt es im nordost-japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (Fukushima I) zu mehreren Wasserstoffexplosionen. Aufgrund der Höhe der freigesetzten radioaktiven Stoffe und der Verstrahlung wird auch Fukushima als GAU eingestuft. Die vollständige Kühlung der Brennstäbe durch Meerwasser gelingt bis heute nicht. Das verstrahlte Wasser wird zurück ins Meer geleitet. Ein Ablaufbecken soll gebaut werden, in das dann das radioaktiv verseuchte Wasser gepumpt werden kann. Die Evakuierungszone beträgt rund zwanzig Kilometer, 80.000 Menschen sind davon betroffen. Sie werden nicht mehr in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren können.
Meeresbiologen haben dicke Schlickschwaden über den Korallen und anderen Mikro-Organismen entdeckt. Sie schätzen, das rund 50% des ausgelaufenen Öls am Meeresboden abgelagert sind und das Leben in der Tiefsee allmählich ersticken.
BP-Chef Hayward, der sich vor laufenden Kameras reumütig zeigt, obwohl er als einer der Verantwortlichen der Katastrophe gelten kann und eher vor ein Gericht gehört: aus Kostengründen und zur Gewinnmaximierung wurden nämlich Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten, beim Bau der Plattform Material minderer Qualität verwendet – dieser Mann also tönt vollmundig, dass - nach den Gesetzen der Disperison - das Öl gar nicht auf den Meeresgrund sinken könne. Diese chemische Reaktion ist jedoch der Zufuhr von Chemikalien geschuldet, die das Öl in feine Partikel zerlegten.
Siebenundachtzig Tage lang konnte man die Experten via TV oder Internet bei ihren hilflosen Versuchen beobachten, das Leck doch noch abzudichten; alle Hektik offenbarte ziemlich planlose Aktivität nach dem try and error-Prinzip. Es gehört vermutlich eine gewisse Hybris von Wissenschaftlern und Betreiber-Firmen dazu, alles, was technisch machbar ist, auch zu tun, ohne im mindesten die Aus- und Nebenwirkungen zu bedenken. An das Ausmaß einer solchen Katastrophe hatten sie unisono sowieso nicht gedacht: der Leiter des jetzigen Abwicklungsstabs in Tschernobyl genauswenig wie die AKW-Befürworter im stark erdbebengefährdeten Japan, das mit 55 Reaktoren weltweit führend ist und trotz Fukushima gerne noch neue bauen möchte (weltweit gibt es zurzeit 443 Reaktoren). Dieser Irrsinn hat natürlich Methode. Der Mensch/Mann will sich schließlich die Erde, die Natur untertan machen, ihre Beherrschbarkeit sollen immer neuere Technologien garantieren. Da Überlegungen zu den Risiken systematisch vernachlässigt werden, hält man am großen Plan fest, obwohl weiter reichende Erfahrungen gar nicht vorliegen. Die gibt es im Notfall immer erst danach. So werden immer neue Tatsachen geschaffen, die Beseitigung der Schäden solcherart Wissenschaft, Technik und Politik verschlingt horrende Summen, abgesehen von den gesundheitlichen und sozialen Problemen der Menschen und den verheerenden Eingriffen in das globale Öko-System.
Die Strände von Lousiana, Alabama und Mississippi sind mittlerweile auf den ersten Blick gereinigt, die Meeresoberfläche scheint sauber, trotzdem werden gehäuft Teerklumpen angeschwemmt, bohrt man ein bisschen im Sand, stößt man auf ölige Rinnsale, die sich wie ein feinmaschiges Netz unterhalb des weißen Sandes ausbreiten, eine beachtliche Anzahl verendeter Schildkröten, Delfine und Krabben wurde gefunden. Die Havarie der Exxon Valdez im März 1889 und die folgende Schadensbegrenzung haben Unsummen gekostet, vor allem aber sind die Auswirkungen, wie Anwohner und Experten mitteilen, bis heute sichtbar, haben ganze Küstenstriche nachhaltig geschädigt bzw. Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt.
War Tschernobyl nicht schon ein Menetekel, so erscheint Fukushima wie ein gespenstisches Panorama aus der Apokalypse: Zuerst eines der stärksten Erdbeben seit Menschengedenken, von dem Tokio gerade noch verschont bleibt, anschließend ein Tsunami, der in seiner Gewalt an den im Indischen Ozean Weihnachten 2004 erinnert, danach eine Reihe von sog. Ereignissen im Inneren der Reaktoren, die zu Wasserstoffexplosionen und Freisetzung hoch radioaktiver Substanzen führt, die in die Atmosphäre und den Pazifik gelangen.
Es gibt mehrere Tausend Tote, Millionen Menschen werden obdachlos, versuchen zu flüchten oder kommen in Notunterkünften unter. Die Sperrzone für die direkt vom radioaktiven fallout Betroffenen wird sich nicht auf zwanzig Kilometer beschränken lassen. Die Todeszone rund um Tschernobyl ist doppelt so groß wie das Saarland, heißt es gerne in deutschen Medien: Das sind immerhin über 5.000 qkm, da passt beispeilsweise Berlin rund fünf Mal, Prag ca. zehn Mal hinein.
Der neue Sarkophag wird gebaut wie ein Hangar: 150 m lang, 400 m breit, 300 m hoch, und mindestens 1,5 Mrd. Euro kosten. Den Bau übernahm ein französisches Konsortium, unterstützt von den USA, Japan und der EU, die gerade 550 Mio. Euro für den Neubau bewilligt hat.
Man verspricht eine Haltbarkeit von mindestens 100 Jahren. So lange sollte allerdings schon der alte Schutzmantel halten, verkündeten 1986 triumphalistisch sowjetische Regierungssprecher. Seit Jahren wird er immer brüchiger, die Betonwände haben Risse, aus denen eine undefinierbare, aber hoch kontaminierte Brühe sickert.
Fünfundzwanzig Jahre Tschernobyl sind vergangen, sagt ein Kommentator über die Vorgänge in Block 4 und Umgebung, aber was sei das schon? In Tschernobyl rechne man in Jahrtausenden. Der Leiter der jetzigen Reaktor-Mannschaft ist immer noch erschrocken vom Ausmaß der Katastrophe. Auch er habe an eine längere Haltbarkeit des Betonmantels, des Sarkophags, geglaubt; für den Einschluss durch Beton, wurde extra eine Zementfabrik neben dem Meiler errichtet. Der Reaktor sollte sicher verpackt und nach und nach mit Beton gefüllt werden. Wer sich heute im Inneren des Reaktors befindet, lernt zu verstehen, dass da Reaktionen ablaufen, die nicht berechenbar sind. Mindestens 300 Jahre bleibt das Gebiet verstrahlt, manche der Brennstäbe werden 25.000 Jahre strahlen. Er fügt hinzu: Ein abgeschalteter Reaktor macht genau so viel Arbeit wie ein eingeschalteter. Den Japaner empfiehlt er ebenfalls eine Betonhülle, alle Reaktoren müssten sofort still gelegt werden. Das sieht die Betreiberfirma Tepco offenbar ganz anders: sie wollen mit den nicht geschädigten Meilern so schnell wie möglich wieder ans Netz. Bei all diesen Technikern ist ein Zukunftsglaube fest verankert: Die Aufgabe besteht darin, die AKW´s noch sicherer zu machen, die Beherrschbarkeit dieser Technologie nicht in Frage zu stellen. Dass die Aufrechterhaltung dieses Paradigmas menschliche wie materielle und immaterielle Ressourcen und Kräfte in vorher nie da gewesener Weise bindet und verschwendet, ist irrelevant.
Da hilft nur ein Satz von Lichtenberg: Wer nicht ab und zu seinen Verstand verliert, hat vielleicht keinen...
Die Behauptung, Atomenergie sei beherrschbar, effizient, die sauberste und umweltfreundlichste Technologie überhaupt und erzeuge den billigsten Strom, wird mit den glühenden Atombrennstäben, den reiheweisen Explosionen ad absurdum geführt; mit den Kosten, die kleinere wie größere Störfälle bereits verursacht haben (z.B. 130fach in Temelín), und zwei GAU´s innerhalb von fünfundzwanzig Jahren. Die ökologischen Schäden sind, ebenso wenig wie die menschlichen Tragödien, verursacht z.B. durch Krankheiten, überhaupt nicht eindeutig bezifferbar.
Die japanische Regierung rechnet allerdings schon jetzt mit einem volkswirtschaftlichen Verlust von 330 Mrd. Euro. Die Mittel, die zur Eindämmung der Schäden solcher Katastrophen zur Verfügung gestellt werden sollen, bezahlen die steuerzahlenden BürgerInnen dieser Welt.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Unfälle gibt es bei solchen Ereignissen doch eine Gemeinsamkeit: Es ist das Vertuschen, das Verdrängen, die gezielt eingesetzte Desinformation oder das Herunterspielen von Fakten, das Verharmlosen und Abwiegeln von tatsächlichen Geschehnissen durch die verantwortlichen Betreiber und Politiker: egal ob es sich um verstrahlte Lebensmittel, in Japan vor allem Fisch, handelt, oder um Krankheiten: z.B. Strahlenkrankheit, Schilddrüsenkrebs (der sich um Tschernobyl herum, vor allem bei den ehemaligen Liquidatoren, verdreißigt hat), Mißbildungen.
Sollen wir uns wirklich an Geisterstädte wie Pripyat gewöhnen, wo die Zeit stehen geblieben scheint? In Japan werden die obdachlosen Menschen in den Notunterkünften beschwichtigt: Nur für kurze Zeit müssten sie woanders hin. Zurückkehren in ihre Wohnungen und Häuser werden sie jedoch nie wieder können. Das ist doch eine der furchtbaren Lehren aus Tschernobyl. Die Techniker und Betreiber sollten wenigstens die von ihnen selbst geschaffenen Tatsachen zur Kenntnis nehmen. In Tschernobyl und Fukushima haben Stromausfälle, auch die der Notstromaggregate, und die damit einhergehende fehlende Kühlung zu den Katastrophen geführt, im Golf von Mexico wurde an den falschen Stellen an Material und Sicherheitsvorkehrungen gespart.
Von denen wird aber lieber vom Rest-Risiko gesprochen. Dieses semantisch wenig überzeugende Konstrukt will suggerieren, dass es sich bei der Atomenergie und einem Störfall (gleich welcher Größenordnung), um eine Art alltäglichen Autounfall handele, den man schließlich billigend in Kauf nähme, sobald man sich am Straßenverkehr beteilige. Es will kaschieren, dass anschließend die Welt verseucht ist und Hunderttausende Menschen nicht wissen, wohin. Es verschleiert, das es keinen Rest von irgendeinem Risiko gibt, sondern nur ein Risiko, das nicht teilbar ist - manche der Risiken sind einschätzbar, andere nicht. Es geht um die systematische Verstrahlung der Erde. Wieviele Sarkophage wollen wir ihr und uns, unseren Kindern und Enkelkindern noch zumuten?
Das Prinzip des immer Schneller, Höher, Weiter hat weltweit zu einer Gigantomanie von Projekten aller Art geführt, die alle höchst gewinnversprechend sind (Atomkraftwerke, Bohrtürme, Architektur, Fabrikanlagen, etc.).
Da gibt es z.B. Kreuzfahrtschiffe in der Größenordnung von Kleinstädten mit 8 -10.000 Einwohnern, echte Energiefresser, die die Meere durchpflügen und in vielerlei Hinsicht Spuren hinterlassen. Die Ozeane gelten heute schon in manchen Bereichen als Kloaken, Sondermülldeponien und Müllhalden erster Güte. Die Tarnkappen-Politik dahinter ist: Was nicht sichtbar ist oder unsichtbar gemacht werden kann, stört doch keinen!
Seit der Jahrtausendwende gibt es jedes Jahr eine Jahrhundertkatastrophe oder ein Groß-Ereignis, das als kaum noch zu toppen gilt - das sind die medialen Kitzel. Damit ein Teil der Menschheit angesichts der sich überschlagenden Schreckensmeldungen nicht in Routine verfällt, werden die Horrorbilder der Endzeitstimmung ständig neu inszeniert. Haiti? Greenwater Horizon? GAU? Das war gestern!- Wenn die Medien Interesse wecken wollen, wenigstens die deutschen, müssen sie schon vom SUPER-GAU berichten, damit keine Langeweile aufkommt, dabei lässt sich der Größte Anzunehmende Unfall – wenigstens sprachlich – nicht steigern.
Dem Vertuschen und Verdrängen zur Seite steht das Vergessen, also einerseits der zu Lebzeiten natürliche kontinuierliche Verlust von im Gedächtnis gespeicherten Informationen und Erinnerungen. Oft ist Vergessen aber auch bloß Nicht-Wissen in einer realen Situation und als solches eine psychische Reaktion, die in kleinen wie großen Zusammenhängen wirksam wird: Was man selbst nicht wahrnimmt bzw. nie wahrgenommen hat, zu dem kann man sich nicht verhalten; es entzieht sich der Möglichkeit und Notwendigkeit von Erkenntnis, einer Aktion, eines Eingreifens oder zumindest Innehaltens. Von dieser Art Vergessen und Nicht-Wissen (-Können) profitieren all die, die so weiter machen wollen wie bisher. Die Beschwichtigungsformel heißt: Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken!
Die rigide sowjetische Politik hat 1986 verhindert, die Menschen, soweit sie nicht direkt Betroffene waren, aufzuklären, d.h. die übrige ukrainische Bevölkerung und die anderer Sowjetrepubliken bzw. befreundeter Bruderländer erfuhren erst sehr verspätet und empörend reduziert vom Ausmaß der tatsächlichen Schäden. Lange wurde auch der sog. Westen im Unklaren gelassen. Dort gab es aber bereits eine breitere Anti-Atomkraft-Bewegung und einige WissenschaftlerInnen, die ihr Wissen öffentlich machten und zur Verfügung stellten.
Die Generation der unter Fünfunddreißigjährigen kennt Tschernobyl und die Folgen meist nur vom Hörensagen und ist mehrheitlich eher desinteressiert; Fukushima könnte das geändert haben. Manche suchen nach dem ultimativen Kick und reisen als Katastrophen-Touristen nach Tschernobyl und in die verbotene Zone.Sie nennen sich gerne Stalker (und erinnern damit - gewollt oder nicht - an den gleichnamigen, hellsichtigen Film von Andrej Tarkowski von 1979, der ebenfalls in einer verlassenen, öden Zone spielt, viele Jahre bevor diese Visionen Wirklichkeit wurden - in Tschernobyl).
Ein ukrainischer Forstmeister erzählt von seinen schwierigen, oft enttäuschenden Versuchen, die kontaminierten Waldbestände sukzessive wieder aufzuforsten. Neubepflanzung sei zwar gelungen, es gäbe sogar schon wieder grüne Flächen, aber die Wurzeln holten die Radioaktivität immer wieder aus dem Boden, Jahr für Jahr, bis heute. Und so weiter...
Nachtrag:
In Tokio gehen am 24.04.2011 erstmalig in der japanischen Geschichte Tausende auf die Straße, um gegen Atomkraft und die Politik der Betreiberfirma Tepco in Fukushima zu protestieren. Sie fordern eine Energiewende und den Ausstieg aus der Kernenergie: Bye Bye genpatsu (Atomkraft)!
04/2010-11