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Nachruf auf Václav Havel (1936 – 2011)

von Volker Strebel

 


 

Als „klein und schmächtig, mit schütterem dunkelblonden Haar und einem pessimistischen Schnurbart“ beschrieb der Londoner Geschichtsprofessor John Keane in seiner Biografie den tschechischen Dramatiker und Bürgerrechtler Václav Havel in den 1980er-Jahren. Eine der ganz wenigen zutreffenden Beschreibungen in diesem Buch.

Zu Zeiten, als Havel in seiner Heimat nichts veröffentlichen durfte, führte der im Exil lebende Karel Hvížd’ala ein über Boten ausgetauschtes schriftliches Gespräch mit ihm durch, das unter dem Titel Fernverhör erschienen ist. Eindrucksvoll berichtet Havel hier von seiner Kindheit, seiner Familie und seiner Jugendzeit in Prag. In frühen Jahren traf er sich mit jungen unangepassten Künstlern und Dichtern. Im Windschatten einer sich vorsichtig öffnenden sozialistischen Kulturpolitik der frühen 1960er-Jahre gelangen einzelne Veröffentlichungen. Die jungen Leute stellten kritische Fragen und wollten den Panzer des Schweigens über die Verbrechen des Stalinismus aufbrechen. Sie entdeckten, dass mitten unter ihnen Künstler wie Jiří Kolář, Olga Scheinpflugová oder Vladimír Holan lebten, die zum Schweigen verurteilt waren. „Der Gedanke“, schreibt Havel dort, „daß diese Leute irgendwo unter uns leben, daß wir sie vielleicht treffen, war faszinierend“.

An derlei Passagen lässt sich das Zusammenfallen von künstlerischem Engagement und politischer Interessiertheit ableiten. Havel, den es sehr früh zur Welt des Theaters gezogen hatte, konnte nicht in diesen Kosmos abtauchen, ohne zu vergessen, was der real existierende Sozialismus in seinem Land anrichtete. Ohne die großspurigen Gesten jener „wahren Patrioten“, die sich allerdings immer erst dann zu Wort melden, wenn es nichts mehr kostet, erwies sich Havel in seinem literarischen wie staatsbürgerlichen Engagement als der eigentliche Patriot.

Den Prager Frühling von 1968 hatte Havel mit lebhafter Anteilnahme erlebt und nach seinen Möglichkeiten mitgestaltet, eine bleibende Skepsis über den Ausgang dieses Reformexperiments hatte jedoch einen euphorischen Überschwang nicht zugelassen. Nur zu gerne hätte sich Havel mit seiner Grundskepsis gegenüber der Reformierbarkeit sozialistischer „Systeme sowjetischen Typs“(Zdeněk Mlynář) von der Geschichte widerlegen lassen.

Nach der gewaltsamen Niederwerfung des Prager Frühlings wurde Zug um Zug das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht. Unter der Führung von Gustáv Husák waren die 1970er- und 1980er-Jahre von der sogenannten Normalisierung geprägt. Diese bleierne Zeit findet sich in Havels Theaterstücken wieder, die – ganz in der Tradition tschechischer Literatur – die Nähe zum Leben mit einem Hang zur absurden Komik verknüpft. Merkwürdige Figuren wie Direktoren, Sekretäre, Vorsitzende und Richter haben das Wort, ohne eigentlich etwas zu sagen zu haben. Der real existierende Sozialismus brachte auf unfreiwillige Weise eine in der Wirklichkeit enthaltene Surrealität zur Entfaltung. Eine Komik, die nicht immer spaßig war, da das Regime nicht mit sich spaßen ließ. Havel hatte unzählige Schikanen zu erleiden, die sich durch alle Bereiche seines Lebens zogen. Als im Januar 1977 die Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77 ihren Appell an die Regierung in Prag veröffentlichte, der auf die Einhaltung jener Menschenrechte hinwies, die von ihr in der Schlussakte von Helsinki am 01. August 1975 mitunterzeichnet worden waren, begann eine Hexenjagd im Lande. Havel, einer der Mitbegründer und Initiator der CHARTA 77, wurde in einem „lupenreinen“ Gerichtsverfahren mit anderen Mitstreitern zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Doch er hatte sich nicht unterkriegen lassen. Seine Stimme fand zusehends Verbreitung in den Untergrundveröffentlichungen und wurde auch im westlichen Ausland mehr und mehr beachtet. Unter den Argusaugen eines Polizeiregimes hatte sich in der ČSSR eine Art Parallelkultur zu entwickeln begonnen. Von Dichterlesungen und Theateraufführungen in privaten Wohnungen bis hin zu Rockkonzerten in irgenwelchen Scheunen auf dem Lande – auch auf Havels Privatgrundstück in Hradeček.

Als in den Tagen der Samtenen Revolution im Herbst 1989 in Böhmen der Slogan „Rückkehr nach Europa“ auftauchte, erfüllte sich eine Vorstellung Havels, der die eigene Freiheit immer in einem europäischen Kontext gesehen hatte. Prag war schließlich von ihrer geschichtlichen Bestimmung her keine osteuropäische Provinzstadt, sondern hatte über Jahrhunderte im Herzen Europas dessen Geschicke entscheidend mitgeprägt.

1989 bis 2003 war Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei und später Tschechiens. Er blieb Mahner im eigenen Land und suchte unermüdlich den Kontakt zur Welt aufrechtzuerhalten. Seine international anerkannte Persönlichkeit und der Respekt, den er weltweit genoß, nutzte er gerne, um Denkanstöße nach Böhmen zu importieren. Viele Persönlichkeiten, darunter der Dalai Lama, Madelaine Albright oder der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker zählten zu seinen Freunden.

Für die politische Zukunft setzte Václav Havel seine Hoffnungen unverdrossen auf das europäische Projekt. Dass die Globalisierung auch Verwüstungen und eine Nivellierung im eigenen Land zur Folge haben, lag nach Havel weniger an der Globalisierung, sondern eher im Selbstverschulden der Menschen. In seinem eigenen Lebensweg hatte Havel sein politisch-philosophisches Verständnis demonstriert: Der Einzelne in seiner unmittelbaren Verantwortung steht in der Pflicht. Nicht von ungefähr war einer seiner einflussreichsten Essays mit dem Titel Die Macht der Machtlosen“ überschrieben – zu einer Zeit, als Havel noch ein von der Staatssicherheit rund um die Uhr observierter Dissident war.

Bei allen Turbulenzen und Verschiebungen im Leben Václav Havels hatte es auch Beständiges gegeben. Ab und an, wenn sich keine Auswege zeigten und die Selbstzweifel überhand zu nehmen drohten, griff Havel auf die bewährte Flucht zu seinem Landhaus nach Hradeček zurück.

Am Morgen des 18. Dezembers ist Václav Havel dort einem langjährigen Krebsleiden erlegen.

 

 

 

 

   

      

Havel als Häftling- RTEmagic

 

 

 

Havel-Prag, Nov. 2011

 

18.12.2011-Prag 

 

 

Vom Dichter zum Präsidenten 

Mehrere Jahre Gefängnis, Beobachtung durch die Polizei über Jahre hinweg: Das alles wegen zahlloser Versuche, die staatliche Autorität in Frage zu stellen. Wenn derartige Stationen in einem Lebenslauf auftreten, ja eine Biografie geradezu dominieren, taucht normalerweise zunächst Skepsis auf. Nicht so bei ihm: Václav Havel, Dramatiker, Dissident und ehemaliger Präsident der Tschechischen Republik. Seine moralische Integrität ließ ihn schon frühzeitig zu einer bemerkenswerten Persönlichkeit der jüngeren tschechischen Geschichte werden.

Geboren wurde Vaclav Havel am 5.10.1936 in Prag. Er entstammt einem wohlhabenden, bürgerlichen Elternhaus. Sein Großvater, ein bekannter Architekt und Bauunternehmer, errichtete u.a. den Kulturpalast Lucerna in Prag. 1948 wurde die Familie enteignet. Als Kind bourgeoiser Eltern durfte er nicht das Gymnasium besuchen, doch bereits 1954 holte er in einer Abendschule das Abitur nach. Er durfte nicht an die Kunsthochschule, stattdessen absolvierte er ein Studium an der Technischen Hochschule (1955-57). In diese Jahre fielen Havels erste dramatische und essayistische Versuche. Schon damals fiel er bei einem Schriftstellertreffen wegen seiner mutigen Rede auf. Havel beteiligte sich an halboffiziellen Lesungen und Veranstaltungen und wurde Mitglied der Gruppe 42, der Intellektuelle wie Milos Forman, Vera Linhartová und Josef Topol angehörten.

Ab 1960 arbeitete er am Theater am Geländer, zunächst als Techniker, später als Dramaturg und Dramatiker. Die Uraufführung seines ersten größeren Stückes Das Gartenfest erfolgte 1963, zwei Jahre später erschien sein zweites Drama Die Benachrichtigung. Auch im Westen schenkte der Literaturbetrieb Mitte der 1960er Jahre dem Namen Havel zunehmend Aufmerksamkeit.

Wie für viele seiner Mitstreiter war 1968 für Havel ein Jahr zahlloser Aktivitäten: Nach dem Scheitern der Reformansätze Dubčeks schloss sich Havel der breiten antistalinistischen Opposition an. Er wurde Vorsitzender eines Clubs unabhängiger Schriftsteller, schrieb Reden und Kommentare zur aktuellen politischen Situation, sein Stück Erschwerte Möglichkeit der Konzentration erschien im selben Jahr.

Die Niederschlagung des Prager Frühlings bedeutete für Havel wie für Tausende Intellektuelle im gesamten Land ein Aufführungs- und Publikationsverbot im gesamten Ostblock. Seine Ablehnung der so genannten Politik der Normalisierung wurde mit Bespitzelung, Verfolgung und Demütigungen bestraft. Das Leben als Dissident - ein Begriff, den Havel nur ungern selbst verwendete - sollte 20 Jahre dauern. Dabei wurde er niemals pharisäerhaft: "Ich bin weit von der Auffassung entfernt, dass die einzigen ehrlichen und verantwortungsvollen Menschen diejenigen sind, die sich außerhalb der existierenden Strukturen und in der Konfrontation mit ihnen befinden."

Die meiste Zeit verbrachte Havel zusammen mit seiner Frau Olga in einem kleinen Häuschen in Hradeček in Nordböhmen. Er arbeitete eine Zeitlang als Hilfsarbeiter in einer Brauerei und verfasste nebenher zahlreiche Stücke (Die Retter, Das Berghotel, Largo Desolato, Versuchung, Sanierung u.a.). Fast alle diese Stücke thematisieren die Schwierigkeit des einzelnen, in einer von scheinbar anonymen Mächten geprägten Gesellschaft eine eigene Identität zu finden, und wurden in den westlichen Nachbarstaaten, vor allem am Wiener Burgtheater uraufgeführt. Die Datscha der Havels avancierte zum wichtigen Treffpunkt verschiedener oppositioneller Strömungen.

Einen zentralen Stellenwert im Kampf gegen das "Leben in Lüge" nahm die Veröffentlichung und Verbreitung von Untergrundliteratur ein, als deren Herausgeber Havel zusammen mit anderen Intellektuellen im Samisdat-Verlag Edice Petlice (Verlag hinter Schloß und Riegel) von Ludvik Vaculik fungierte. In der von Havel herausgegebenen Reihe Edice Expedice wurde veröffentlicht, was den Bürgern von staatlichen Stellen vorenthalten wurde.

1975 erschien der erste größere politische Essay Havels, ein offener Brief an Staatspräsident Gustav Husák. Die Analyse der gesellschaftlichen Situation mündet in die Warnung: "Mich ängstigt, womit wir alle die drastische Unterdrückung der Geschichte werden bezahlen müssen."

Mit der Charta 77, benannt nach dem Erscheinungsjahr ihrer Grundsatzerklärung, entstand ein neuer Kristallisationspunkt der Opposition. Ihre Mitglieder - nur 242 Personen hatten die Charta zunächst unterschrieben, darunter auch Havel - definierten die Charta nicht als Organisation, sondern als "eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung der Bürger- und Menschenrechte in unserem Land und in der Welt einzusetzen".

In den folgenden Jahren wurde Havel mehrmals verhaftet und eingesperrt. Ab 1978 stand er unter ständiger Polizeiaufsicht, zeitweise durfte er sein Haus nicht verlassen. 1979, nach einer Anklage, "unter der Einwohnerschaft der Republik Feindschaft gegen die sozialistische Staatsordnung hervorzurufen", wurde er zu viereinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Ein Angebot, das Land zu verlassen, lehnte er ab. Nach seiner Entlassung fing Havel bald wieder an zu schreiben, zahlreiche Preise im westlichen Ausland unterstützten sein Schaffen. Doch Verfolgung und Drangsalierung bis hin zu erneuter zeitweiliger Verhaftung nahmen kein Ende. Noch einmal, Anfang 1989, verurteilte man ihn zu einer neunmonatigen Haftstrafe. Doch der Auflösungsprozess des alten Regimes war schon zu weit fortgeschritten. Havel wurde vorzeitig entlassen.

Zwei Tage nach der Gründung des Bürgerforums am 20. November 1989 spricht Havel vom Balkon des Melantrich-Verlags zu einer großen Menschenmenge auf dem Wenzelsplatz. Nach dem Rücktritt des gesamten Politbüros weitere zwei Tage später, hektischen Tagen und Nächten der Diskussion und Verhandlungen mit Regierungsvertretern wird Havel am 29. Dezember zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. Sein politisches Credo hatte er bereits 1978 verkündet: "Je weniger irgend eine Politik von dem konkreten menschlichen 'Hier und Heute' ausgeht, je mehr sie sich an irgend ein abstraktes 'Irgendwo' und 'Irgendwann' klammert, um so leichter kann sie zu einer neuen Variante der Versklavung der Menschen werden." (aus: Prag-Reiseführer)

 

Werk-Auswahl

- Die Vanek-Trilogie. Audienz, Vernissage, Protest. Versuchung. Sanierung. Rowohlt, Reinbek 1989, ISBN 3-499-12737-7

- Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis. Rowohlt, Reinbek 1989, ISBN 3-499-12732-6

Moral in Zeiten der Globalisierung. Rowohlt, Reinbek 1998, ISBN 3-499-22382-1

- Fernverhör. Rowohlt, Reinbek 1990, ISBN 3-499-12859-4

- Die Gauneroper Das Berghotel. Erschwerte Möglichkeit der Konzentration. Der Fehler. Theaterstücke. Rowohlt, Reinbek, 1990, ISBN 3-499-12880-2

- Fassen Sie sich bitte kurz. Gedanken und Erinnerungen zu Fragen von Karel Hvízd'ala. Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 3-498-02990-8 (Autobiographie 1990–2003)

- Odcházení (= Abgang), Theaterstück, Uraufführung am 22. Mai 2008 im Divadlo Archa in Prag, deutschsprachige Uraufführung am 25. April 2009 am Theater Aachen.

- Fünfzehn Stimmungen. Briefe aus dem Gefängnis mit Photographien des Magnum Reporters Erich Lessing. Verlag Thomas Reche, Neumarkt i. d. Opf. 2011, ISBN 978-3-929566-99-4

 

 

 

Václav Havel und Bill Clinton im Prager Reduta Jazzclub , 1994

 

s. hier auch: In eigener Sache, Spots

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



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