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Vereintes Europa, geteilte Geschichte

von Timothy Snyder


Wie lässt sich die Aufgabe, eine gemeinsame europäische Kultur zu schaffen, mit den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kulturellen Unterschieden vereinbaren? Wie lässt sich das Projekt der Erweiterung der Union mit der Vertiefung der europäischen Solidarität verbinden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen, die der Spannung zwischen zentralen Konzepten des Europa-Papiers entspringen, will der vorliegende Kommentar auf ein Problem (und gleichzeitig eine Chance) aufmerksam machen, mit der sich alle Europäer konfrontiert sehen, denen die Solidarität in der Union am Herzen liegt: das Fehlen einer gemeinsamen, von Ost- wie Westeuropäern akzeptierten Version der Nachkriegsgeschichte.

Obwohl die Verbindung nicht einfach zu rekonstruieren wäre, scheint es doch offensichtlich, dass Gefühl europäischer Solidarität Hand in Hand mit dem Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Geschichte gewachsen ist. Einen Anteil an diesem Geschichtsbewusstsein haben jene Epochen und Ereignisse, die alle Europäer gerne für sich in Anspruch nehmen. Das sinnfälligste Beispiel hierfür ist die Darstellung der Stilepochen auf den Euro-Banknoten. Schwerer wiegt die gemeinsame historische Erfahrung, welche die Mitglieder der alten Europäischen Union seit Ende des Zweiten Weltkriegs gemacht haben. Obwohl jede Nation ihre eigene Version dieses Kapitels der Geschichte hat, kann man das gemeinsame westeuropäische Nachkriegs-Narrativ ungefähr so zusammenfassen: Der Zweite Weltkrieg hat uns gelehrt, dass Europa in Frieden leben muss, und die europäische Integration hat nicht nur diesen Frieden gefördert, sondern auch Wohlstand für alle.
Was stimmt nicht an diesem Bild? Wie bei jeder historischen Darstellung ist die Wahl des Anfangspunkts wichtig. Für das westeuropäische Nachkriegs-Narrativ ist dies 1945. Dieses Jahr markiert zurecht einen Einschnitt: Es war der Moment der Einsicht in die Notwendigkeit eines Neuanfangs; es war der Anfang der deutsch-französischen Versöhnung und in der Folge des europäischen Projekts. Eine völlig andere Bedeutung hat dasselbe Jahr 1945 in fast ganz Osteuropa, für fast all Bürger jener Länder, die der Union 2004 beitraten. Für sie bedeutet 1945 den Ðbergang von einer Besatzungszeit zur nächsten, von der Naziherrschaft zur Sowjetherrschaft. 1945 markiert hier den Anfang einer volle zwei Generationen währenden kommunistischen Ära, die für die wenigsten eine Erfahrung politischen und wirtschaftlichen Fortschritts mit sich brachte.
Die Nachkriegsepoche mit 1945 zu beginnen, hat insbesondere Deutschland (und in einem gewissen Maþe auch Österreich) die Chance zu einem historischen Neuanfang geboten. Die Beteiligung Westdeutschlands am europäischen Projekt entsprang auch dem Bedürfnis der Nation, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs wiedergutzumachen. Dies schlug sich in einem besonderen Verhältnis zum Staate Israel nieder. Und im Kalten Krieg motivierte es sowohl die Sozial- als auch die Christdemokraten zu ihrer Ostpolitik gegenüber der Sowjetunion und ihren Satelliten. Heute, 60 Jahre später, glauben die Deutschen, dieses Projekt wenn nicht abgeschlossen, so doch auf achtbare Weise verfolgt zu haben. Die Deutschen haben sich, so möchte man meinen, das Recht erworben, ihre Geschichte mit 1945 neu beginnen zu lassen.Das sehen jedoch viele Osteuropäer anders. Nach dem Holocaust hat sich der Schwerpunkt der politischen Geschichte der Juden von Osteuropa nach Israel verlagert, und den deutschen Versuche, ein korrektes Verhältnis zu Israel (und anderen jüdischen Gemeinschaften) zu pflegen, wird in Osteuropa wenig Bedeutung beigemessen. Die westdeutsche Ostpolitik galt weniger den osteuropäischen Gesellschaften als der Verbesserung der Beziehungen zu den kommunistischen Regimen. Im Ðbrigen war sie hauptsächlich an die Sowjetunion und Ostdeutschland adressiert. Ob das damals der richtige Ansatz war, kann man in Frage stellen; unter dem Strich scheint es die richtige Politik gewesen zu sein. Aber man kann nicht erwarten, dass die deutsche Ostpolitik im vom Kommunismus befreiten Osteuropa als besonders groþzügige Geste erinnert wird. Eben jene Politik, aus der die Deutschen das Gefühl der Berechtigung schöpfen, die Geschichte mit 1945 neu beginnen zu lassen, kann in Osteuropa nicht überzeugen.

Darüber hinaus haben die Osteuropäer bestimmte Seiten der deutschen Okkupation nicht vergessen, die in der westeuropäischen Darstellung der Geschichte nicht vorkommen. So wissen sie, dass die Ostfront für das Ende des Krieges wichtiger war als die Westfront. Sie wissen, dass die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa ungleich grausamer war als in Westeuropa. Sie wissen, dass die Opferbilanz deutscher Massenmorde an Zivilisten weit über den Holocaust hinausgeht. Kein Pole oder Jude würde z.B. den Ghettoaufstand 1943 mit dem Warschauer Aufstand 1944 verwechseln - was Westeuropäern häufig unterläuft. Dass die Franzosen kaum etwas über den Warschauer Aufstand wissen, deutet auf ein beschränktes Interesse an der Geschichte des Widerstands hin. Dass kaum ein Deutscher vom Warschauer Aufstand gehört hat, heiþt, dass es offensichtlich noch immer nicht ins Bewusstsein vorgedrungen ist, dass die deutschen Truppen in Warschau zehntausende Zivilisten umgebracht und diese benachbarte europäischen Hauptstadt schlieþlich bis auf die Grundmauern niedergebrannt haben.
Natürlich sind diese Tatsachen den deutschen Historikern, der deutschen Elite bekannt. Das Problem besteht in einem Mangel an Bildung für die breite Mehrheit. Solange die westeuropäische Geschichtsversion unkorrigiert bleibt, werden die Öffentlichkeiten hier Schwierigkeiten haben, Verständnis für das Verhalten der osteuropäischen EU-Mitglieder aufzubringen. So ist die polnische Entscheidung, sich an der Besetzung des Irak zu beteiligen (die wohl auch von der Mehrheit der Polen als ein Fehler gesehen wurde), nur nachvollziehbar, wenn man sich ein wenig in der polnischen Nachkriegsgeschichte auskennt, welche die Polen für amerikanische Befreiungsrhetorik empfänglich gemacht hat. Ebenso entspringt der polnische Widerstand gegen den Plan eines "Zentrums gegen Vertreibung" geschichtlicher Erfahrung.
Das Unverständnis und der Mangel an Solidarität gehen in beiden Fällen auf das Fehlen einer übergreifenden, im Osten wie im Westen gleichermaþen akzeptierten Darstellung der europäischen Geschichte zurück. Die meisten deutschen und französischen Reaktionen auf die polnische Irak-Politik unterstellten den Polen einen blinden und reflexhaften Proamerikanismus. In Wahrheit erwuchs das Vertrauen in die USA aus ihren Erfahrungen im Kalten Krieg. Von deutscher Seite (auch von Wissenschaftlern) wird gerne das Argument vorgebracht, dass die Polen nicht fähig seien, sich mit der Vertreibung der Deutschen auseinanderzusetzen, weil dies eine Art nationales Tabu sei; oder die polnischen Vorbehalte gegen ein Vertreibungsmuseum werden gleich als polnischer Nationalismus verurteilt. In Wahrheit befürchten viele Polen, dass den Deutschen nicht bewusst ist, welche Dimension die Vertreibungen während der Besatzung durch die Nazis und den beiden sowjetischen Okkupationen hatten. Darüber hinaus haben sie den Eindruck, dass die Deutschen noch nicht die ganze Vergangenheit aufgearbeitet haben, die den Vertreibungen vorausging.
Die Zukunft der europäischen Solidarität hängt also von der Neubewertung und -erzählung der jüngeren Vergangenheit Europas ab. Ohne historische Wissen über den Osten des Kontinents werden die Westeuropäer in ihren jeweiligen nationalen Vorurteilen gefangen bleiben. Und ihre Politiker werden - gleichgültig, ob sie die Wahrheit kennen oder nicht - weiterhin der Versuchung erliegen, diese Stereotypen im Getümmel des täglichen politischen Kampfes zu instrumentalisieren. Den Osteuropäern wiederum wird es schwer fallen, sich als volle Mitglieder der Union zu fühlen, solange ihre Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht integraler Bestandteil einer übergreifenden Darstellung der europäischen Geschichte sind. Innerhalb Osteuropas sind diese Erfahrungen so ähnlich und zugleich von jenen der Westeuropäer so verschieden, dass mit der Erweiterung vom Mai 2004 eine echte Herausforderung entstanden ist.


Die Europäer müssen ihre Geschichte neu schreiben. Wenn diese neue Version Gültigkeit für den Osten wie den Westen besitzen soll, muss sie zwei Dingen Rechnung tragen: der Tatsache, dass das Zentrum des Leidens im Zweiten Weltkrieg im Osten lag und dass die Osteuropäer vier Jahrzehnte kommunistischer Unterjochung ertragen mussten, während deren die Westeuropäer sich der Früchte der europäischen Integration erfreuen durften. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, das ganze Gewicht von Nazi- und Sowjetterror anzuerkennen. Schlieþlich baut die Europäische Union auf der Einsicht auf, dass der Totalitarismus niemals zurückkehren darf. In der Praxis verlangt diese Einsicht allerdings ein gewisses Maþ an Demut. Man hört heute oft das Argument, die Amerikaner könnten, was totalen Krieg und politischen Terror angeht, etwas von den Europäern lernen, da diese doch durch die Schrecken des 20. Jahrhunderts gegangen seien. Das ist richtig. Doch gilt dasselbe für die Westeuropäer: Sie haben noch viel von ihren Mitbürgern im Osten zu lernen.


© Timothy Snyder, Transit; mit freundlicher Genehmigung von MMag. Marion Gollner, Institute for Human Sciences / Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), www.iwm.at

 



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