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Das ist das Schwerste: sich verschenken

und wissen, dass man überflüssig ist,

sich ganz zu geben und zu denken,

dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.

23.12.1941

Selma Meerbaum-Eisinger

  

 

 

 

Von Katja Schickel

 

Empfehlenswert ist die instruktive Einleitung zu den Vorgängen in Deutschland und Österreich in den Monaten vor dem Überfall auf Polen, dem Beginn des 2.Weltkriegs. In den Monaten vorher, dem Anschluss Österreichs und dem Kriegsbeginn - wurde ein flächendeckender Ausnahmezustand gegen die Juden verhängt, sie wurden ihrer Existenzgrundlage beraubt; fortschreitende, brutale Arisierung und das Novemberpogrom mit seinen Ausschreitungen, Verhaftungen und Ermordungen zeigten nochmals überdeutlich die lebensbedrohliche Lage, andererseits wurden Flucht und Emigration vehement erschwert.

 

Das Erschreckende, das in jeder Notiz, in jedem bürokratischen Schreiben, jeder polizeilichen Anordnung, in angedrohten und später ausgeführten Maßnahmen, in persönlichen Kartengrüßen und lapidaren wie verzweifelten Briefen zum Ausdruck kommt, ist nicht nur unerträglich wegen der Inhalte, die da verhandelt und dokumentiert werden. Es wird ja nicht nur von Amts wegen, von Institutionen, sondern individuell (unter Arbeitskollegen, im früheren Freundes- und Bekanntenkreis, zwischen Nachbarn und in der Verwandtschaft) auf- und abgerechnet; die beklagten oder gut geheißenen Zustände, die alltäglichen Szenarien kommen durch die jeweilig benutzten Worte - Sticheleien, Androhungen, gestanzte Formulierungen und Floskeln - schmerzhaft deutlich zur Sprache. Erschreckend ist vor allem auch, dass uns die Lektüre von Schriftmaterial aus den Jahren 1938 – August 1939 zwar unheimlich und unbegreiflich, aber - wie zumindest hätte vermutet werden können – nicht doch fremder erscheint, sondern dass uns die Sprache der Anmaßung von Amts wegen, die dreiste, skrupellose Denunziation, die moralisch (oder taktisch) begründete Anpassung und Unterwürfigkeit, diese Haltungen von Indifferenz, schlechtem Gewissen und (Un-)Verschämtheit, vom lieber Wegschauen als Zivilcourage zeigen, das schnelle, unverfrorene Profitieren von der Rechtlosigkeit und Ohnmacht anderer Menschen immer noch allzu bekannt vorkommen. 

 

Der Band hat alle Dokumente präzise gegeneinander geschnitten: Auf eine Maßnahme, einen Aktenvermerk (und jeder Hinterbänkler scheint noch eine weitere perfidere Idee zusätzlicher Drangsalierung in petto zu haben), folgen Sätze über deren Auswirkungen; auf Verbote und die Strafandrohungen bei Nichteinhaltung liest man – nach allem Zynismus manchmal wirklich aufatmend – vom listigen Umgehen dieser Kontrollmechanismen, von Widerständigkeit – Hilfsgesuchen wird harsche Abfuhr erteilt, aber sie werden auch ernst genommen und aktiv unterstützt. Oft hat es mit dem eigenen politischen Selbstverständnis zu tun, manchmal mit einem Charakter, dem Rücksichtslosigkeit und Unrecht einfach zuwider sind; Solidarität hat auch mit den eigenen persönlichen Möglichkeiten und Ressourcen zu tun. Je nach eigenem Temperament reagieren die, die nicht einverstanden sind, mit Hilflosigkeit (aber manchmal doch mit kleinen Gesten des Respekts, der Anteilnahme), aber auch mit Widerstand (schmieden z.B. Pläne, wie man Auswanderung bewerkstelligen oder bedrohte Menschen verstecken kann).- Erst diese Komposition ergibt ein solch eindringliches, vielstimmiges Stück Zeitgeschichte, die alle unsere Sinne, Wahrnehmungen und Gedanken in heilsamen Aufruhr versetzt. Kein Dokument, kein Kartengruß, kein verzweifelter Brief, keine höhnische Abrechnung kann für sich allein das System bloßstellen und ad absurdum führen. Erst in den Hinweisen, was z. B. Anordnungen auslösen, nicht nur bei den Opfern, sondern auch bei den Profiteuren, den Mitläufern und Gaffern, wie das Wechselspiel von Ursache und Wirkung funktioniert, entsteht so etwas wie die lebendige Essenz dieser Zeit.

Geht es in den amtlichen Verlautbarungen hauptsächlich um die mehr oder weniger diskrete Handhabung von Ausgrenzung und Vernichtung, sind die persönlichen statements der Nazi-Anhänger geprägt von offener Missgunst, Vorurteilen, Boshaftigkeit und Rachegelüsten. Hier geht Oben und Unten Hand in Hand: jede/r will ein Stück des Kuchens (wenn´s geht das jeweils größere), sich eben auf jede nur erdenkliche Weise bereichern. Auf allen Ebenen wird Front gemacht, martialisch oder eloquent: Antreiber und Handlanger ist nicht der „Pöbel“ - es sind Studenten, Wissenschaftler, Professoren: die deutsche Intelligenz, die sog. Elite (heute nennt man sie gerne Leistungsträger). Die schwankt zwischen Offenlegung, Siegestaumel und Vertuschung von Unrecht und Gewalt (Der Zweck heiligt schließlich die Mittel). Agitationsfelder sind Kindergärten, Schulen und Universitäten, die Ärzte- und Anwaltskammern sowie Wirtschaftsunternehmen, Vereine - vom Fußball-Klub bis zu bibliophilen Vereinigungen. Die Dokumente zeigen, wie sich Macht inszeniert, wie jeder einzelne dieser Täter seine Position festigen will. Schließlich geht es um ihre tätige Teilhabe an Herrschaft und Kontrolle, was man heutzutage schmeichlerisch Privilegien nennt.

Bieten sich all diese Herrschaften umstandslos und sofort an bzw. lassen sich allmählich einbinden, so sind andererseits auf jüdischer Seite ausnahmslos alle Menschen in diesem System immer abstruser werdender Verordnungen gefangen, den alltäglichen Erschwernissen ausgesetzt, von Willkür, Misshandlungen und Überfällen bedroht. Ausgeschlossen und damit erwerbslos werden massiv: alle jüdischen Lehrlinge, ArbeiterInnen, soweit sie nicht ausdrücklich angefordert werden, LehrerInnen, SchülerInnen, das gesamte jüdische Hochschulpersonal, die Ärzteschaft, Juristen, Handwerker und Kaufleute (Kauft nicht bei Juden!). Das vorherrschende Klima ist geprägt von Verachtung und Erpressung.

 

Erlassen werden Verbote von Besitz aller Art; die Benutzung bestimmter Aufenthaltsorte (z. B. Parks, Schwimmbäder, Kinos, Theater) und öffentlicher Verkehrsmittel wird weiter reglementiert; Verzeichnisse über beschlagnahmtes Geld, Wertgegenstände und Möbel sind zu erstellen, wie überhaupt die Aufdeckung der Vermögensverhältnisse oberste Priorität zu haben scheint. Bis heute hält sich die Mär des „reichen Juden“ (in Berlin nicht einmal 2%). Die Arisierung von Wohnungen geschieht mithilfe von Blockwarten und habgierigen Nachbarn, von Vermieter-Seite durch „fristlose Kündigungen“. Angeeignet wird sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, eine juristische Instanz, die diese Raubzüge unterbinden würde, gibt es nicht. Die Rechtlosigkeit ist allumfassend geworden.

Von Amts wegen ist Emigration zwar ein gewünschter Effekt dieser brutalen Politik, aber sie ist an finanzielle Bedingungen geknüpft: Für die Ausreise soll gezahlt, Besitz muss abgetreten werden.

Andere Länder wollen Bürgschaften, gültige Affidavits. Viele jüdische Familien haben jedoch weder die finanziellen Mittel noch hilfreiche Beziehungen. Mit Bittbriefen an Einzelpersonen bzw. Organisationen, die Auswanderung ermöglichen wollen, suchen viele Menschen in höchster Not Hilfe und Beistand.


Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945

Herausgegeben im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte und des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität von: Götz Aly, Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Kreikamp, Horst Möller, Dieter Pohl und Hartmut Weber

Band 2 : Deutsches Reich 1938 – August 1939 – Bearbeitet von Susanne Heim, 865 S.

R. Oldenbourg Verlag München 2009

ISBN: 978-3-646-8523-0

 

 

Anhang 

Ein nationalsozialstaatlicher Täter, der später von nichts gewusst haben will, macht sich Sorgen um sein Prestige-Objekt und einige effiziente Gedanken zur Umsiedlung störender Elemente

Albert Speer bittet am 6. Oktober 1938 das Reichwirtschaftsministerium, die Massenkündigung jüdischer Mieter in Berlin zu unterstützten

Vertrauliches Schreiben von Generalbauinspektor Albert Speer an Herrn Stadtrat Schmeer im RuPrWM vom 6.10.1938

 

Lieber Schmeer,

Nachstehend möchte ich Dir folgenden Sachverhalt vertraulich mitteilen.

Durch die im Rahmen der Neugestaltung der Reichshauptstadt notwendig werdenden zahlreichen Abrisse von Wohngebäuden werden für die nächste Zeit etwa 2500 Großwohnungen, d. h. solche über 5 Wohnräume, benötigt. [...] Ich beabsichtige daher, zu versuchen [...], den jüdischen Mietern von Großwohnungen zu kündigen. [...] (Ich) habe mit der Deutschen Arbeitsfront vereinbart, dass diese durch ihre Blockwalter in den politischen Kreisen I, II und IV etwa 2500-3000 jüdische Großwohnungen heraussucht und mir das Ergebnis dieser Ermittlungen zustellt.

Unabhängig davon läuft eine Aktion bei dem Reichsjustizministerium auf Entzug des Mieterschutzes für Juden überhaupt. 

Ob insbesondere in Berlin, wo etwa 50000 jüdische Haushaltungen vorhanden sind, diese Aktion schon so rechtzeitig durchgeführt werden kann, dass diese jüdischen Wohnungen als Ersatzräume für die abgebrochenen Häuser dienen können, möchte ich bezweifeln, da vorläufig die Frage der Unterbringung der Juden noch nicht geklärt ist.

Ich beabsichtige daher, meinen Plan unabhängig vom Vorgehen des Reichsjustizministeriums beschleunigt voranzutreiben, und wäre Dir dankbar, wenn Du diese Bestrebungen unterstützen würdest. [...]

Die Errichtung eines... Blockes von 2500 Kleinwohnungen würde nach oberflächlicher Schätzung etwa 25 Millionen betragen. [...] Für die von mir beabsichtigte Umsiedlung der jüdischen Großwohnungsmieter würde ich mithin einen Beitrag von etwa 40 Millionen der öffentlichen Hand ersparen können.

Ich gebe Dir hiervon zunächst vertraulich Kenntnis.

Heil Hitler!

 

mit freundlicher Genehmigung des Verlags, © Oldenbourg Verlag, München 2009 

 

© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

 

 

 

 

 

 

  



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