Kulturen des Vertrauens – Religion, Literatur, Politik und Alltag
Beständig ist vom Verlust des Vertrauens die Rede. Damit einhergehend entsteht im Alltagsleben ein latentes Misstrauen: gegenüber Fremden, insbesondere Angehörigen anderer Religionen, gegenüber Menschen, die angeblich den Sozialstaat ausnutzen, pauschal gegenüber den Politikern und den Medien, denen Amtsmissbrauch und Manipulation unterstellt wird. - Vertrauen verweist auf das Wort trauen, das vom althochdeutschen Wort truwen herstammt und so viel wie fest werden bedeutete, später den Sinn von glauben, hoffen erhielt, woraus sich Vertrauen schenken entwickelte. Die reflexive Form des Trauens, sich trauen = sich etwas zutrauen, bedeutet mutig sein, etwas wagen. Etymologisch Verwandte von trauen sind: das Zutrauen, die Trauung, betrauen (beauftragen), zutraulich, traulich (harmonisch, heimelig), treu, betreuen, Treuhänder (in andere, treue Hände übergeben) Auch das englische true ist mit treu verwandt. Im Deutschen ist Vertrauen stark religiös konnotiert. Die Hinwendung zur Religion hat allerdings bisher immer eher Probleme geschaffen als welche gelöst. Das 14. internationalen literaturfestivals berlin hatte AutorInnen eingeladen, Essays über ihr Verständnis von Vertrauen zu schreiben.
Viola Roggenkamp – Noch einen schönen Tag
Um uns miteinander zu verständigen, gebrauchen wir die Sprache, im Vertrauen darauf, verstanden zu werden. Doch kann kein Wortzusammenhang wiedergeben, was gefühlsgenau ausgedrückt werden soll, und die Zuhörenden verändern gemäß ihrer Möglichkeiten den Sinn des Gehörten, um verstehen zu können, und glauben dann, verstanden zu haben. Dennoch ist nicht überraschend, dass trotz der Unmöglichkeit der genuinen Übermittlung als auch der niemals unverfälschten Aufnahme, es zu Erkenntnissen kommen kann, die dem sehr nahe sind, was nicht ausgesprochen sein wollte. In der Welt der Märchen und Mythen muss vom Drachenblut getrunken oder von einer verbotenen Frucht gegessen werden, um verstehen zu können, was verheimlicht werden soll.
Sagenhafte Möglichkeiten, andere auszuforschen. Heute nennt man das technische Intelligenz. Ihr wird viel zugetraut und noch mehr anvertraut, je unbegrenzter und unüberschaubarer die Möglichkeiten werden. Das Vertrauen einer DDR-Bürgerin, die vor der SED-Macht nichts zu verbergen hatte, ihr Handy, das Handy einer Bundeskanzlerin, werde im freien Westen nicht abgehört, solche Vertrauensseligkeit einer hochrangigen Politikerin wird von der Öffentlichkeit zwar als ausgemachte Dummheit erkannt, verurteilt indessen wird der misstrauische Abhörer, der sich blindes Vertrauen zunutze macht.
Vertrauen ist die Abwesenheit von Misstrauen, ist notwendigerweise bedenkenlos. Misstrauen fragt. In der abendländisch christlichen Kultur ist Vertrauen gut beleumundet. Große Künstler haben sich in den Dienst dieses seelischen Phänomens gestellt, und Vertrauen gefeiert als sogar den eigenen Tod nicht scheuenden Edelsinn. Grenzenloses Vertrauen in eine höhere Gerechtigkeit – ist sie repräsentiert durch ein Mädchen – meint die Naivität des reinen Herzens.
Bei Goethe rettet Schön Suschen Bewohner und Viehzeug eines Dorfes vor der Flut, indem sie unbeirrt einen schmalen, schwer umtosten Steg hin und hereilt, um am Ende gottesfürchtig und in schönem Leichtsinn unterzugehen. Steht treuer Edelsinn im Zentrum des Vertrauens, wie in Friedrich Schillers Ballade Die Bürgschaft, geht es um den Mann, der dabei, je nach Stimmungslage des Autors, auch zu Tode kommen kann. Für beide – Mädchen und wackerer Held – lassen sich mühelos in Pop-Song-Texten und Graphic Novels zeitgenössische Beispiele finden. Sie befriedigen die Sehnsüchte eines zur Sentimentalität neigenden Publikums, wie es in früheren Zeiten Balladen taten, wenn sie im Familienkreis vorgetragen wurden.
Schillers Bürgschaft ist eine bis heute gültige Vorlage für die Kultur des Vertrauens unter Männern. Die episch-dramatische Dichtung feiert die Männertreue in Zeiten von Revolution und Tyrannei. Der eine bürgt mit seinem Leben für den anderen. „Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen“, verhöhnt der Freiheitskämpfer den Tyrannen. Der treue Freund wird schon zum Kreuz hoch gezogen, um anstelle des zum Tode Verurteilten, der eben noch zur Hochzeit seiner Schwester musste, das eigene Leben zu lassen, da kommt der Entschwundene, unterwegs vielfältig aufgehalten, in letzter Minute herbeigeeilt, und Friedrich Schiller, weniger Christ als Freiheitskämpfer, lässt den vermeintlichen Erlöser gerade noch rechtzeitig vom Kreuz herunterholen.
Den Tyrannen bezwingt dieses Beispiel zweier edler Männerherzen. Er „fühlt ein menschliches Rühren“ und bittet darum, in „eurem Bunde der Dritte“ sein zu dürfen, immerhin die terroristische Vereinigung, die ihn ermorden wollte. Tyrann und Terrorist, zwei größenwahnsinnige Gewalttäter, und dazwischen der bis in den Opfertod vertrauensvolle Freund. Er hat die Position des Kindes zwischen schwer verkrachten Eltern. Was gemeinhin als kindliches Vertrauen bezeichnet wird, ist ja doch nichts anderes als Ohnmacht. Wieso eigentlich konnte nicht er die Schwester des zum Tode verurteilten Attentäters zum Traualtar führen? Mit einer schriftlichen Vollmacht wäre alles zu regeln gewesen. Und wollte die Schwester, statt vergnügt Hochzeit zu feiern, den vom Tode bedrohten Bruder nicht unter allem Umständen dort bei sich behalten? Wieso überhaupt weilte sie so weit fort? Fast drei Tagesreisen. Hätte sie nicht den besten Freund des Bruders nehmen können? Hatte sie womöglich und war schon dem Erwählten vertrauensvoll zu Willen gewesen. Aber der, seiner Gefühle auf einmal nicht mehr sicher – statt der Schwester vielleicht doch lieber ihren revolutionären Bruder? – kehrte sich ab von ihr. Schnell musste ein braver Tölpel gefunden werden, möglichst weit weg, dem man Schwester samt beginnender Schwangerschaft unterschieben konnte. In der Misere, in der diese junge Frau saß, mochte sie denken: Lasst den doch hängen. Verdient hat er’s. Sie wird in der Ferne davon gehört haben, wie daheim die Männer es auf einmal so schön miteinander hatten. Zu dritt saßen sie auf dem Thron, und wenn sie nicht gestorben sind, regieren sie noch heute.
Vertrauen haben, wird im Deutschen mit Glauben gleichgesetzt, mit dem Glauben schlechthin. Für Juden ist nicht der Glaube höchstes Gut, sondern das Gesetz, und das Gesetz ist das Wort, das Wort in seiner Bedeutung. Wenn der Allmächtige mit Weltuntergang droht, vertraut Abraham nicht darauf, dass Gott schon nicht so sein wird. Der Jude schachert mit dem Allmächtigen um Bedingungen. Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte? Sollen die mit untergehen? „Fern sei von dir, solches zu tun, zu töten den Gerechten mit dem Frevler, daß der Gerechte sei wie der Frevler.“ Der Jude nimmt Gott beim Wort. „Der Richter der ganzen Erde sollte nicht üben Gerechtigkeit?“ Wir Juden verlassen uns auf unser Misstrauen.
Ich bin nicht eingeladen, und darum gehe ich hin. Ich will dabei sein, wenn sie über Juden reden. Ich will hören, wie sie über Juden reden. Ich weiß, wo sie über Juden reden werden und ab wann. Ab 9 Uhr in der 8. Klasse eines deutschen Gymnasiums.
Ein Institut, das die Vergangenheit der Juden erforscht und archiviert, will eine Mitarbeiterin schicken. Außer der Lehrerin und mir sind erst wenige Schüler da. Die Lehrerin ist nervös. Juden stehen im Allgemeinen nicht ausdrücklich auf deutschen Lehrplänen. Sie habe nichts vorbereitet, sagt die Lehrerin zu mir. „Ich dachte, das sei jetzt ein Gesamtpaket vom Institut. Auf jeden Fall nicht, dass ich das machen sollte.“
Sie vermeidet ein Wort. Es ist das Wort, um das es hier heute gehen soll: Juden. Sie vertraut darauf, dass ich weiß, was sie meint, denn sie weiß, wer ich bin. Ich bin die Jüdin. Da drängen weitere Schüler in den Raum, Fünfzehnjährige mit Skateboard unterm Arm, und dahinter kommt das Gesamtpaket: drei Frauen, ein Mann. Der Mann baut alles auf, was man heute so bei sich hat, wenn man ein Thema präsentieren will. Als er damit fertig ist, drückt er auf einen Knopf.
„Was fällt Euch zum Thema Judentum ein?“, leuchtet die Schrift von der Wand. Die Expertin lächelt in die Runde.
Juden-Experten sind natürlich keine Juden. Ethnologen gehören selten dem Volk an, über das sie forschen. Die Gründe, weshalb sich etwa Nachkommen der europäischen Kolonialherren für afrikanische und asiatische Völker interessieren, sind persönliche Gründe. Man möchte zeigen, dass man kein Rassist ist wie die Vorväter. Man hat Schuldgefühle für schwerste Verbrechen gegen die Menschheit, begangen von der weißen Rasse, zu der man gehört. Man strebt eine Wissenschaftskarriere an über das malträtierte Volk. Auch wollte man schon immer mal dort hin. Mein Misstrauen läuft auf Hochtouren. Das ist seine normale Geschwindigkeit. Es ist nicht bei allen Juden so, möchte ich hinzufügen, damit man es nicht etwa für typisch jüdisch hält. Ich kenne Juden, die unerschütterbar auf das Gute im Menschen vertrauen und mich dafür verantwortlich machen werden, dass es wieder soweit gekommen ist, wenn es soweit wieder gekommen sein sollte.
Angenommen, es wäre um die Deutschen gegangen, hätte dort an der Wand im Klassenzimmer das Wort Deutschtum gestanden? Gewiss nicht. Deutschtum? Gemütlichkeit, Vereine, Hitler, Knackwurst. Dagegen: Was fällt euch zu den Deutschen ein? Fußball, Wiedervereinigung, Mülltrennung, Wirtschaftsmacht.
Warum heißt es nicht: Was fällt euch zu den Juden ein? Wegen der Deutschen. Deutsche glauben, fürchten, ja, sie vertrauen ängstlich darauf – wer „die Juden“ sagt, wird für antisemitisch gehalten, weil ja eben auch Antisemiten „die Juden“ sagen.
Im Radio und im Fernsehen sagen sie Holocaust, wenn sie das meinen, wofür man in Deutschland und Österreich kein eigenes Wort finden kann, das überschriftentauglich und zeitsparend ist. Holocaustgedenktag in Israel, sagt der Deutschlandfunk. Warum sagen sie nicht Gedenktag der Schoa, da es um Israel geht? Bei Ramadan sagen sie doch auch Ramadan. Schoa ist das hebräische Wort für Katastrophe. Holocaust ist als Bezeichnung für den Völkermord an den Juden denkbar ungeeignet. Sakrales Brandopfer. Eine Beschönigung, eine Verklärung zum heiligen Akt sogar. Obgleich Deutsche es schwer haben, Holocaust richtig auszusprechen, halten sie daran fest. Vielleicht ist Schoa den Leuten zu jüdisch?
Israel, sagt das Radio, gedenke „der Judenverfolgung und der sechs Millionen Toten“. Es folgt die Sendung „Haben Tiere eine Seele?“. Wer sind die sechs Millionen Toten? Wie sind die zu Tode gekommen? Und was hat es mit dem Wort „Judenverfolgung“ auf sich?
Das Wort „Judenverfolgung“ kommt aus dem Kulturbeutel des Vertrauens. Der Kulturbeutel ist ein Produkt aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Er gehört zum persönlichen Besitz, ist nicht besonders groß, verfügt über einen Reißverschluss, ist aus Kunststoff, zweifarbig gestreift oder mehrfarbig geblümt, und beinhaltet das Nötigste zur persönlichen Säuberung. Im Kulturbeutel des Vertrauens säubert das Wort „Judenverfolgung“ die Radiosprache von dem, was Auschwitz ist. Aber was ist Auschwitz? Vertraue ich dem deutschen Rechtschreibprogramm im Computer, wird mir „Auschwitz“ durch „ausschwitzen“ korrigiert.
Grundausstattung im deutschen Kulturbeutel des Vertrauens ist die Formulierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Dieser Begriff verdient alle Aufmerksamkeit. Man hört und liest diese Worte in deutschen Medien, wenn es um aktuelle Verbrechen geht, die in der heutigen Welt an Volksgruppen begangen werden. Der Wortlaut „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ stammt nicht aus der christlichen Lehre. Crime Against Humanity ist ein juristischer Begriff aus dem Englischen, und ging in den deutschen Sprachschatz über, als im November 1945 in Nürnberg einzelnen Führern des Nazi-Regimes der Prozess gemacht wurde. Zugrunde lag dem Gerichtsverfahren das sogenannte Londoner Statut. Crime Against Humanity ist ein Begriff des Internationalen Rechts. Das Wort „humanity“ bedeutet laut Oxford Dictionary: 1. „the humane race; mankind“ – also die Menschheit, 2. „humane nature“ – menschliche Wesensart, 3. „quality of being humane“ – Menschlichkeit.
In Deutschland wird „Crime Against Humanity“ mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt, und Hannah Arendt nennt diese Wortwahl zu Recht „die maßloseste Untertreibung des Jahrhunderts“. Nämlich, „als hätten es die Nazis, lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten.“
Dagegen sind Verbrechen gegen die Menschheit – so Hannah Arendt – Verbrechen „an der Menschheit im eigentlich Sinne, nämlich am Status des Menschseins oder an dem Wesen des Menschengeschlechts“.
Islamisten haben im April dieses Jahres zweihundertdreißig überwiegend christliche Mädchen aus Schulen in Nigeria entführt, um sie als Sklavinnen zu verkaufen. Es war eine Gewaltdemonstration, wie die Welt sie – man muss es leider sagen – inzwischen von islamistischer Seite kennt. Mädchen und Frauen sollen ungebildet bleiben. Das war die Botschaft.
In der offiziellen Sprache Deutschlands ist diese brutale Massenentführung mit noch unübersehbaren Folgen für jedes einzelne Mädchen, ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und nicht etwa „gegen die Menschheit“. Als gehörten Frauen wie Juden nicht dazu.
Gegen die Menschlichkeit, gegen Gesetze von Anstand, von Nächstenliebe zu verstoßen, ist nicht dasselbe, wie sich an der Menschheit zu vergehen. Die von Deutschland gewählte Formulierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ benennt nicht das tatsächliche Verbrechen. Sie ist vielmehr ein Appell an etwas, worauf es keinen Rechtsanspruch gibt: Vertrauen in Menschlichkeit.
Das menschliche Miteinander, sei „schlechterdings nicht möglich“, sagt Hannah Arendt, „ohne ein schwer zu fassendes, aber grundsätzliches Vertrauen in das Menschliche aller Menschen“. Doch dieses Weltvertrauen, wie Jean Amery es nennt, kann zerstört werden, und zwar durch den anderen. Wie das geschah und geschieht, was von wem getan und was von wem erlitten wurde, in offiziellen Reden heißt das „unsagbares Leid“, davon kann durchaus berichtet werden.
Jean Améry überlebte deutsche Vernichtungslager. Über seinen seelischen Zustand schrieb er vierzig Jahre danach: „Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft: denn sie und nur sie hat mir die existentielle Gleichgewichtsstörung verursacht, gegen die ich aufrechten Gang durchzusetzen versuche. Sie und nur sie hat mir das Weltvertrauen genommen.“ Die Gesellschaft, von der hier die Rede ist, hat sich nicht an der Menschlichkeit vergangen, sondern millionenfach an Menschen. Die Entscheidung, von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu sprechen, und ausdrücklich nicht von „Verbrechen gegen die Menschheit“, den Tatbestand anders zu nennen, als es die internationale Gerichtsbarkeit und Öffentlichkeit tut, gerade hierbei einen deutschen Sonderweg zu gehen, könnte auf den Teil der Geschichte verweisen, der unerzählt bleibt. Nämlich das starke Bedürfnis, sich dem allgemeinen Rechtssystem zu verweigern, und was geschehen ist, über Gesetz und Strafe stellen zu wollen. Die immer wieder betonte Einmaligkeit der Schoa obendrein soll helfen, das zu begründen.
Seit über einem Jahr verhandelt das Oberlandesgericht München gegen eine terroristische Vereinigung namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Morde und Mordanschläge aus rassistischen Motiven, erklärtermaßen begangen in der Kontinuität des Hitlerschen Nationalsozialismus, den die BRD bewältigt glaubte, von dem die DDR meinte, ihn bei sich ausgerottet zu haben. Wer möchte dem Zufall vertrauen, wenn just dann Ermittlungsunterlagen über rechtsradikale Gruppen vernichtet werden, da ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss und die deutsche Gerichtsbarkeit sich mit den Mordtaten des Nationalsozialistischen Untergrunds befassen?
Ich unterstelle einem deutschen Beamten nicht den Vorsatz, bedeutendes Material zu deutschen Rechtsradikalen absichtlich vernichtet zu haben. Denkbar aber ist die innere Neigung, trotz aktuellen Interesses termingenau Akten schreddern zu lassen. Ich unterstelle die innere Neigung, den angesammelten rechtsradikalen Dreck lieber zu entsorgen, statt wenigstens anzufragen, ob man Interesse habe. Ich unterstelle die Neigung, damit nichts zu tun haben zu wollen, weil man etwas damit zu tun hat.
In der Schulklasse werden große, weiße Bögen verteilt und dicke Filzstifte. Es wird in fünf Gruppen gearbeitet. Ich gehe zwischen den Tischen hindurch. In jeder Gruppe wird in großen Buchstaben das Wort Judentum in die Mitte des Papiers geschrieben und umkringelt. Dann fallen die Treffer: KZ, Nazis, Hitler. Das kommt zuerst und hat alles mit Deutschtum zu tun. Die Expertin sieht das offenbar nicht so. Sie nickt zustimmend, und mir wird klar, diesen Teil ihrer Vergangenheit haben die Deutschen bei uns Juden deponiert.
„Die Juden wurden schon immer gehasst, nicht bloß in der Nazizeit.“ Ein Schüler mit dunklen Locken beharrt darauf, diesen Satz hinzuschreiben. Den Filzstift hält der Blonde mit dem Kurzhaarschnitt fest in der Faust. „Nicht mehr nach 1945“, behauptet er, und dann solle auch Gaza dort stehen, und dass die Juden in Israel den Palästinensern ihr Land weggenommen haben. Aber auch das schreibt der Blonde nicht hin. Etwas hindert ihn. Ihn hindert die fixe Idee, nach alledem dürfe ein Deutscher die Politik Israels nicht mal kritisieren. Diesen Gedanken vertritt eine Mehrheit in Deutschland, und gemeint ist: Danach dürfe ein Deutscher den Juden nichts mehr tun, was nicht etwa ein Schuldeingeständnis ist, sondern eine Beschwerde.
Ich ermutige den Schüler, beides aufzuschreiben, und er tut es. Die Juden wurden immer gehasst. Gaza und Besatzungsmacht Israel. Die Lehrerin schaut zu. Ihr sind jetzt die Israelis, wie sie da auf dem großen Blatt Papier neben Gaza stehen, unangenehm vor mir. „Kauft nicht bei Israel.“ Das würde ich jetzt gern dazuschreiben.
„Jude, das ist eine Religion“, sagt die Lehrerin leise zu der Juden-Expertin. Hört sich in meinen Ohren an wie weniger schlimm. Das müsse man den Schülern auch einmal sagen, drängt sie.
„Tun Sie mir das nicht an“, mische ich mich ein. „Juden sind Juden, so wie Deutsche eben Deutsche sind. Ich bin Jüdin, aber ich bin überhaupt nicht religiös.“ Die Lehrerin errötet und greift nach meinen jüdischen Wurzeln. „Lassen Sie die Wurzeln“, sage ich zu ihr. „Ich bin keine jüdische Wurzel, ich bin Jüdin und Deutsche.“ Die Expertin für Judentum ist unzufrieden mit mir. Ich habe den Hintergrund verlassen. Sie verwaltet die deutschen Juden. Ich störe dabei.
Heutzutage sind Juden nach deutschem Verständnis nicht aus Deutschland, sondern aus Israel, Amerika, Osteuropa und Russland. Oder sie sind Zeitzeugen. Dann können sie Deutsche gewesen sein. Aber die Zeitzeugen, klagen die Juden-Experten, sterben aus. Bald könne man nur noch Filme zeigen und Tonbänder abspielen.
Und was ist mit mir? Ich bin mit Zeitzeugen aufgewachsen. Zeitzeugen haben mich in die Welt gesetzt, mir das Laufen beigebracht, mich bewacht, mich aus dem Schlaf gerissen und mir eingeschärft, darüber zu schweigen, dass ich Jüdin bin.
„Ja, aber“, sagt man mir, „die Schüler wollen richtig Schlimmes hören, und da haben Sie, Frau Roggenkamp, ja nicht wirklich etwas zu erzählen.“ Stimmt. Ich bin danach geboren. Aber das Leben geht doch weiter.
Die am hellerllichten Tag Ermordeten, ermordet von zwei Ostdeutschen in westdeutschen Großstädten, sie waren aus der Türkei, einer aus Griechenland, sie waren Händler und Handwerker, fleißige Leute, selbständig, tüchtig, mit ihren Familien gut integriert in die deutsche Gesellschaft. Man las von den Mordtaten und wunderte sich nicht. Wen erfasste Unbehagen? Wen Misstrauen? Man vertraute den ermittelnden Behörden. Man wollte ihnen vertrauen. In solchem Vertrauensvorschuss nisten verborgene Gefühle, heimlicher Groll und vorgefasste Gleichgültigkeit. Sie fanden ihren Ausdruck in der Presse, in der überschrifttauglichen Wortfindung: „Döner-Morde“.
Gegen wen Groll? Man hat es zu tun mit unbedeutenden jungen Leuten, muslimischer Jugend in der deutschen Diaspora, die sich Bedeutung zu geben versuchen, indem sie ihre deutsche Umwelt nach Laune terrorisieren. Wer sich ihnen entgegenstellt, den beschimpfen sie als „Nazi!“. Sie wissen, das ist das Wort, vor dem weichen Deutsche zurück. Grob effektvoll greifen sie danach. Für sie selbst, seien ihre Familien aus der Türkei, aus Syrien, dem Libanon, Palästina oder Irak, Iran, ist der „Nazi!“ ein Faszinosum. Sie teilen dessen Hass auf die Juden und auf Israel.
In dem so gebrandmarkten Deutschen rührt das schwer beleidigende Unwort in diesem Augenblick, durch diesen Übergriff ins eigene Seelische, an die Last des historischen Erbes, an lähmende Wut. Als Jüdin möchte ich den Deutschen zur Hilfe eilen gegenüber diesen Profiteuren der Schoa, ich möchte ihnen zurufen, lasst euch das nicht bieten! Solche Muslime dealen mit eurem historischen Schuld-Erbe.
Im Radio höre ich eine Frau, die sich Gedanken macht. Sie frage sich, ob muslimische Kinder, wenn sie in Deutschland zufällig in eine Kirche gerieten, durch den Anblick von Jesus am Kreuz, fast nackt, halb tot und gekrümmt vor Schmerzen, traumatisiert werden könnten. Warum fragt diese Frau sich nicht dasselbe mit Blick auf jüdische Kinder? Zugegeben, es leben viel mehr Muslime in Deutschland als Juden, viel mehr Muslime als jemals Juden in Deutschland gelebt haben. Sollte ich damit zufrieden sein, dass dieser Gedanke überhaupt mal aufkommt? Ich bin es nicht. Ich misstraue dieser Einfühlung. Wenn muslimische Kinder durch den Anblick eines am Kreuz hängenden, halb nackten Mannes traumatisiert werden könnten, warum dann nicht alle Kinder? Auch christliche Kinder.
Einer Schülerin ist zum Judentum noch etwas eingefallen. Das Wort Jeans lese ich. Guter Einfall! Levi’s. Die jüdischste Jeans, die sich denken lässt. Fast alle in der Klasse tragen Jeans.
Da stehe nicht Jeans, korrigiert mich die Juden-Expertin, da stehe Jesus.
Ich muss zur Augenärztin, und morgen ist Sederabend, der festliche Auftakt zu Pessach, das Pessachmahl vor dem nächtlichen Auszug aus Ägypten.
„Noch einen schönen Tag“, ruft mir die Juden-Expertin nach, als ich gehe.
Mich umzudrehen in dem einen noch schönen Tag, den sie mir wünscht, um ihr zu sagen, sie könne mir mal chag sameach l’Pessach wünschen, so viel müsste sie doch wissen als Juden-Expertin, das fällt mir nicht ein. Erst draußen vor der Tür.
Dort, wo niemand von mir verlangt, Vertrauen zu haben.
©Viola Roggenkamp für das ilb 2014; www.literaturfestival.com/programm/kulturen-des-vertrauens/
Werke (Auswahl)
Familienleben, Arche Zürich/Hamburg, 2004
Erika Mann - Eine jüdische Tochter, Über Erlesenes und Verleugnetes in der Frauengenealogie der Familie Mann-Pringsheim, Arche Zürich/Hamburg, 2005
Die Frau im Turm ,S. Fischer Frankfurt a. M., 2009
Tochter und Vater, S. Fischer Frankfurt a. M., 2011
Alles Wissenswerte zu Leben und Werk auf: www.viola-roggenkamp.de
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