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Whistleblowing und ziviler Ungehorsam

von Dieter Deiseroth



Es gibt keinen allgemein anerkannten oder gar rechtlich definierten Begriff des zivilen Ungehorsams. Er steht in der Tradition insbesondere von Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King jr. Der US-amerikanische Moralphilosoph John Rawls hat ihn in seiner Studie The Justification of Civil Disobedience (1969) und in seinem Standardwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) wie folgt umschrieben: Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, der sich in einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber gesetzwidrigen Handlung äußert, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll. Ziviler Ungehorsam zeigt sich entweder in einer durch das Gewissen des Akteurs gebotenen Verletzung genau der Gesetze oder Regeln, die als ungerecht bewertet werden (unmittelbarer ziviler Ungehorsam), oder als Verletzung an sich als gerecht empfundener Gesetze, um auf die Ungerechtigkeit anderer Gesetze oder Regeln hinzuweisen (mittelbarer ziviler Ungehorsam). Der Akteur beruft sich zur Rechtfertigung seiner Gesetzesverletzung auf ein »höheres« Recht – sei es göttliches, Natur- oder Vernunftrecht – als das in seinem Staat geltende positivierte Recht. Für einen in den Augen von John Rawls und anderen ethisch gerechtfertigten zivilen Ungehorsam müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Der Protest muss sich erstens gegen wohlumschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten; zweitens müssen die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflussnahme erschöpft sein; und drittens dürfen die Aktivitäten des Ungehorsams kein Ausmaß annehmen, das das Funktionieren der staatlichen Verfassungsordnung gefährdet. Jürgen Habermas und viele andere haben dem zugestimmt und betont, dass ziviler Ungehorsam nur ein öffentlicher Akt von ausschließlich symbolischem Charakter sein kann und allein auf gewaltfreie Mittel des Protestes setzen darf; er wird normalerweise vorher angekündigt; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen in Frage zu stellen; außerdem verlange er die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Rechtsnormverletzung einzustehen.


Whistleblower verfolgen in aller Regel ethisch-moralische Anliegen im öffentlichen Interesse. Sie beabsichtigen aber gerade keine eigenen gesetzwidrigen Handlungen. Vielmehr wenden sie sich als Insider in gutem Glauben gegen erkannte gravierende Missstände und Fehlentwicklungen in ihrem Umfeld, um deren Sichtbarmachung und Beseitigung sie sich bemühen. Ihnen geht es um das Enthüllen (revealing wrongdoing) und Bekanntmachen (going outside). Man unterscheidet internes – innerhalb des Betriebes oder der Dienststelle – und externes Whistleblowing. Letzteres erfolgt etwa durch Anzeigen bei staatlichen Behörden; es kann aber auch um die Weitergabe von Informationen an Gewerkschaften, Abgeordnete, Journalisten oder die Öffentlichkeit gehen. Whistleblower wollen so erreichen, schwere Rechtsbrüche, Gefahren oder erhebliche Risiken aufzudecken, die sich nachteilig oder gar schädlich auf Leben und Gesundheit sowie andere wichtige Grundrechte auswirken können. Es kann aber auch um Gefahren und Risiken für demokratische Rechte und Strukturen, für die geschützte Privatsphäre, für gerechte sozio-ökonomische Lebensbedingungen, für die nachhaltige Sicherung und Entwicklung der Ökosysteme oder für das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker gehen. Maßstab ihrer Kritik an den von ihnen enthüllten Missständen ist für Whistleblower freilich nicht allein das geltende Recht; dieses kann vielmehr nach ihren politischen oder ethisch-moralischen Maßstäben selbst zum Gegenstand der Kritik werden. Gerade das going outside, also die „Flucht in die Öffentlichkeit“, kann in Konflikt mit rechtlichen Verschwiegenheitspflichten geraten, wenn und sofern das Whistleblowing nicht vom Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit oder des Petitionsrechts oder durch spezielle Schutznormen geschützt wird. Entschließt sich ein Whistleblower dennoch zum Alarmblasen, kann sein Handeln in zivilen Ungehorsam übergehen.


Whistelblower-Schutzgesetze gibt es bereits in zahlreichen Staaten, teilweise seit langer Zeit. In den USA sind vor mehr als 50 Jahren sowohl auf Bundesebene als auch von zahlreichen Einzelstaaten erste Schritte unternommen worden, um Whistleblower in staatlichen Behörden, aber auch in Unternehmen besser vor Repressalien zu schützen. Gute Ansätze gibt es seit Ende der 1990er Jahre auch im Vereinigten Königreich. Man muss bei Rechtsvergleichen allerdings vorsichtig sein. Ein bloßer Abgleich von Gesetzestexten reicht nicht aus. Zudem hat es in den USA seit dem 11. September 2001 teilweise erhebliche Rückschläge beim Whistleblower-Schutz gegeben. Schwachstellen weisen zudem vor allem die Bereiche des Militärs und der Geheimdienste auf. Das hat der Fall Snowden eindrucksvoll gezeigt.
Snowden sah keine Möglichkeit und konnte keinen ernsthaften Sinn darin erkennen, die Einhaltung rechtlicher Grenzen für die von ihm festgestellten transnationalen globalen Ausspähaktionen der NSA und anderer Dienste nach Maßgabe des US Intelligence Community Whistleblower-Protection-Act bei den dafür bestimmten US-Stellen einzufordern.
Denn die US-Nachrichtendienste agieren bei ihren nachrichtendienstlichen Angriffen auf Nicht-US-Bürger innerhalb weithin rechtsfreier Räume, was ihnen durch den Patriot-Act und den US-Foreign Intelligence Surveillance Amendment Act (FISA) ermöglicht wird. Rechtliche Grenzen sehen die US-Nachrichtendienste für sich im Ausland gegenüber Nicht-US-Bürgern nicht. In einer solchen Situation verbleibt für einen Whistleblower praktisch nur die Möglichkeit, sich zum Schutz der Grundrechte der Betroffenen und zur Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger an die Öffentlichkeit zu wenden – gleichsam ein Fall gebotener Nothilfe.
Die Rechtslage bei uns in Deutschland schützt Whistleblower leider nur sehr unzureichend. Das hat nicht zuletzt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg im Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch deutlich gemacht. Sowohl das Landesarbeitsgericht Berlin als auch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mussten sich sagen lassen, dass sie das Grundrecht der Meinungsfreiheit der Whistleblowerin hatten leer laufen lassen und damit die Europäische Menschenrechtskonvention verletzten. […]


Ein wirksamer Whistleblower-Schutz verlangt drei Dinge: Erstens ist eine wirksame Garantie der Meinungsfreiheit für alle Beschäftigten erforderlich. Es reicht nicht aus, wie bisher die grundrechtliche Meinungsfreiheit nur mittelbar über auslegungsfähige Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe im Rahmen einer nachträglichen gerichtlichen Interessenabwägung mit anderen Gesichtspunkten im Kündigungsschutzprozess zu berücksichtigen. Das schafft keine Planungssicherheit für Beschäftigte, sondern schreckt ab. Die Meinungsfreiheit der Beschäftigten darf derjenigen des Arbeitgebers nicht nachstehen.
Zweitens bedarf es einer ausdrücklichen Schutznorm: Wer in gutem Glauben auf gravierende betriebliche oder innerdienstliche Missstände, Rechtsverletzungen oder gar Straftaten gegenüber zuständigen Stellen oder auch in der Öffentlichkeit hinweist, darf deswegen weder diskriminiert noch sonst benachteiligt oder gar gekündigt werden. Für den Fall, dass dies trotzdem geschieht, muss ein effektiver gesetzlicher Anspruch auf Wiedergutmachung und Schadensersatz geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem die Aufnahme solcher Whistleblower in ein Zeugenschutzprogramm, die Zusicherung eines gesicherten Aufenthaltsstatus’ in Drittstaaten, der Schutz vor Auslieferung, die Sicherung des Existenzminimums und Hilfen bei der gesellschaftlichen Integration. Das könnte und sollte etwa in reformierten internationalen Abkommen zur Sicherung der Kommunikationsfreiheiten, zum Datenschutz und ähnlichen völkerrechtlichen Verträgen sowie in den jeweiligen nationalen Zustimmungs- und Ausführungsgesetzen zu diesen Abkommen garantiert werden. Die Zivilgesellschaften müssen hier für den notwendigen Druck sorgen, um solche Regelungen zu erreichen.
Drittens müssen Beschäftigte wirksam vor Nachteilen geschützt werden, wenn sie sich weigern, an Rechtsbrüchen mitzuwirken oder diese zu vertuschen.
Notwendig ist über Rechtsänderungen hinaus aber auch eine ethikfreundliche Infrastruktur. Dazu gehört es u.a., einen Code of Conduct, also einen Kodex für berufsethisches Verhalten in Unternehmen, Instituten und behördlichen Dienststellen zu erarbeiten und in Kraft zu setzen sowie Ethikschutzbeauftragte oder Ombudspersonen zu berufen, an die sich Whistleblower ohne Furcht vor Repressalien wenden können.
Die grundsätzliche Vertraulichkeit des diplomatischen Verkehrs gehört zum wichtigen Kapital jedes diplomatischen Dienstes. Generell kann auf Geheimhaltungsregelungen gerade im internationalen Verkehr zwischen Staaten, aber auch im innerstaatlichen Regierungshandeln sicher kaum verzichtet werden.


Regierungen dürfen jedoch nicht in der Lage sein, Verfehlungen unter dem Mantel der Geheimhaltung zu vertuschen. Deshalb sind Regelungen erforderlich, die Whistleblower bei der Weitergabe von Informationen über gravierendes Fehlverhalten in Politik,Verwaltung oder Wirtschaft an die Staatsanwaltschaft oder an die Öffentlichkeit wirksam vor Verfolgung und Repressalien schützen. Denn schwere Rechtsbrüche, aber auch unlauteres oder skandalöses Verhalten von Staatsdienern verdienen keinen Schutz vor Abgeordneten, Bürgern und der Öffentlichkeit. Im Bereich der IT-Nutzung und der Telekommunikation geht es dabei, wie die Enthüllungen Edward Snowdens zeigen, insbesondere darum, Verletzungen von Menschenrechten, aber auch gravierende Verstöße gegen die Verfassung und andere Gesetze oder gegen völkerrechtliche Abkommen aufzudecken, um sie abstellen zu können.
Wenn die Entscheidung darüber ausnahmslos allein der Exekutive überlassen bliebe, ob illegale, unlautere oder skandalöse innerdienstliche Vorgänge geheim zu bleiben haben oder öffentlich gemacht werden dürfen, hinge es letztlich von der Exekutive als dem Tatverdächtigen ab, ob sie Beweismaterial (gegen sich) zur Verfügung stellt oder nicht. Die Aufrichtigkeit und Gesetzestreue der Behördenvertreter würden gleichsam vorausgesetzt, obwohl sie doch gerade überprüft werden müssen.
Eine Delegation der Kontrolle der Nachrichtendienste an Justiz und Parlament reicht nicht aus. Das belegt nicht zuletzt das Versagen des US-Kongresses und seiner Ausschüsse im Vorfeld der jetzt diskutierten Ausspähskandale.
Die Kontrolle durch das FISA-Gericht hat sich in den USA ebenfalls als wenig effektiv erwiesen. Der prominente republikanische Unterausschuss-Vorsitzende im Repräsentantenhaus Frank James Sensenbrenner jr. erklärte in einem vor kurzem geführten Interview in der FAZ auf die Frage: „Halten Sie die Geheimdienstausschüsse im Repräsentantenhaus und im Senat für Komplizen der Regierung beim Überdehnen der Gesetze?“ nicht mit einem klaren „Nein“, sondern ebenso unmissverständlich: „Absolut. Die Geheimdienstausschüsse sind ja gegründet worden, nachdem die amerikanischen Geheimdienste in den sechziger und siebziger Jahren während des Vietnamkriegs und den Bürgerkriegen in Mittelamerika zu weit gegangen waren. Die Ausschüsse und die FISA-Gerichte sollten in einem solchen Fall auf die Bremse treten. Stattdessen haben sie noch Gas gegeben.“


Auch in Deutschland gibt es seit der de-facto-Beseitigung der Grundrechte der Post- und Fernmeldefreiheit im Rahmen der sogenannten Notstandsgesetzgebung von 1968 keinen wirksamen gerichtlichen Schutz dieser Menschenrechte mehr. Die stattdessen im G10-Gesetz vorgesehenen Kontrollrechte der beiden parlamentarischen Kontrollgremien stellen keinen hinreichenden Ersatz für einen effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte dar. Denn sowohl das PKG als auch die G10-Kommission werden aufgrund des Auswahlverfahrens von den Vertretern der jeweiligen parlamentarischen Regierungsmehrheit dominiert. Betroffene haben gegenüber diesen Gremien zudem nicht die Verfahrensrechte, die ihnen vor unabhängigen Gerichten nach den einschlägigen Prozessordnungen sonst zustehen würden. Von besonderer Bedeutung ist ferner, dass die Mitglieder der Kontrollgremien unter Strafandrohung gehindert sind, auf der Grundlage der erhaltenen Informationen unter „Nennung von Ross und Reiter“ die Regierung öffentlich zu kritisieren. Angesichts dieser Situation kann von einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle der Dienste in Deutschland nicht die Rede sein. Hier besteht erheblicher rechtspolitischer Handlungsbedarf, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann.
Gleiches gilt für die notwendige Beschränkung der Handlungsfelder der NSA und anderer ausländischer Nachrichtendienste in Deutschland. Diese Situation verdeutlicht die Bedeutung, die Enthüllungen insbesondere über illegale Aktionen der Nachrichtendienste durch Whistleblower beizumessen ist.


Schutzwürdig kann und darf in einem demokratischen Verfassungsstaat ein Dienst- oder Staatsgeheimnis nur sein, wenn es mit der Verfassung und dem geltenden Recht in Einklang steht. Denn in einer Demokratie gibt es, wie Adolf Arndt zu Recht immer wieder betont hat, an Staat nicht mehr, als seine Verfassung zum Entstehen bringt. Deshalb ist es weder zulässig, zwischen dem Schutz des Staates und dem Schutz der Verfassung zu unterscheiden, weil dieser Staat nur in seiner Verfassung schützbar ist, noch kann es ein rechtliches Erfordernis geben, etwas gegen das Recht zu sichern (z.B. durch Geheimhaltung), was nach der verfassungsmäßigen Ordnung Unrecht ist. Der demokratische Souverän, also die Bürgerinnen und Bürger, müssen in einer Demokratie, die diesen Namen verdient, davon erfahren, wenn die gewählte Regierung und ihre Amtsträger, die ihnen obliegende zentrale Verfassungspflicht verletzen: ohne jede Ausnahme das geltende Recht zu beachten. Wie sollten die Bürgerinnen und Bürger sonst ihre demokratischen Rechte zur Mitwirkung am demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess informiert und sachkundig wahrnehmen können? Wie sollten sie ihr fundamentales demokratisches Recht, ihr Wahlrecht, verantwortlich ausüben und eine Regierungsmehrheit abwählen können, wenn ihnen solche Informationen – strafrechtlich geschützt – vorenthalten werden? Nochmals Adolf Arndt: „Der Wille des Volkes, auch in Verteidigungsfragen, (kann) sich in richtiger Weise nur bilden, wenn das Volk über Tatsachen unterrichtet wird, die für die Bildung seines Willens von Bedeutung sind.“


Das war und ist auch eine wichtige Lektion aus dem sogenannten Fall Ossietzky. Carl von Ossietzky, der Chefredakteur der Weltbühne, und zahlreiche andere Personen wurden in der Weimarer Republik vom Reichsgericht wegen der Enthüllung von Informationen über die illegale Schwarze Reichswehr zu Freiheitsstrafen verurteilt. Es ging um den heimlichen Aufbau einer Panzertruppe und einer Luftwaffe sowie über die geheime militärische Zusammenarbeit zwischen der deutschen Armee und den sowjetischen Behörden. All dies verstieß eklatant gegen den Versailler Vertrag und die Weimarer Verfassung. Nach Auffassung des Reichsgerichts konnten sich Ossietzky und die anderen Verurteilten dennoch bei ihren Enthüllungen weder auf ihr Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit noch auf ein anderes Recht berufen. Denn der einzelne Staatsbürger eines Gemeinwesens sei nicht berechtigt, gesetzwidrige Zustände, von denen er wisse, dass diese im Interesse des Wohles seines Heimatlandes geheimzuhalten seien, öffentlich zu machen. Auf die Einhaltung des geltenden Rechts hinzuwirken, könne nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen, niemals aber „durch Anzeige bei ausländischen Regierungen“. Aus dem Naturrecht ergebe sich gerade die Treuepflicht zur Nicht-Information der Öffentlichkeit, welche jeder Staatsbürger seinem Vaterlande und Volke schulde.
Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts sorgte im In- und Ausland für große Empörung, was u.a. maßgeblich dazu beitrug, dass Carl von Ossietzky 1935 der Friedensnobelpreis verliehen wurde.
Auswirkungen hatten diese Debatten nach dem Ende des NS-Regimes bis in die Bundesrepublik. Immer wieder verlangte insbesondere die SPD nach einer „Lex Ossietzky“, um strafrechtliche Verurteilungen bei der Veröffentlichung von illegalen Staatsgeheimnissen auszuschließen. 1950/51 gelang es [...], eine Regelung in § 100 Abs. 3 StGB zu verankern, die klarstellte, dass jedenfalls Bundestagsabgeordnete nunmehr berechtigt waren, im Parlament und in seinen Ausschüssen Rechtsbrüche auch dann öffentlich zu machen, wenn es sich nach Auffassung der Exekutive um »Staatsgeheimnisse« handelte. Das war eine wichtige Errungenschaft, die leider wieder verloren gegangen ist. Sie wurde im Rahmen der Notstandsgesetzgebung 1968 auf Drängen vor allem der US-Regierung wieder abgeschafft. Der Deutsche Bundestag sollte diesen Fehler baldmöglichst korrigieren und die Regelung wieder einführen. Das genügt freilich nicht.


Notwendig ist zudem ein wirksames Whistleblower-Schutzgesetz. Dieses kann für den Bereich der Nachrichtendienste auf einer wichtigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1965 aufbauen, die vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist. Es ging dabei um den Fall des Whistleblowers Werner Pätsch, der im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der Spionageabwehr angestellt war. Er hatte sich nach Beratung durch einen Rechtsanwalt 1963 entschlossen, schwere Missstände im BfV öffentlich zu enthüllen: zum einen die aktive Mitwirkung des BfV an der in der Bundesrepublik von den Westalliierten in großem Umfang praktizierten Post- und Fernmeldeüberwachung, wobei er einzelne gegen deutsche und gegen nicht-deutsche Bürger gerichtete Fälle eingehend schilderte. Zum anderen berichtete Pätsch davon, dass eine größere Anzahl ehemaliger Angehöriger der Gestapo, der SS und des SD innerhalb des Bundesamtes, insbesondere in seiner Arbeitseinheit, beschäftigt sei. Diese schwer Belasteten bildeten Cliquen, vergifteten das Arbeitsklima und seien aktiv an den illegalen Post- und Fernmeldeüberwachungen und damit an gravierenden Grundrechtsverletzungen beteiligt.
Anders als die Rechtsprechung des Reichsgerichts gelangte der BGH in seinem Urteil zu dem Ergebnis, grundsätzlich müsse „jedermann das Recht haben, Missstände im öffentlichen Leben auch dann zu rügen, wenn dabei geheim gehaltene Dinge zur Sprache kommen“.Andererseits ließen es „die tatsächlichen Lebensnotwendigkeiten eines Staates – gesehen in seinem Verhältnis zu anderen Staaten – als nicht angängig erscheinen, dass jeder einzelne auf Grund dieses seines verfassungsmäßigen Rügerechts in der Lage sein sollte, jegliches Staatsgeheimnis wegen Verstoßes gegen Verfassung oder Gesetz ohne weiteres öffentlich zu rügen.“ Deshalb könne die „Entscheidung des Widerstreits der Belange des Staates und des Grundrechts des Staatsbürgers ... nur in einem nach Güter- und Pflichtenabwägung vorgenommenen Ausgleich liegen“. Die Abwägung der widerstreitenden Interessen gebiete, dass grundsätzlich mit dem nächstliegenden und unschädlichsten Mittel begonnen werde, nämlich der nach Art. 17 GG jedem offenstehende Rügeweg zur Behörde, hier also dem BfV, oder seiner Aufsichtsstelle, dem Bundesministerium des Innern. Außerdem komme die Einschaltung eines Bundestagsabgeordneten oder die Anrufung der Volksvertretung in Betracht. Erst wenn er dies erfolglos getan habe, dürfe er die Öffentlichkeit anrufen und damit zwangsläufig auch einer „fremden Regierung“ das Staatsgeheimnis zur Kenntnis bringen. Diese Einschränkung des Rechts, mit der Rüge von öffentlichen Missständen sofort an die Öffentlichkeit heranzutreten, könne jedoch nicht ausnahmslos gelten. Es gebe „einen Kernbereich des Verfassungsrechts, bei dessen Verletzung jeder das Recht haben muss, sofort und ohne jeden Umweg die Öffentlichkeit anzurufen, auch wenn dies zwingend zur Preisgabe von Staats- oder Amtsgeheimnissen führt.“ Dieser Bereich decke sich im Wesentlichen mit dem Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“. Jedenfalls berechtige „ein Verstoß gegen die Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaates, wie sie durch den Rechtsbegriff der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ umrissen sind, zur unmittelbaren öffentlichen Rüge.“ Freilich müsse dieser Verstoß von einer gewissen Schwere sein. Ob ein „schwerer“ Verstoß vorliege, könne nur von Fall zu Fall entschieden werden. Auch wenn der BGH einen solchen schweren Verstoß in dem von ihm entschiedenen Fall verneint hat, enthält das Urteil doch wichtige Hinweise für Schutzregelungen, die in einem Whistleblower-Schutzgesetz auch für den Bereich der Nachrichtendienste aus Gründen der Rechtssicherheit ausdrücklich normiert werden sollten. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn der neu gewählte Deutsche Bundestag sich dieser Aufgabe mit allem gebotenen Ernst und Elan annehmen würde.


© Dieter Deiseroth; aus: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 1/2014: http://www.frankfurter-hefte.de/


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